OGH 10ObS143/12w

OGH10ObS143/12w20.11.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Monika Lanz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Andreas Hach (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte GesbR in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 30. Juli 2012, GZ 8 Rs 104/12s‑28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 29. Februar 2012, GZ 8 Cgs 139/11f-23, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird aufgehoben und dem Berufungsgericht eine neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dieser Entscheidung vorbehalten.

Text

Begründung

Im Verfahren 25 Cgs 142/08t des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien begehrte die Klägerin den Zuspruch des Pflegegelds der Stufe 1 ab 1. 5. 2008. Aus dem Protokoll der in diesem Verfahren abgehaltenen mündlichen Streitverhandlung vom 10. 3. 2009 ergibt sich, dass die Klägerin Mobilitätshilfe im weiteren Sinn nur deshalb benötigte, weil sie hochgradiges Übergewicht hatte (100 kg bei 161 cm Körpergröße, also etwa 40 kg Übergewicht). Dieser Zustand wurde im Rahmen der Gutachtenserörterung vom Sachverständigen unter Voraussetzung einer Gewichtsabnahme als besserbar erachtet. Der Sachverständige führte aus, dass eine sinnvolle medizinisch indizierte Gewichtsabnahme eine Dauer von zwei Jahren in Anspruch nehmen würde, bis ein kalkülsrelevanter Zustand eingetreten sei.

Weiters lautet das Protokoll wie folgt:

... „Es werden Vergleichsgespräche geführt. Der Herr KV wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin über eine Notwendigkeit der Mitwirkung in Richtung Gewichtsreduktion zu belehren ist, widrigenfalls eine allenfalls gewährte befristete Pflegegeldleistung nicht weiter gewährt werden kann. Der Herr KV nimmt dies zur Kenntnis ...“.

Anschließend ist der Vergleich ‑ befristete Gewährung des Pflegelds der Stufe 1 von 1. 5. 2008 bis 28. 2. 2011 ‑ protokolliert.

Im Durchführungsbescheid vom 7. 5. 2009 heißt es, dass „mit dem vor Gericht abgeschlossenen Vergleich der Anspruch auf Pflegegeld vom 1. 5. 2008 bis 28. 2. 2011 in der Höhe der Stufe 1 anerkannt wurde“. Weiters enthält der Bescheid die Höhe des monatlichen Pflegegeldes (ab 1. 5. 2008 148,30 EUR; ab 1. 1. 2009 154,20 EUR) sowie den Hinweis, dass der Gesundheitszustand nach medizinischer Erfahrung eine Besserung erwarten lässt, die den Wegfall (die Herabsetzung) des Pflegegeldes wahrscheinlich macht.

In der Folge bezog die Klägerin das von 1. 5. 2008 bis 28. 2. 2011 befristete Pflegegeld der Stufe 1.

Mit Bescheid vom 28. 3. 2011 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung des befristet zuerkannten Pflegegeldes ab.

Gegen den abweislichen Bescheid über die Weitergewährung des Pflegegeldes der Stufe 1 über den 28. 2. 2011 hinaus richtet sich die vorliegende Klage.

Bei der Untersuchung durch den gerichtsärztlichen Sachverständigen wog die Klägerin nunmehr 99 kg.

Die beklagte Partei erhob daraufhin den Einwand der Verletzung der Mitwirkungspflicht mit der Begründung, die Klägerin habe trotz dezidierter Belehrung im Vorverfahren keine Gewichtsreduktion durchgeführt. Bei ordnungsgemäßer Mitwirkung wäre ein geringerer Pflegebedarf gegeben.

Der Klagevertreter entgegnete, eine Verletzung der Mitwirkungspflicht liege nicht vor, weil die Klägerin „alles getan“ habe; sie habe die üblichen Maßnahmen ergriffen, die zur Gewichtsreduktion führen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht ab. Es traf die Feststellungen, dass eine Gewichtsreduktion bereits zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses medizinisch indiziert war, es der Klägerin möglich gewesen wäre, unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe das Gewicht um etwa ein halbes Kilo monatlich zu reduzieren, sodass sie mit Ablauf der Befristung Ende Februar 2011 das Normalgewicht von 64 kg erreicht hätte, und dies den Entfall des Hilfs‑ und Pflegebedarfs bei der gründlichen Körperpflege, dem An‑ und Ausziehen der Stützstümpfe und der Mobilität im weiteren Sinn zur Folge gehabt hätte.

