European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0130OS00033.12W.0705.000
Spruch:
In der Strafsache gegen Erik J*****, AZ 8 Hv 83/11m des Landesgerichts für Strafsachen Graz, verletzt der Vorgang der schriftlichen Ausfertigung des am 20. Jänner 2012 mündlich verkündeten Urteils durch einen anderen Richter als den daran dauernd verhinderten Vorsitzenden des Schöffengerichts §§ 14 Abs 1 und 15 Abs 1 der Kaiserlichen Verordnung vom 14. Dezember 1915 über die Abfassung und Unterfertigung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen und von Protokollen bei dauernder Verhinderung des Richters oder des Schriftführers RGBl 1915/372.
Dem Landesgericht für Strafsachen Graz wird ein Vorgehen gemäß §§ 14 und 15 dieser Verordnung aufgetragen.
Mit seinen Rechtsmitteln wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Erik J***** (richtig:) mehrerer Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 1 (zu ergänzen: iVm Abs 3 zweiter Fall) SMG (I/1) sowie der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG (I/2) und der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB (II) schuldig erkannt.
Gegen das Urteil hat der Angeklagte Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angemeldet (ON 48 S 7).
Rechtliche Beurteilung
Zufolge Suspendierung des Vorsitzenden des Schöffengerichts fasste der Personalsenat des Landesgerichts für Strafsachen Graz am 20. Februar 2012 den Beschluss, die Ausfertigung dieses mündlich verkündeten Urteils einer anderen Richterin dieses Gerichts zu übertragen (ON 1 S 19 ff). Diese stellte ‑ ohne die Parteien über die Verhinderung des Vorsitzenden in Kenntnis zu setzen ‑ die schriftliche Urteilsausfertigung her (ON 49 S 13) und übergab sie (von ihr unterschrieben) der Kanzlei zur Abfertigung (ON 1 S 22).
Der Vorgang der schriftlichen Ausfertigung des am 20. Jänner 2012 mündlich verkündeten Urteils durch einen anderen Richter als den daran dauernd verhinderten Vorsitzenden des Schöffengerichts steht ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt ‑ mit den im Spruch genannten Bestimmungen der Kaiserlichen Verordnung nicht in Einklang:
1. Vorweg ist festzuhalten, dass sich diese ‑ nach wie vor in Geltung stehende (vgl Anhang [Indexzahl 14.02.04] zum Ersten BundesrechtsbereinigungsG, BGBl I 1999/191) ‑ Verordnung unmittelbar auf das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 RGBl 1867/141 stützt, es sich somit um eine verfassungsunmittelbare Verordnung handelt, die nach ausdrücklicher Anordnung des § 14 dieses Staatsgrundgesetzes Gesetzeskraft hat (zum Rang vergleichbarer Notverordnungen des Bundespräsidenten [Art 18 Abs 3 bis 5 B-VG] im Stufenbau der geltenden Rechtsordnung Raschauer in Korinek/Holoubek, B-VG Art 18/3-5 Rz 1 und 10; Mayer, Die Verordnung, 39 f; Aichlreiter, Österreichisches Verordnungsrecht, 905 ff und 1151 f; vgl zum Gesetzesbegriff des § 23 StPO Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 12).
2. Gemäß § 8 der Kaiserlichen Verordnung, der die Überschrift „Urteile der Gerichtshöfe“ trägt, hat bei dauernder Verhinderung des mit der Ausfertigung betrauten Mitglieds des Senats „ein anderes Mitglied des Senates“ das Urteil auszufertigen.
3. Für das bezirksgerichtliche Verfahren, das von nur einem Berufsrichter geführt wird, enthält die Kaiserliche Verordnung folgende Regelungen:
3.1 Ist der erkennende (Einzel‑)Richter an der Urteilsausfertigung dauernd verhindert, so kann das rechtskräftige Urteil ‑ nach Anhörung des Anklägers und des Angeklagten ‑ von einem anderen Richter ausgefertigt werden (§ 9).
3.2 Ein Urteil, das (infolge Anmeldung eines Rechtsmittels) Rechtskraft nicht erlangt hat, „kann in der Regel nur vom erkennenden Richter ausgefertigt werden. Ist dieser dauernd verhindert, so hat das Gericht mit Beschluss auszusprechen, dass das verkündete Urteil als nicht gefällt anzusehen ist“ (§ 14 Abs 1). Die Ausfertigung durch einen anderen Richter ist jedoch (ausnahmsweise) dann zulässig, wenn der Ankläger und der Angeklagte damit einverstanden sind. Das Einverständnis wird angenommen, wenn die Partei innerhalb der vom Gericht bestimmten Frist keine Erklärung abgibt (§ 15 Abs 1).
