OGH 15Os104/12a

OGH15Os104/12a26.9.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 26. September 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Dr. Michel‑Kwapinski und Mag. Fürnkranz als weitere Richter in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Krausam als Schriftführerin in der Strafsache gegen Markus T***** wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 und Abs 4 StGB, AZ 17 Hv 30/11t des Landesgerichts Feldkirch, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 16. September 2011, GZ 17 Hv 30/11t‑8, und weitere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0150OS00104.12A.0926.000

 

Spruch:

I./ Im Verfahren AZ 17 Hv 30/11t des Landesgerichts Feldkirch verletzen

1./ die Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung am 16. September 2011 in Abwesenheit des zur Verhandlung nicht gehörig geladenen Angeklagten § 427 Abs 1 StPO sowie § 221 Abs 2 erster Satz erster Fall StPO;

2./ die in der Hauptverhandlung am 16. September 2011 erfolgte Protokollierung, wonach der gesamte Akteninhalt als einvernehmlich referiert im Sinn des § 252 Abs 2a StPO gilt, § 271 Abs 1 StPO sowie

3./ das Unterbleiben der Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls an den Angeklagten § 271 Abs 6 letzter Satz StPO.

II./ Das Urteil wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Feldkirch verwiesen.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Im Strafverfahren AZ 17 Hv 30/11t des Landesgerichts Feldkirch legte die Staatsanwaltschaft Feldkirch Markus T*****, nachdem dieser als Beschuldigter zur Sache vernommen worden war (ohne indes zum Tatverdacht Stellung zu nehmen; ON 2 S 17), mit Strafantrag vom 4. August 2011, AZ 8 St 104/11f (ON 3), das Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 und Abs 4 StGB zur Last.

Da dem Angeklagten die Ladung zu der für den 16. September 2011 anberaumten Hauptverhandlung (ON 4) nicht zugestellt werden konnte (das Poststück wurde mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt verzogen“ zurückgestellt), verfügte das Gericht am 16. August 2011 deren Zustellung im Wege der Polizei (ON 5).

Zu Beginn der am 16. September 2011 „gemäß § 427 StPO“ in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung hielt der Einzelrichter im Protokoll fest (ON 7 S 2), dass „der Auftrag an die PI-S***** erging, Markus T***** zur Hauptverhandlung zu laden. Weitere Informationen liegen zur Zeit nicht vor“. Das anschließende Beweisverfahren erschöpfte sich laut Protokoll darin, dass „der gesamte Akteninhalt“ (darunter auch Protokolle über die polizeiliche Vernehmung der Zeugen Janine H***** und David M*****) als „einvernehmlich referiert iSd § 252 Abs 2a StPO gilt“. Sodann wurde der abwesende Angeklagte anklagekonform verurteilt (ON 7 S 2 f), wobei sich der erkennende Richter in seiner Beweiswürdigung auch auf die Aussagen der Zeugen Janine H***** und David M***** vor der Polizei stützte (US 3).

Nach Urteilsfällung langte bei Gericht noch am selben Tag der Bericht der Polizeiinspektion S***** vom 13. September 2011 ein, wonach Markus T***** am 10. September 2011 von einem Polizeibeamten „telefonisch erreicht und von der gegenständlichen Hauptverhandlung (mit Ort und Zeit) in Kenntnis gesetzt“ worden sei. Ungeachtet der dabei erfolgten Mitteilung an den Angeklagten, dass die Ladung zur Hauptverhandlung samt Strafantrag bei der Polizeiinspektion S***** aufliege und abzuholen sei, wurde diese nicht behoben (ON 6; Aktenvermerk vom 8. November 2011 in ON 13 S 6).

Die schriftliche Urteilsausfertigung (ON 8) ‑ nicht aber eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung (vgl ON 8 S 5; ON 13 S 6) ‑ wurde dem Angeklagten am 13. Dezember 2011 (zu eigenen Handen) zugestellt (ON 16). Trotz der Aufforderung seitens des Gerichts an den Angeklagten, Einspruch dagegen zu erheben (ON 8 S 5), blieb das Urteil unbekämpft und erwuchs in Rechtskraft (ON 17).