In der Berufung bekämpfte die Klägerin diese Feststellungen und brachte ansonsten im Wesentlichen vor, die auferlegte Mitwirkungspflicht sei zu unbestimmt erfolgt bzw zu ungenau formuliert; es seien ihr keine konkreten Maßnahmen aufgetragen worden, wie eine Gewichtsreduktion um 40 kg bewältigt werden könne. Sie habe ohnehin alles ihr Mögliche getan, zu einer weiteren Gewichtsreduktion sei sie aber infolge ihres Gesundheitszustands nicht in der Lage gewesen. Es würden Feststellungen zur Frage der Schuldhaftigkeit der Verletzung der Mitwirkungspflicht fehlen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und verpflichtete die beklagte Partei zur Gewährung des Pflegegelds der Stufe 1 vom 1. 3. 2011 befristet bis 28. 2. 2013. Es erledigte die Tatsachenrüge nicht, sondern vertrat die Rechtsansicht, die beklagte Partei habe seinerzeit schon deshalb nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit auf die in der befristeten Gewährung enthaltene Bedingung hingewiesen, dass die Klägerin bei sonstigem Anspruchsverlust geeignete Maßnahmen zur medizinisch indizierten Gewichtsreduktion durchführen müsse, weil der Durchführungsbescheid nach Vergleichsabschluss keinen Hinweis auf die Mitwirkungspflicht enthalten habe. Der Versicherte sei nicht genötigt, das Prozessverhalten des Versicherungsträgers zu interpretieren.

In ihrer außerordentlichen Revision macht die beklagte Partei als erhebliche Rechtsfrage geltend, das Berufungsgericht habe sich über die Entscheidung 10 ObS 93/10i, SSV‑NF 24/48, hinweggesetzt, nach der es keinen Unterschied mache, wenn das Verlangen des Versicherungsträgers im Wege über den Vorsitzenden im sozialgerichtlichen Verfahren gegenüber dem Versicherten erhoben werde. Das Berufungsgericht hätte sich nicht mit der formalen Begründung begnügen dürfen, der Bescheid enthalte keine Anordnung oder kein Verlangen des Versicherungsträgers, sondern hätte sich mit der Frage des Verschuldens an der Nichtmitwirkung auseinanderzusetzen gehabt.

In der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung beantragte die Klägerin die Revision zurückzuweisen; in eventu die Revision abzuweisen und das Urteil des Berufungsgerichts voll inhaltlich zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil keine Rechtsprechung zu der Frage besteht, ob auch der Durchführungsbescheid nach einem Vergleichsabschluss eine neuerliche Belehrung über die Mitwirkungspflicht enthalten muss, um von einem „eindeutigen Verlangen“ des Versicherungsträgers ausgehen zu können. Die Revision ist auch im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

1.1. Der allgemeine Grundsatz, dass ein Versicherter die Interessen des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat, wenn er seine Ansprüche nicht verlieren will, indem er eine notwendige und zumutbare Krankenbehandlung durchführt, die zu einer Heilung und zu einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führen würde, ist auch für den Anspruch auf Zuerkennung des Pflegegeldes nutzbar zu machen (10 ObS 27/96, SSV‑NF 10/26).

1.2. Der Versicherte hat es somit nicht in der Hand, durch Verweigerung einer zumutbaren Therapie oder einer Untersuchung seines Gesundheitszustands zur Feststellung des Therapieerfolgs den Weiterbezug einer Pflegegeldleistung zu erreichen.

2. Eine Schadensminderungspflicht des Versicherten in Form der Duldung einer bestimmten Behandlung ist von einem entsprechenden Verlangen des Versicherungsträgers abhängig. Dadurch soll für den Versicherten klargestellt werden, welche konkrete Heilbehandlung vom Versicherungsträger verlangt wird. Das Verlangen des Versicherungsträgers hat im Prozess ausdrücklich zu erfolgen und darf sich nicht mit dem Hinweis begnügen, die Mitwirkungspflicht des Versicherten ergebe sich ohnehin aus dem Gutachten des Sachverständigen. Der Versicherte soll nicht genötigt werden, das Prozessverhalten des Versicherungsträgers zu interpretieren und daraus Schlüsse im Hinblick auf eine mögliche Mitwirkungspflicht zu ziehen. Die Nichtgewährung der Leistungen wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht setzt vielmehr voraus, dass sich für den Versicherten aus den Gesamtumständen des Einzelfalls eindeutig ergeben muss, dass die Missachtung dieses Verlangens des Versicherungsträgers als Sanktion den Leistungsverlust nach sich zieht. Nach der neueren Rechtsprechung (10 ObS 93/10i, SSV‑NF 24/48) macht es aber keinen Unterschied, ob das Verlangen vom Sozialversicherungsträger im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens oder eines gerichtlichen Verfahrens unmittelbar oder über Ersuchen des Versicherungsträgers im Wege über den Vorsitzenden des Senats gegenüber dem Versicherten erhoben wird.

