Spruch:
In der Strafsache AZ 7 U 309/11m des Bezirksgerichts Leopoldstadt verletzen
1./ der gemeinsam mit dem Protokollsvermerk und der gekürzten Urteilsausfertigung ausgefertigte (Widerrufs-)Beschluss durch Unterbleiben der Rechtsmittelbelehrung § 86 Abs 1 StPO;
2./ die Unterlassung der Zustellung dieses Beschlusses an den Angeklagten § 86 Abs 2 erster Satz, § 498 Abs 2 dritter Satz StPO;
3./ die Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht vom 13. Jänner 2012, AZ 134 Bl 156/11a, § 89 Abs 1 iVm § 498 Abs 2 dritter Satz StPO sowie den in Art 6 MRK und § 6 Abs 1 StPO verankerten Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht vom 13. Jänner 2012, AZ 134 Bl 156/11a, wird aufgehoben und es wird diesem Gericht die Entscheidung über die Beschwerde des Christian K***** aufgetragen.
Text
Gründe:
Mit - gekürzt ausgefertigtem - Urteil des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 15. Dezember 2011, GZ 7 U 309/11m-13, wurde Christian K***** des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Mit dem unter einem gefassten (und mündlich verkündeten) Beschluss wurde „gemäß § 494a StPO“ ua die dem Angeklagten mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 7. November 2007 zu AZ 41 Hv 81/07d gewährte bedingte Strafnachsicht von sechs Monaten widerrufen, in zwei weiteren Fällen aber vom Widerruf ohne Probezeitverlängerung abgesehen.
Der Angeklagte erbat Bedenkzeit, der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft gab keine Erklärung ab (ON 13 S 3). Mangels Rechtsmittelanmeldung seitens des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft innerhalb der dreitägigen Erklärungsfrist erwuchs der Schuldspruch in Rechtskraft. Gegen den Widerrufsbeschluss meldete der Angeklagte mit am 19. Dezember 2011 - rechtzeitig - zur Post gegebenem Schriftsatz Beschwerde an (ON 14).
Die Bezirksrichterin fertigte - formularmäßig - einen Protokollsvermerk und eine gekürzte Urteilsausfertigung aus.
Zur Widerrufsentscheidung findet sich darin folgender Text: „Beschluss: Gemäß § 494a StPO wird die bedingte Strafnachsicht zu LG Salzburg 41 HV 81/07d widerrufen“ (ON 13, S 2 = S 5 oben). Zur Begründung führte die Erstrichterin aus: „Bedenkt man, dass Christian K***** bereits dreimal einschlägig straffällig wurde und dabei jedes Mal die Rechtswohltat einer bedingten Strafnachsicht samt Verlängerung jeder Probezeit … genossen hat(te), diese ihm gewährten Chancen, sein Aggressionspotential in den Griff zu bekommen, ungenützt verstreichen ließ, ist es nunmehr unabdingbar die bedingte Strafnachsicht zu widerrufen, zumal bei K***** ein Umdenkprozess beginnen muss.“ Zudem habe seine Verantwortung keinerlei Reumütigkeit gezeigt.
Ohne den Beschluss an den Angeklagten zuzustellen legte das Bezirksgericht den Akt sogleich mit Vorlagebericht vom 27. Dezember 2011 dem Landesgericht für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht vor (ON 17).
Mit Beschluss vom 13. Jänner 2012, AZ 134 Bl 156/11a (ON 19), gab das Landesgericht für Strafsachen Wien der „Beschwerde“ des Verurteilten nicht Folge.
Im Zuge der Endverfügung vom 19. Jänner 2012 wurde die Zustellung lediglich der Beschwerdeentscheidung und der Strafvollzugsanordnung verfügt (ON 20). Erst am 23. Februar 2012 ordnete die Bezirksrichterin zufolge eines ausdrücklich darauf abzielenden Antrags des Verteidigers (ON 25) mit der Verfügung „Kopie ON 13 an Vert.“ die Zustellung - ohne Anschluss einer Rechtsmittelbelehrung - an. Hierauf wurde dem Verteidiger im elektronischen Weg am 24. Februar 2012 die gekürzte Ausfertigung des Urteils mit dem darin enthaltenen (Widerrufs-)Beschluss zugestellt (siehe Zustellnachweis auf ON 25). Der Angeklagte führte seine Beschwerde mit am 6. März 2012 zur Post gegebenem Schriftsatz aus (ON 26). Über diese wurde bislang nicht entschieden.
Die Art der Ausfertigung des (Widerrufs-)Beschlusses des Bezirksgerichts Leopoldstadt (ON 13 S 5), die Unterlassung seiner Zustellung an den Rechtsmittelwerber sowie der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht stehen - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde überwiegend zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 494a Abs 4 zweiter Satz StPO sind Beschlüsse nach Abs 1 leg cit gemeinsam mit dem Urteil zu verkünden. Bei - die Beurkundung des wesentlichen Beschlussinhalts bloß im Protokoll (§ 498 Abs 2 iVm § 86 Abs 2 und Abs 3 StPO) hindernder - Anmeldung einer Beschwerde ist der Beschluss auszufertigen (§ 498 Abs 2 iVm § 86 Abs 2 StPO). Diesfalls läuft die Frist zur Erstattung des Rechtsmittels ab Zustellung der schriftlichen Ausfertigung (§ 498 Abs 2 dritter Satz StPO).
