OGH 1Ob2/13w

OGH1Ob2/13w31.1.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr.

Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ing. O***** W*****, vertreten durch Anwälte Pochendorfer Mitterbauer OG in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 10.800 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 22. Oktober 2012, GZ 14 R 77/12i‑19, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 30. November 2011, GZ 1 Cg 13/11g‑14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0010OB00002.13W.0131.000

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 766,08 EUR (darin 127,68 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Gegen den Kläger wurde ein Strafverfahren wegen des Verdachts des versuchten Mordes geführt, weil er verdächtig war, einen Mann in Tötungsabsicht in einen Hochwasser führenden Bach geworfen zu haben. Er befand sich in der Zeit von 25. 6. 2009 bis 8. 2. 2010 aus dem Haftgrund der Tatbegehungs‑ und Tatausführungsgefahr in Untersuchungshaft. Vom Geschworenengericht wurde er in der Hauptverhandlung am 8. 2. 2010 (nur) wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB verurteilt. Die verhängte Freiheitsstrafe wurde vom Berufungsgericht auf vier Monate herabgesetzt; sie war aufgrund der Anrechnung der Untersuchungshaft bereits verbüßt.

Der Kläger begehrt nun den Klagebetrag, weil die über vier Monate hinausgehende Haft ungerechtfertigt gewesen sei. Wäre er von Anfang an nur wegen des Vergehens nach § 83 Abs 1 StGB verfolgt worden, wäre er überhaupt nicht in Haft genommen worden.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen einer ungerechtfertigten Haft, weil der Kläger weder freigesprochen noch außer Verfolgung gesetzt worden sei. Der geltend gemachte Ersatzanspruch sei auch im Sinn des § 3 Abs 2 StEG 2005 unangemessen. Der Kläger sei wegen eines lediglich von den Geschworenen anders als von der Anklagebehörde qualifizierten Delikts verurteilt worden. Es habe ein dringender Tatverdacht in Richtung versuchten Mordes bestanden.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Wesentlichen statt und wies nur ein Zinsenmehrbegehren ab. Der Schuldspruch sei wegen einer Tat erfolgt, die nicht Anlass zu einer Verhaftung gegeben hätte. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs komme auch in solchen Fällen eines „Subsumtions‑ oder Qualifikationsfreispruchs“ die Haftentschädigung in Betracht, erweise sich die Haft doch im konkreten Fall als „ungerechtfertigt“. Minderungs‑ oder Ausschlussgründe nach § 3 Abs 2 StEG 2005 lägen nicht vor.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte die ordentliche Revision für zulässig.

§ 2 Abs 1 Z 2 StEG 2005 sei im vorliegenden Fall noch in der Fassung vor der Novellierung durch BGBl I 111/2010, anzuwenden. Der Oberste Gerichtshof habe für die damalige Rechtslage in den Fällen eines materiellen „Subsumtions‑ oder Qualifikationsfreispruchs“ eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes angenommen und den Anspruch auf Haftentschädigung bejaht. Der vom Berufungswerber angestrebten „rückwirkenden Interpretation“ der genannten Norm in der geänderten Fassung stehe entgegen, dass § 14 Abs 3 StEG 2005 in diesem Zusammenhang ausdrücklich anordne, dass § 2 Abs 1 Z 2 StEG in der neuen Fassung dann anzuwenden ist, wenn der Entzug der persönlichen Freiheit nach dem 31. 12. 2010 begonnen hat. Darüber hinaus sei in der Regierungsvorlage festgehalten, dass mit dieser Änderung eine von der Rechtsprechung aufgedeckte Lücke des Gesetzes geschlossen werden solle. Damit gestehe der Gesetzgeber selbst zu, dass vor der Novelle eine Lücke bestanden hat, und ordne ausdrücklich an, dass die Novelle erst für die Zukunft gelten soll. Eine Unangemessenheit des Ersatzanspruchs im Sinn des § 3 Abs 2 StEG 2005 liege nicht vor. Diese Bestimmung beinhalte grundsätzlich drei Kriterien, die zu einer Einschränkung oder dem Ausschluss des Ersatzanspruchs führen können. Es sei auf die Verdachtslage zum Zeitpunkt der Festnahme oder der Anhaltung, die Haftgründe und die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, Bedacht zu nehmen. Da eine Haft ohne Vorliegen eines Tatverdachts nicht im Sinne des § 2 Abs 1 Z 1 StEG 2005 gesetzwidrig, sondern vielmehr ungerechtfertigt wäre, fordere der Gesetzgeber offenbar je nach Beweislage zum Zeitpunkt der Haft bzw Anhaltung eine Gewichtung des Tatverdachts bzw der Haftgründe. Der vorliegende Fall sei jedoch dadurch gekennzeichnet, dass der Sachverhalt, der der Anklage oder Verurteilung zugrunde lag, im Wesentlichen von Anfang an bekannt gewesen sei. Von den Geschworenen sei jedoch die innere Tatseite anders beurteilt worden als von der Anklagebehörde. Da somit zum Zeitpunkt der Verhaftung keine im Wesentlichen anderen Umstände vorgelegen seien als im Zeitpunkt des Wahrspruchs der Geschworenen, könne weder von einem Wegfall der Verdachtslage oder von Haftgründen noch von der Unmöglichkeit der Verwertbarkeit von Beweisen gesprochen werden, was einer Mäßigung entgegenstehe. Letztlich sei auch der Vorwurf unberechtigt, das Erstgericht sei nicht auf den Einwand des Mitverschuldens des Klägers eingegangen. Auch wenn in § 4 Abs 1 StEG nur eine demonstrative Aufzählung von möglichen Mitverschuldensgründen enthalten sei, komme es nicht in Betracht, dem Kläger die im Wesentlichen von Anfang an bekannte Tat als Mitverschulden anzulasten. Es könne ihm nicht zur Last gelegt werden, dass die von ihm begangene Tat von der Strafverfolgungsbehörde zu Unrecht als qualifizierteres Vergehen beurteilt wurde. Auch die Beklagte behaupte keine Handlungen oder Unterlassungen des Klägers, die zusätzlich zur Anlasstat zu dieser Beurteilung beigetragen haben. Auch der demonstrativen Aufzählung lasse sich entnehmen, dass hier auf Verhaltensweisen des Betroffenen abgestellt wird, die im Rahmen des Ermittlungsverfahrens die Klärung des Sachverhalts erschweren. Solche seien dem Kläger aber nicht zur Last zu legen. Die ordentliche Revision sei zulässig, da eine Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof zur Frage geboten erscheine, ob die von der Beklagten behauptete rückwirkende Interpretation der Neufassung des § 2 Abs 1 Z 2 StEG in Betracht komme.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Zur Frage der „Rückwirkung“ der Neuformulierung von § 2 Abs 1 Z 2 StEG 2005 durch das Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl I 111/2010) bzw einer Interpretation der früheren Rechtslage unter Berücksichtigung des nunmehr eindeutig zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens, kann auf die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts verwiesen werden. Der Gesetzgeber hat nicht nur die Frage einer allfälligen Rückwirkung eindeutig beantwortet, indem er mit Art 33 Z 7 dem § 14 StEG 2005 einen Abs 3 angefügt hat, worin unter anderem unmissverständlich angeordnet wird, dass die Neufassung anzuwenden ist „wenn der Entzug der persönlichen Freiheit nach dem 31. Dezember 2010 begonnen hat“. Er hat darüber hinaus auch in den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 69) darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung ‑ mit der Entscheidung des erkennenden Senats zu 1 Ob 169/07w ‑ eine Lücke des Gesetzes aufgedeckt hat [so ausdrücklich diese Entscheidung], die mit der Novelle geschlossen werden solle. Damit geht insbesondere das Argument der Revisionswerberin, es sei nie eine Gesetzeslücke vorgelegen, ins Leere. Im Übrigen kann auf den Inhalt der zitierten Entscheidung verwiesen werden.