4. Zweck dieser Bestimmungen ist es, unter Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (vgl §§ 13 Abs 1, 258 Abs 1 StPO) ‑ soweit die Parteien nicht auf dessen Einhaltung verzichten ‑ sicherzustellen, dass ein mündlich verkündetes Urteil nur von einem (Berufs-)Richter ausgefertigt wird, der an der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung (im kollegialgerichtlichen Verfahren auch an der Beratung des zur Entscheidung berufenen Senats) teilgenommen hat (vgl Danek, WK-StPO § 270 Rz 21; S. Mayer, Commentar § 270 Rz 4 f).
5. Für den vorliegenden Fall des aus nur einem (Berufs-)Richter und zwei Schöffen zusammengesetzten Schöffengerichts (§ 32 Abs 1 dritter Satz StPO) sieht die Kaiserliche Verordnung keine Regelung vor. Zum Zeitpunkt ihrer Erlassung bestand der Gerichtshof erster Instanz (als „Erkenntnisgericht“, vgl § 10 Z 3 StPO idF RGBl 1873/119), auf den sich § 8 der Kaiserlichen Verordnung bezieht, aus einer „Versammlung“ von vier (Berufs-)Richtern (§ 13 StPO idF RGBl 1873/119). Die mit der Strafprozessnovelle vom Jahre 1920 (StGBl 1920/279) eingeführten, aus zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen zusammengesetzten Schöffengerichte wurden mit dem BudgetbegleitG 2009 BGBl I 2009/52 (s dort Art 18 Z 5 lit a) entscheidend verkleinert. Seither besteht das Landesgericht als Schöffengericht aus nur einem (Berufs-)Richter und zwei Schöffen (§ 32 Abs 1 dritter Satz StPO).
6. Die solcherart durch Änderung der Verfahrensordnung (nachträglich) entstandene Regelungslücke ist im Weg der Analogie (zu Begriff und Methode zB Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 371 ff; Kramer, Juristische Methodenlehre3, 181 und 191 ff; Bydlinski in Rummel 3 § 7 Rz 2 f) dergestalt zu schließen, dass die ‑ auf Verfahren mit nur einem Berufsrichter abstellenden ‑ Vorschriften der Kaiserlichen Verordnung über die Urteilsausfertigung im bezirksgerichtlichen Verfahren auch auf den Fall einer dauernden Verhinderung des Vorsitzenden des Schöffengerichts anzuwenden sind.
7. Wann von einer derartigen dauernden Verhinderung auszugehen ist, legt die Kaiserliche Verordnung nicht fest. Neben tatsächlichen Umständen kommen auch rechtliche in Betracht. Die hier vorliegende ‑ unbefristete (vgl § 146 RStDG) ‑ Suspendierung im Rahmen eines Disziplinarverfahrens kann jedenfalls einen Anwendungsfall dieser Verordnung darstellen (Lohsing/Serini 4, 456).
8. Das Landesgericht für Strafsachen Graz hätte demnach die Staatsanwaltschaft und den Angeklagten von der dauernden Verhinderung des Vorsitzenden des Schöffengerichts in Kenntnis setzen und vor Betrauung eines anderen Richters mit der Urteilsausfertigung nach ihrem Einverständnis fragen müssen.
9. Die gemäß § 15 Abs 1 der Kaiserlichen Verordnung nur bei Einverständnis von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem vorgesehene Ausfertigung durch einen anderen Richter bildet die Ausnahme vom Grundsatz einer Beschlussfassung nach § 14 Abs 1 zweiter Satz der Kaiserlichen Verordnung (wonach das verkündete Urteil als nicht gefällt anzusehen ist). Mit Blick auf § 292 letzter Satz StPO sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, dem Landesgericht für Strafsachen Graz aufzutragen, gemäß §§ 14 und 15 der Kaiserlichen Verordnung vorzugehen.
10. Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde und seiner Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.
11. Sollten Staatsanwaltschaft und Angeklagter ihr Einverständnis im Sinn der genannten Bestimmungen erklären, wäre das (durch einen anderen Richter) ausgefertigte Urteil den Parteien neuerlich zuzustellen, wodurch die Frist zur Ausführung angemeldeter Rechtsmittel erneut in Gang gesetzt würde.
12. Bleibt zur Vermeidung von Fehlern im weiteren Verfahren anzumerken:
12.1 Stützt sich die (rechtliche) Annahme der Qualifikation des § 28a Abs 2 Z 1 SMG auf das Vorliegen einer (früheren) Verurteilung nach § 28 Abs 2 (und Abs 3 erster Fall) SMG idF vor BGBl I 2007/110, sind in tatsächlicher Hinsicht Feststellungen zu treffen, dass die früher abgeurteilte Tat einer § 28a Abs 1 SMG idgF subsumierbaren inhaltlich entsprach, also ein die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigendes Suchtgiftquantum betraf (RIS‑Justiz RS0123175).
12.2 Die im Sinn des § 28a Abs 2 Z 1 SMG qualifikationsbegründend herangezogene Vorstrafe ist unter dem Aspekt des Doppelverwertungsverbots (§ 32 Abs 2 erster Satz StGB) nicht gesondert neben Verurteilungen wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender Taten (§ 33 Abs 1 Z 2 StGB) erschwerend zu werten.
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