I./ Gemäß § 86 Abs 1 StPO hat ein Beschluss Spruch, Begründung und Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. Dabei müssen im Spruch die Anordnung, Bewilligung oder Feststellung des Gerichts sowie die darauf bezogenen gesetzlichen Bestimmungen angeführt werden. In der Begründung sind die tatsächlichen Feststellungen und die rechtlichen Überlegungen auszuführen, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden.
Entgegen dieser gesetzlichen Anordnungen enthält der gemeinsam mit dem Protokollsvermerk und der gekürzten Urteilsausfertigung ausgefertigte Beschluss keine Rechtsmittelbelehrung (ON 13 S 5).
Im Übrigen aber genügt der Beschluss - entgegen der Auffassung der Generalprokuratur - noch den gesetzlichen Anforderungen. Die Erfordernisse des § 86 Abs 1 StPO für die Ausfertigung eines Beschlusses dienen der Nachvollziehbarkeit durch den Normadressaten und der Überprüfbarkeit durch das Rechtsmittelgericht (Nimmervoll, Beschluss und Beschwerde in der StPO, 29).
Zweck der Anführung der „darauf bezogenen gesetzlichen Bestimmungen“ im Spruch ist es daher, erkennbar zu machen, auf welche prozessuale oder materielle Norm sich die Anordnung, Bewilligung oder Feststellung stützt, indem insofern ein Zusammenhang zwischen Spruch und gesetzlicher Fundierung hergestellt wird. Fehlt die Angabe einer Bestimmung überhaupt, wird eine falsche Norm bezeichnet oder ist die zitierte nicht eindeutig oder missverständlich, wird diese Zielsetzung verfehlt.
Vorliegend verweist der Widerrufsbeschluss (bloß) allgemein auf § 494a StPO („Gemäß § 494a StPO … widerrufen). Diese Bezeichnung (ohne die konkretisierende Zitierung des „Abs 1 Z 4“) erweist sich zwar als unpräzise, hindert aber die Auffindung der auf den Spruch bezogenen konkreten Norm nicht, kennt doch die Bestimmung des § 494a StPO nur einen „Widerrufstatbestand“ (nämlich: Abs 1 Z 4). Da somit die Nachvollziehbarkeit der Anordnung gegeben ist, eine Verwechslung oder ein Missverständnis ausgeschlossen sind, erreicht die (tatsächlich gegebene) Nachlässigkeit in der Formulierung nicht das Gewicht einer Gesetzesverletzung.
In den „rechtlichen Überlegungen“ hat das Gericht jene Erwägungen darzulegen, aufgrund derer es den festgestellten Sachverhalt einer Norm - hier dem Widerrufstatbestand des § 494a Abs 1 Z 4 StPO iVm § 53 Abs 1 StGB - unterstellt. Danach ist eine bedingte Strafnachsicht dann zu widerrufen, wenn dies … geboten erscheint, um den Rechtsbrecher von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten, somit bei Vorliegen spezialpräventiver Erfordernisse. Indem die Richterin in der Begründung des Beschlusses auf die Erfolglosigkeit dreier bislang gewährter bedingter Strafnachsichten, das trotz gewährter Chancen unverändert vorliegende Aggressionspotential sowie die Notwendigkeit eines Umdenkprozesses hinwies, hat sie hinreichend deutlich gemacht, dass sie aufgrund dieses Tatsachensubstrats die spezialpräventiven Voraussetzungen für die Rechtsfolge des Widerrufs als gegeben erachtete.
II./ Die Unterlassung der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des (Widerrufs-)Beschlusses durch das Bezirksgericht verletzt die eindeutige gesetzliche Anordnung der §§ 498 Abs 2 dritter Satz, 86 Abs 2 erster Satz StPO.
III./ Die sofortige meritorische Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht über die bloße Beschwerdeanmeldung vor Zustellung des Widerrufsbeschlusses und Ablauf der Rechtsmittelfrist verletzt die Bestimmungen der §§ 89 Abs 1, 498 Abs 2 dritter Satz StPO sowie den darin zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 MRK; § 6 Abs 1 StPO; Tipold, WK-StPO § 88 Rz 8). Denn obwohl eine allfällige Missachtung der Begründungsobliegenheit einer Beschwerde (§ 88 Abs 1 erster Satz StPO) durch den Beschwerdeführer ohne Konsequenz bleibt, weil das Rechtsmittelgericht von sich aus auch ohne Beschwerdevorbringen alle für den Standpunkt des Beschwerdeführers maßgeblichen Umstände zu berücksichtigen hat (§ 89 Abs 2b letzter Satz StPO), darf das Beschwerderecht durch Nichteinräumung der Möglichkeit deren schriftlicher Ausführung (und somit eingehender Begründung des Beschwerdestandpunkts) nicht beschnitten werden.
Da sich die Gesetzesverletzungen - abgesehen von der Formverletzung bei der Ausfertigung des Beschlusses durch das Bezirksgericht - zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst, den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 13. Jänner 2012, AZ 134 Bl 156/11a (ON 19 des Akts), aufzuheben und diesem Gericht die neuerliche Entscheidung über die Beschwerde des Christian K***** (ON 26) aufzutragen.
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