OGH 8Ob118/12d

OGH8Ob118/12d19.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** A*****, gegen die beklagte Partei G***** A*****, vertreten durch Dr. Stefan Riegler, Rechtsanwalt in Wien, wegen Ehescheidung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 2. Juli 2012, GZ 43 R 295/12v‑24, mit dem über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 20. März 2012, GZ 88 C 20/11h‑20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Beide Parteien sind türkische Staatsbürger; sie haben am 25. 12. 2001 vor dem Standesamt A***** (Türkei) die Ehe geschlossen. Der Kläger brachte im Vorverfahren 88 C 40/07v des Erstgerichts eine erste Scheidungsklage ein, die er am 29. 4. 2008 zurücknahm. Eine zweite von ihm eingebrachte Scheidungsklage wurde zu 88 C 35/09m des Erstgerichts mit Urteil vom 14. 10. 2010 rechtskräftig abgewiesen. Das Gericht stellte Eheverfehlungen des Klägers, nicht jedoch schwerwiegende Eheverfehlungen der Beklagten fest. Die Beklagte hatte im Hinblick darauf gemäß Art 166 des türkischen Zivilgesetzbuchs (Gesetz Nr 4721 vom 22. 11. 2001, tZGB) der Scheidung widersprochen; dieser Widerspruch wurde nicht als missbräuchlich angesehen (vgl Art 166 Abs 2 tZGB).

Mit der am 3. 5. 2011 eingebrachten nunmehrigen Klage begehrt der Kläger die Ehescheidung, weil die Ehe grundlegend zerrüttet iSd Art 166 tZGB sei.

Die Beklagte wandte dagegen vor allem ein, dass die Voraussetzungen des Art 166 tZGB nicht erfüllt seien. Im Übrigen würde die Scheidung für sie unverhältnismäßige Nachteile mit sich bringen. Sie würde den Versicherungsschutz verlieren, habe keinen gesicherten Aufenthaltsstatus in Österreich und es sei ihr untersagt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hilfsweise, für den Fall der Ehescheidung, begehrte die Beklagte den Ausspruch des alleinigen Verschuldens des Klägers.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt und sprach aus, dass das Verschulden an der Scheidung den Kläger treffe. Gemäß § 20 Abs 1 iVm § 18 Abs 1 Z 1 IPRG komme türkisches Eherecht zur Anwendung. Eine Scheidung aus dem Grund der Zerrüttung sei gemäß Art 166 tZGB dann möglich, wenn bereits ein Scheidungsverfahren rechtskräftig beendet worden sei und seit dieser Beendigung drei Jahre vergangen seien. Die Bedingung der rechtskräftigen Beendigung eines Scheidungsverfahrens sei auch erfüllt, wenn eine Scheidungsklage zurückgenommen werde. Da seit der Klagerücknahme im ersten Verfahren am 29. 4. 2008 bis zum Einbringen der nunmehrigen Klage drei Jahre vergangen seien, sei die Scheidung der Ehe gemäß Art 166 Abs 4 tZGB auszusprechen. Das Verschulden des Klägers an der Zerrüttung ergebe sich aus den Feststellungen des zweiten Vorverfahrens. Die übrigen Einwände der Beklagten seien unbeachtlich, weil nach Ablauf der Dreijahresfrist gemäß Art 166 Abs 4 tZGB lediglich der (hier nicht erhobene) Einwand möglich sei, die eheliche Lebensgemeinschaft sei zwischenzeitig wieder aufgenommen worden.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Es billigte die Rechtsausführungen des Erstgerichts. Den Einwand der Beklagten, das Fehlen einer dem § 55 Abs 2 EheG vergleichbaren Härteklausel in Art 166 Abs 4 tZGB verstoße gegen den ordre public, verneinte das Berufungsgericht: Von der Ordre‑public‑Klausel des § 6 IPRG sei nach der Rechtsprechung sparsamster Gebrauch zu machen, weil sie eine systemwidrige Ausnahme darstelle. Eine schlichte Unbilligkeit des Ergebnisses genüge ebenso wenig, wie der bloße Widerspruch zu zwingenden österreichischen Vorschriften, vielmehr müssten Gegenstand der Verletzung Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung sein. Dass die türkische Rechtsordnung die Verschuldensscheidung abweichend von der österreichischen Rechtsordnung regle, bewirke keinen Verstoß gegen den ordre public.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, dass Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob türkisches Ehescheidungsrecht wegen Fehlens einer der Härteklausel iSd § 55 Abs 2 EheG entsprechenden Norm gegen den inländischen ordre public verstoße.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Kläger nicht beantwortete Revision der Beklagten.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

1. Zutreffend und von den Streitteilen auch nicht bekämpft sind die Vorinstanzen von der Anwendbarkeit türkischen Ehescheidungsrechts ausgegangen (§§ 20 Abs 1, 18 Abs 1 IPRG sowie Art 13 Abs 1 des türkischen Gesetzes über das Internationale Privat‑ und Zivilverfahrensrecht Nr 2675 vom 20. 5. 1982; 6 Ob 2249/96w; Rumpf, Einführung in das türkische Recht § 9 Rz 37).

