OGH 7Ob52/13t

OGH7Ob52/13t23.5.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI W***** K*****, vertreten durch Mag. Stephan Novotny, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei A***** AG, *****, vertreten durch Prof. Dr. Strigl, Dr. Horak, Mag. Stolz, Rechtsanwälte-Partnerschaft in Wien, wegen 5.570,16 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 15. Oktober 2012, GZ 1 R 29/12d‑20, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 14. November 2011, GZ 6 C 1416/10v‑16, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 559,15 EUR (darin enthalten 93,19 EUR an USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Dem Krankenversicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung, Musterbedingungen MB/KK 2009 (in der Folge AVB) zu Grunde. Sie lauten auszugsweise:

§ 1 Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes

Teil I

...

(2) Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person durch Krankheit oder Unfallfolgen. ...

(3) ... Das Versicherungsverhältnis unterliegt deutschem Recht.

...

§ 4 Umfang der Leistungspflicht

Teil I

...

(4) Bei medizinisch notwendiger stationärer Heilbehandlung hat die versicherte Person freie Wahl unter den öffentlichen und privaten Krankenhäusern, die unter ständiger ärztlicher Leitung stehen, über ausreichende diagnostische therapeutische Möglichkeiten verfügen und Krankengeschichten führen.

...

Die mitversicherte Gattin des Klägers hatte im rechten Unterkiefer einen verlagerten, nicht durchgebrochenen Weisheitszahn. Zur schonenden und auf den Nervverlauf Rücksicht nehmenden operativen Entfernung des Zahns wurde ihr vom behandelnden Arzt eine Operation unter Vollnarkose empfohlen. Es galt, den Nerv bei der Operation nicht zu zerren, zu quetschen oder direkt zu verletzen. Dies erforderte ein vorsichtiges Vorgehen und einen erhöhten Zeitaufwand. Eine Schädigung des Nervs hätte die Gefühllosigkeit im Mundwinkel an der Unterlippe rechts bewirken können. Die Mitversicherte wurde von 16:00 Uhr bis 18:00 Uhr operiert. Es handelte sich um eine aufwendige Operation. Die Operation hätte auch ambulant bei zwei Terminen erfolgen können. Die von der Gattin des Klägers gewählte Operation im Krankenhaus war aber insgesamt „medizinisch empfehlenswert, in der Dauer insgesamt kürzer als mehrere ambulante Eingriffe, weniger belastend und für den Patienten angenehmer und prinzipiell sinnvoller“. Das Erstgericht hielt in der Beweiswürdigung noch fest, dass nach den (nicht protokollierten) Ausführungen des Sachverständigen eine ambulante Behandlung, wie von der Beklagten gefordert, an „mittelalterliche Folter“ grenze, „die jedem Patienten unzumutbar“ sei.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Der angestrebte Behandlungserfolg hätte auch ambulant herbeigeführt werden können.

Das Berufungsgericht änderte das erstinstanzliche Urteil ab und gab dem Klagebegehren statt. Das hier maßgebliche deutsche Recht stelle bei mehreren zur Verfügung stehenden Maßnahmen nicht auf wirtschaftliche, sondern allein auf medizinische Notwendigkeiten ab. Die ambulante Behandlung unter bloßer Lokalanästhesie sei nahezu unzumutbar.

Das Berufungsgericht erklärte in Abänderung seines Ausspruchs die ordentliche Revision für zulässig. Die Frage, ob die von der Gattin des Klägers gewählte stationäre Behandlung mit Allgemeinanästhesie als „medizinisch notwendig“ im Sinne der vereinbarten AVB anzusehen sei oder ob dabei auch auf die Zumutbarkeit einer alternativen und wesentlich unangenehmeren ambulanten Behandlung abzustellen sei, stelle eine erhebliche Rechtsfrage dar.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden ‑ Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Der Beschluss kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

Der Versicherungsvertrag untersteht auf Grund der Rechtswahl der Parteien deutschem Recht. Entspricht die Auslegung der anzuwendenden ausländischen Sachnorm durch das Berufungsgericht der ständigen Rechtsprechung des ausländischen Höchstgerichts und der ausländischen Lehre, so ist das Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Beurteilung der Rechtserheblichkeit im Sinne des § 502 ZPO ohne Bedeutung (RIS‑Justiz RS0042948). Es würde allerdings der Rechtssicherheit widersprechen, wenn bei der Entscheidung des Rechtsstreits durch die inländischen Gerichte eine im ursprünglichen Geltungsbereich des maßgeblichen fremden Rechts in Rechtsprechung und Lehre gefestigte Ansicht hintangesetzt würde. Nur in dieser Hinsicht ist das Vorliegen einer nach § 502 ZPO qualifizierten Rechtsfrage denkbar (RIS‑Justiz RS0042940). Der Oberste Gerichtshof hat im fremden Sachrecht keine Leitfunktion. Da sich hier die Entscheidung des Berufungsgerichts im Rahmen der deutschen Rechtssprechung und Lehre hält, liegt keine erhebliche Rechtsfrage vor.