Inwiefern der Ersatzanspruch im Sinne des § 3 Abs 2 StEG 2005 unangemessen sein sollte, vermag die Revisionswerberin nicht zu erklären. Ob sich bei einem konkreten Tatgeschehen letztlich ein bestimmter Vorsatz des Täters nachweisen lässt, ist in einer großen Zahl von Fällen ungewiss. Allein daraus kann aber nicht die Unangemessenheit der Gewährung von Haftentschädigung abgeleitet werden, wenn sich im Strafverfahren schließlich nur ein Verletzungsvorsatz ergibt und der bei Verhängung der Haft angenommene Tötungsvorsatz nicht festzustellen ist. Es ist auch nicht von Bedeutung, ob ein „schuldgravierender Handlungsunwert der Tat“ vorlag. Die Revisionswerberin setzt sich auch mit dem Wortlaut des § 3 Abs 2 StEG 2005 und den darin genannten Kriterien für eine Minderung oder einen Ausschluss der Haftung des Bundes nicht nachvollziehbar auseinander. Es genügt daher der Hinweis auf die zutreffende Begründung des Berufungsgerichts, nach der der zu beurteilende Sachverhalt von Anfang an bekannt war. In der Revision wird insbesondere nicht aufgezeigt, wann, aus welchen Gründen und inwieweit sich die Verdachtslage zur Zeit der Verhängung der Untersuchungshaft im Verhältnis zur Beurteilung durch die Geschworenen maßgeblich geändert haben sollte.

Unzutreffend ist schließlich auch die Auffassung der Revisionswerberin, ein Mitverschulden ‑ an der Einleitung des Strafverfahrens bzw der Inhaftierung ‑ im Sinne des § 4 StEG 2005 könne auch in einer strafbaren Handlung liegen, die in der Folge vom Strafgericht milder beurteilt wird als das ursprünglich angeklagte Delikt. Auch hier unterlässt die Beklagte jede konkrete Auseinandersetzung mit § 4 Abs 1 StEG 2005 und den dort (demonstrativ) für ein Mitverschulden nach § 1304 ABGB angeführten Fallgruppen. Ein dem Kläger ‑ zusätzlich zur Tatbegehung ‑ vorwerfbares Verhalten von einem den gesetzlichen Beispielsfällen gleichkommendem Gewicht für die Verhängung der Haft wird in keiner Weise aufgezeigt. Welche Bedeutung der Hinweis darauf haben sollte, dass der Kläger andere Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung, beispielsweise eine Mediation, nicht ergriffen hatte, ist ganz unverständlich. Im Ergebnis läuft die Argumentation der Revisionswerberin darauf hinaus, dass bei jedem „Subsumtions‑ oder Qualifikationsfreispruch“ schon allein in der Begehung der (geringfügigeren) Straftat ein Mitverschulden läge. Tatsächlich kann ein Mitverschuldensvorwurf nach § 4 Abs 1 StEG 2005 in diesen Fällen aber nur begründet sein, wenn der Verdächtige nach Bekanntwerden seiner Handlung ein weiteres (ihm vorwerfbares) Verhalten gesetzt hat, das die Verdachtsmomente entgegen der tatsächlichen Sachlage verstärkt hat, wozu etwa auch das Verschweigen entlastender Umstände gehören würde (§ 4 Abs 1 Z 1 StEG 2005). Ein derartiges oder ein wertungsmäßig gleichgewichtiges Verhalten vermag die Revisionswerberin aber nicht aufzuzeigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 41 Abs 1 ZPO.

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