3.1. Die Nichtgewährung der begehrten Pflegegeldleistung würde somit voraussetzen, dass die Klägerin trotz ausdrücklichen Hinweises auf die Folgen ihres (Fehl‑)Verhaltens, nämlich den Verlust des geltend gemachten Anspruchs auf Pflegegeld ab 1. 3. 2011, eine eindeutige Aufforderung des zuständigen Versicherungsträgers, sich unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe einer medizinisch indizierten und zumutbaren Gewichtsreduktion zu unterziehen, nicht befolgt hat. Fehlte hingegen ein solches eindeutiges „Verlangen“, wäre davon auszugehen, dass keine Mitwirkungspflicht der Klägerin entstanden wäre (10 ObS 136/07h, SSV‑NF 22/12).

3.2. Hat sich aufgrund des Sachverständigenbeweises im Verfahren die Möglichkeit zur Verringerung des Pflegebedarfs durch eine Gewichtsreduktion herausgestellt, so war für das Entstehen der Mitwirkungspflicht der Klägerin ein entsprechendes Verlangen des Versicherungsträgers notwendig (10 ObS 188/04a; SSV‑NF 20/13; 10 ObS 93/10i, SSV‑NF 24/48). Dass der Hinweis auf die Mitwirkungspflicht in der Streitverhandlung vom 10. 3. 2009 über Ersuchen des Versicherungsträgers erfolgte, geht zwar nicht eindeutig aus dem Verhandlungsprotokoll hervor, wird aber von der Klägerin weder im erstinstanzlichen Verfahren, noch in ihrer Berufung in Frage gestellt. Ob das Verlangen vom Vertreter des Versicherungsträgers selbst oder über Ersuchen des Versicherungsträgers im Wege des Vorsitzenden des sozialgerichtlichen Senats erhoben wurde, ist nicht maßgeblich.

3.3. Die Aufforderung des Versicherungsträgers konnte wirksam auch gegenüber dem von der Klägerin mit Prozessvollmacht versehenen Rechtsanwalt erfolgen (vgl 10 ObS 221/92, SSV‑NF 6/128). Dieser war für die Weitergabe der Aufforderung zur Befolgung der Mitwirkungspflicht und zur Weitergabe der Belehrung über allfällige Konsequenzen bei Nichtbefolgung an die Klägerin verantwortlich (vgl Stumvoll in Fasching/Konecny 2, § 93 ZPO Rz 3).

3.4. War die Klägerin auf Verlangen des Versicherungsträgers auf die Mitwirkungspflicht, sich unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe einer medizinisch indizierten und zumutbaren Gewichtsreduktion zu unterziehen, hingewiesen und ihr Belehrung über die Folgen der Nichtbeachtung der Mitwirkungspflicht erteilt worden, musste sich für sie eindeutig ergeben, dass die Missachtung dieses Verlangens als Sanktion den Verlust des Anspruchs auf Pflegegeld ab 1. 3. 2011 nach sich ziehen kann. Eine nochmalige Aufforderung bzw Belehrung im Durchführungsbescheid der beklagten Partei war daher nicht notwendig, weil sich diese ja ausdrücklich auf den gerichtlichen, im selben Protokoll enthaltenen Vergleich bezog.

3.5. Ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichts ist die Mitwirkungspflicht der Klägerin in Form der Verpflichtung zur medizinisch indizierten Gewichtsreduktion mit dem Ziel der Erreichung des Normalgewichts ausreichend konkretisiert und bestimmt. Die konkrete Auswahl des Kassenarztes zur ärztlichen Begleitung bzw Aufsicht der Gewichtsreduktion oblag der Klägerin; ebenso die Wahl der in Frage kommenden gewichtsreduzierenden Maßnahmen.

4. Da die Verletzung der Mitwirkungspflicht schuldhaft erfolgen muss und das Berufungsgericht ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht die Behandlung der Tatsachenrüge unterlassen hat, ist dem Obersten Gerichtshof eine abschließende Entscheidung nicht möglich. Das Berufungsgericht wird daher nach Behandlung der Tatsachenrüge eine neuerliche Entscheidung unter Berücksichtigung der dargelegten Ausführungen zu treffen haben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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