Die Durchführung der Hauptverhandlung und die darin erfolgte Verlesung polizeilicher Protokolle über die Vernehmung von Zeugen jeweils in Abwesenheit des Angeklagten, die Fällung eines Abwesenheitsurteils sowie die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an den Angeklagten stehen ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt ‑ mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1./ Gemäß § 427 Abs 1 StPO setzen die Durchführung der Hauptverhandlung und die Verkündung des Urteils jeweils in Abwesenheit des Angeklagten dessen persönliche Ladung zur Hauptverhandlung voraus. Eine solche „gehörige“ ‑ in der Regel schriftliche (zur hier nicht relevanten Ausnahme siehe Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 9 aE) ‑ Ladung hat neben der Bekanntgabe des Termins der Hauptverhandlung (unter Wahrung der in § 221 Abs 2 StPO vorgesehenen Vorbereitungsfrist) auch eine Belehrung des Angeklagten über die im Fall seines Ausbleibens zu gewärtigenden Konsequenzen zu enthalten und ihn über den Gegenstand der Verhandlung in Kenntnis zu setzen (Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 9 und 11).

Die fallaktuell sechs Tage vor der Hauptverhandlung (somit unter Verletzung der achttägigen Vorbereitungsfrist des § 221 Abs 2 StPO) und überdies bloß (fern-)mündlich erfolgte Mitteilung des Hauptverhandlungstermins ‑ ohne gleichzeitige Belehrung des Angeklagten über die Abwesenheitsfolgen sowie ohne Bekanntgabe des Verhandlungsgegenstands ‑ stellt daher keine gehörige Ladung im Sinn des § 427 Abs 1 StPO dar. Der Einzelrichter wäre verpflichtet gewesen, sich vor Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten und Fällung des Abwesenheitsurteils von der gehörigen Ladung des Angeklagten zu überzeugen, sodass infolge des rechtlich mangelhaften Verfahrens Gesetzesverletzungen vorliegen (vgl RIS‑Justiz RS0126648; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 17).

2./ Die Formulierung im Hauptverhandlungs‑ protokoll, wonach der gesamte Akteninhalt als „einvernehmlich referiert“ im Sinn des § 252 Abs 2a StPO „gilt“ und „auf weitere tatsächliche Vorträge zusätzlich zu den bereits verlesenen Textpassagen“ „allseits audrücklich verzichtet“ wird (ON 7 S 2), entspricht nicht § 271 Abs 1 StPO. Einerseits wird mit dem ersten Teil des zitierten Textes ein tatsächlicher Vortrag der Aktenstücke nicht zum Ausdruck gebracht (15 Os 4/11v), andererseits bleibt gänzlich offen, welche Aktenteile tatsächlich verlesen oder vorgetragen worden seien (vgl RIS‑Justiz RS0110681; Danek, WK‑StPO § 271 Rz 18).

Im Übrigen dürfen Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 StPO normierten Ausnahmefällen verlesen werden. Ein Vortrag des gesamten Akteninhalts gemäß § 252 Abs 2a StPO in der Hauptverhandlung, der auch die Protokolle über die polizeiliche Vernehmung der in diesem Verfahren nur als Zeugen in Betracht kommenden Beweispersonen Janine H***** (ON 2 S 27 ff) und David M***** (ON 2 S 73 ff) umfasst, würde dem Gesetz widersprechen, weil aus dem bloßen Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung dessen Einwilligung im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO und auch zum Vortrag gemäß Abs 2a leg cit nicht abgeleitet werden kann (RIS‑Justiz RS0117012).

3./ Zufolge der ‑ auch im Hauptverfahren vor dem Landesgericht als Einzelrichter anzuwendenden (§ 488 Abs 1 StPO) ‑ Bestimmung des § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten des Verfahrens, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Mangels eines im Anlassfall erklärten Verzichts verletzt die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an den Angeklagten § 271 Abs 6 letzter Satz StPO.

Die zu 1./ aufgezeigte Gesetzesverletzung ist geeignet, dem Angeklagten zum Nachteil zu gereichen, sodass deren Feststellung mit konkreter Wirkung (§ 292 letzter Satz StPO) zu verknüpfen war.

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