2. Das türkische Recht normiert in den Art 161 bis 165 tZGB besondere Ehescheidungsgründe, während Art 166 tZGB den allgemeinen Scheidungsgrund der Zerrüttung regelt. Art 166 tZGB lautet auszugsweise (unter Hinzufügung von Absatzbezeichnungen):

[1] Ist die eheliche Gemeinschaft so grundlegend zerrüttet, dass den Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden kann, ist jeder der Ehegatten berechtigt, Scheidungsklage zu erheben.

[2] Überwiegt in den im vorstehenden Absatz aufgeführten Fällen das Verschulden des klagenden Teils, so hat der beklagte Teil das Recht, der Klage zu widersprechen. Findet dieser Widerspruch missbräuchlich statt und besteht im Hinblick auf den beklagten Teil und die Kinder an der Aufrechterhaltung der Ehe kein Interesse, kann die Ehe geschieden werden.

[3] Hat die Ehe mindestens ein Jahr angedauert, so gilt die eheliche Gemeinschaft als grundlegend zerrüttet, wenn beide Ehegatten gemeinsam den Antrag stellen, oder wenn ein Ehegatte dem Klageantrag des anderen Ehegatten zustimmt. […]

[4] Wird die wegen eines der Scheidungsgründe erhobene Klage abgewiesen, und sind seit der Rechtskraft dieses Urteils drei Jahre vergangen, so wird, wenn die eheliche Gemeinschaft, gleich aus welchem Grund, nicht wieder hergestellt wurde, angenommen, dass die Ehe grundlegend zerrüttet ist; sie wird auf Antrag eines der Ehegatten geschieden.“

Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die im letzten Absatz dieser Bestimmung genannte Dreijahresfrist auch nach einer (nicht bloß aus formalen Gründen erfolgten) Zurücknahme einer Scheidungsklage in einem früheren Ehescheidungsverfahren zu laufen beginnt (Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe‑ und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht, Länderteil Türkei, 37; Savaş, Türkisches Familienrecht in der anwaltlichen Praxis, 44; Özen, Die Scheidungsgründe im türkischen Zivilgesetzbuch, 197) und hier daher gewahrt ist, wird von der Revisionswerberin ebenfalls nicht in Frage gestellt. Ebenso unstrittig steht fest, dass die eheliche Gemeinschaft der Streitteile nicht wiederhergestellt wurde.

3. Die Beklagte macht im Revisionsverfahren vielmehr ausschließlich geltend, dass das türkische Ehescheidungsrecht gegen den österreichischen ordre public verstoße, weil es keine der Härteklausel des § 55 Abs 2 EheG entsprechende Regelung enthalte. Dieser Einwand ist jedoch nicht berechtigt:

Der ordre public (§ 6 IPRG) dient in erster Linie dem Schutz der inländischen Rechtsordnung (RIS‑Justiz RS0016665). Berufenes fremdes Recht ist im Inland auch dann anzuwenden, wenn es erheblich vom österreichischen Recht abweicht. Von dieser Anwendungspflicht sind gemäß § 6 IPRG nur jene Bestimmungen fremden Rechts ausgenommen, deren Anwendung im Ergebnis zu einer unerträglichen Verletzung tragender Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung führen würde (9 Ob 34/10f; Verschraegen in Rummel 3 § 6 IPRG Rz 1). Davon kann hier keine Rede sein:

Auch die von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Härteklausel des § 55 Abs 2 EheG ist dann nicht (mehr) anwendbar und dem Scheidungsbegehren gemäß § 55 Abs 3 EheG jedenfalls stattzugeben, wenn die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten seit sechs Jahren aufgehoben ist (Koch in KBB3 § 55 EheG Rz 7). Insofern normiert § 55 Abs 3 EheG einen absoluten Scheidungsgrund (5 Ob 237/07z; RIS‑Justiz RS0057039), dem Einwände wie die hier von der Beklagten erhobenen nicht entgegengehalten werden können.

Aber auch die hier in Rede stehenden Regelungen des türkischen Ehescheidungsrechts lassen den beklagten Ehegatten nicht völlig schutzlos: Das türkische Recht ermöglicht im Fall der Geltendmachung des allgemeinen Scheidungsgrundes der Zerrüttung dem beklagten Ehegatten, wenn das Verschulden des klagenden Ehegatten überwiegt, ein ‑ dem Missbräuchlichkeitskorrektiv des Art 166 Abs 2 Satz 2 tZGB unterliegendes ‑ Widerspruchsrecht gegen eine Ehescheidungsklage wegen Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft (Art 166 Abs 2 tZGB). Erst nach rechtskräftiger Abweisung einer Ehescheidungsklage und nach Verstreichen der dreijährigen Frist ist überhaupt ein Ehescheidungsantrag gemäß Art 166 Abs 4 tZGB möglich.

Beide Rechtsordnungen sehen daher ab einer bestimmten Dauer der Zerrüttung der Ehe bzw der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft eine Scheidung wegen Zerrüttung vor, der der beklagten Ehegatte keinen Härteeinwand mehr entgegenhalten kann. Der primäre Unterschied liegt in den Regelungen über die notwendige Dauer der Zerrüttung bzw der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft, was aber im Sinne der oben dargestellten Rechtslage nicht ausreicht, um von einem Verstoß gegen den ordre public ausgehen zu können.

Der Revision der Beklagten war daher der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 40, 50 ZPO.

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