In § 192 VVG, an dem sich die AVB orientieren, sind sowohl für die Krankheitskostenversicherung als auch für die Krankenhaustagegeldversicherung die Deckungspflicht an die „medizinische Notwendigkeit“ der Heilbehandlung oder des stationären Aufenthalts gebunden. Nach ständiger deutscher Rechtsprechung ist eine Behandlungsmaßnahme medizinisch notwendig, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Behandlung vertretbar war, sie als medizinisch notwendig anzusehen ( Kalis in Münchener Kommentar, § 192 VVG, Rn 18; Voit in Prölss/Martin 28 , § 192 VVG, Rz 61 je mwN). Die medizinische Notwendigkeit ist also nach objektiven Kriterien zu bestimmen ( Voit aaO; Kalis aaO). Medizinisch notwendig ist eine konkret durchgeführte Maßnahme oder Leistung dann, wenn sie erforderlich war, um eine Krankheit zu erkennen oder zu behandeln. Es genügt nicht, wenn die Maßnahme lediglich sinnvoll oder nützlich ist oder wenn sie für den Patienten nur bequemer oder praktikabler als andere gleichermaßen geeignete Behandlungsformen ist ( Boetius , PKV, § 192 VVG Rn 131). Es besteht nicht der Grundsatz, dass grundsätzlich nur die kostengünstigere Behandlung notwendig ist, denn die gesetzliche Regelung stellt auf die medizinische, nicht auf die wirtschaftliche Notwendigkeit ab. Führt ein Arzneimittel rascher zur Genesung, während ein anderes, billigeres eine längere Behandlung erfordert, kann das teurere nicht unter Berufung auf seine Kosten versagt werden, sofern nicht die Voraussetzungen der Übermaßbehandlung nach § 192 Abs 2 VVG gegeben sind ( Voit aaO Rn 64). Führt die stationäre Behandlung zu einem rascheren oder komplikationsfreieren Heilerfolg, so kann diese nicht unter Berufung auf Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte abgelehnt werden. Nur wenn feststeht, dass die ambulante Behandlung ebenso geeignet ist, kann der Versicherungsnehmer auf diese verwiesen werden ( Voit aaO Rn 74). Die stationäre Behandlung als notwendig anzusehen ist vertretbar, wenn sie nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Behandlung geeigneter erscheinen sollte als die ambulante, wenn also die spezifischen Einrichtungen des klinischen Krankenhausbetriebs zur Behandlung des bestehenden Leidens besser geeignet sind als die Möglichkeiten des niedergelassenen Arztes oder weil der Versicherungsnehmer aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, die Möglichkeit ambulanter Behandlung zu nutzen ( Brömmelmeyer in Schwintowski/Brömmelmeyer ², § 192 VVG Rn 28).

Nach den Ausführungen des Erstgerichts bestand zwar „Notwendigkeit“, die Operation unter Allgemeinanästhesie stationär im Krankenhaus durchzuführen. Das Erstgericht stellte aber auch fest, dass die von der Gattin des Klägers gewählte Form der Operation insgesamt medizinisch empfehlenswert, für den Patienten weniger belastend und „prinzipiell sinnvoller“ war. Es ist daher im Rahmen der deutschen Judikatur und Lehre die Ansicht vertretbar, dass die beiden Behandlungsmethoden nicht gleichwertig im Sinn der AVB sind, weil zwar der medizinische Erfolg derselbe sein mag, aber die Belastungen der Patientin, um diesen zu erreichen, bei einer ambulanten Behandlung unverhältnismäßig größer gewesen wären. Es ging im vorliegenden Fall nicht um eine bloße Bequemlichkeit. Immerhin wurde die ambulante Behandlung, die nach Ansicht der Beklagten als gleichwertig zu wählen gewesen wäre, vom Sachverständigen als „mittelalterliche Folter, die jedem Patienten unzumutbar ist“, bezeichnet. Auch wenn einem Patienten zuzumuten ist, gewisse Unannehmlichkeiten bei einer ambulanten Behandlung ohne Narkose in Kauf zu nehmen, kann dies nicht so weit gehen, dass er sich einer Tortur unterziehen muss, nur um dem privaten Krankenversicherer Kosten zu ersparen, statt eine Behandlungsmethode zu wählen, die zudem auch aus medizinischer Sicht „prinzipiell sinnvoller“ ist. Die Beurteilung, dass auch die stationäre Behandlung „medizinisch notwendig“ im Sinn der AVB war und die Beklagte Deckung zu gewähren hat, ist insgesamt nicht zu beanstanden.

Der Patient hat üblicherweise keinen Einfluss auf den konkreten Operationstermin. Im vorliegenden Fall hätte nach den Feststellungen zwar ein Operationstermin um 8:00 Uhr selbst bei einer Vollnarkose einen stationären Aufenthalt verhindert, doch müssen Operationen naturgemäß auch nach 8:00 Uhr stattfinden. Dann ist aber ein stationärer Aufenthalt über Nacht medizinisch indiziert und auch als „medizinisch notwendig“ zu beurteilen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO. Der Kläger hat in seiner Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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