OGH 14Os179/10w (14Os180/10t, 14Os181/10i, 14Os182/10m)

OGH14Os179/10w (14Os180/10t, 14Os181/10i, 14Os182/10m)25.1.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Jänner 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bergmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Ing. Roland H***** wegen Vergehen der fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen nach §§ 159 Abs 1, Abs 5 Z 3 und Z 4, 161 Abs 1 StGB, und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 31 Hv 50/10a des Landesgerichts Salzburg, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 1. Juli 2010, GZ 31 Hv 50/10a-26, und mehrere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Sperker, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache AZ 31 Hv 50/10a des Landesgerichts Salzburg verletzen das Gesetz

(1) die Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils am 1. Juli 2010 in Abwesenheit des Angeklagten in § 427 Abs 1 erster Satz StPO;

(2) die in der Hauptverhandlung durchgeführte Verlesung von Aktenstücken in § 252 Abs 1 StPO (§ 488 Abs 1 StPO);

(3) die Unterlassung einer Rechtsmittelbelehrung des Angeklagten anlässlich der Zustellung des Abwesenheitsurteils in § 6 Abs 2 StPO;

(4) die Unterlassung der Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Beteiligten in § 271 Abs 6 letzter Satz StPO (§ 488 Abs 1 StPO).

Das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 1. Juli 2010, GZ 31 Hv 50/10a-26, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 1. Juli 2010, GZ 31 Hv 50/10a-26, wurde der zur Hauptverhandlung nicht erschienene, bis dahin nicht zum Anklagevorwurf vernommene Angeklagte Ing. Roland H***** mehrerer Vergehen der fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen nach §§ 159 Abs 1, Abs 5 Z 3 und Z 4, 161 Abs 1 StGB und §§ 159 Abs 2, Abs 5 Z 3 und Z 4, 161 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

In der Hauptverhandlung war „gemäß § 252 StPO parteieneinverständlich der wesentliche Akteninhalt verlesen“ worden (ON 25 S 2). Dieser umfasste unter anderem die polizeiliche Vernehmung des (früheren) Mitbeschuldigten Markus P***** (ON 14 S 123 ff) und das Gutachten des Sachverständigen Mag. Herbert S***** (ON 15a).

Am 9. August 2010 verfügte der Einzelrichter die Zustellung einer Ausfertigung des Abwesenheitsurteils an den Angeklagten, nicht aber die Zustellung einer Rechtsmittelbelehrung (für Abwesenheitsurteile) und einer Ausfertigung des Protokolls der Hauptverhandlung (ON 1 S 19).

Ing. Roland H***** ließ das ihm am 15. August 2010 zugegangene Urteil (RS bei ON 26), unangefochten. Eine von der Staatsanwaltschaft nach Ablauf der dreitägigen Frist des § 466 Abs 1 StPO (§ 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) zu Gunsten des Angeklagten angemeldete Berufung (ON 27) zog die Oberstaatsanwaltschaft Linz zurück (unjournalisiertes Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft Linz vom 17. November 2010, AZ 5 OStA 441/10a).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht die beschriebene Vorgangsweise des Landesgerichts Salzburg in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang.

(1) Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (unter anderem) nur dann durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn der Angeklagte gemäß § 164 StPO oder § 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde. Daher stehen die vorliegende Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung in Abwesenheit des zuvor zu keinem der im Strafantrag gegen ihn erhobenen Vorwürfe vernommenen Angeklagten mit dem Gesetz nicht im Einklang.

(2) Nach der gemäß § 488 Abs 1 StPO auch für das Hauptverfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts geltenden Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen unter anderem Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen sowie Gutachten von Sachverständigen (bei sonstiger Nichtigkeit) nur in den im Gesetz genannten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO) verlesen werden. Weil hier keiner dieser Ausnahmetatbestände vorlag, war die Verlesung des Protokolls über die Vernehmung des Markus P***** und des Gutachtens des Sachverständigen Mag. Herbert S***** unzulässig. Eine einverständliche Verlesung im Sinn der Z 4 des § 252 Abs 1 StPO konnte nicht stattfinden, weil aus dem Fernbleiben des (zudem nicht gesetzeskonform geladenen [vgl dazu unten] und unvertretenen) Angeklagten von der Hauptverhandlung seine Verlesungszustimmung nicht abgeleitet werden kann (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103).

(3) Gemäß § 152 Abs 3 Geo ist mit einem in Abwesenheit des Angeklagten gefällten Urteil stets auch eine besondere Rechtsmittelbelehrung zuzustellen und dies vom Richter in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen. So vorzugehen entspricht auch § 6 Abs 2 StPO. Dieser Belehrungspflicht ist das Landesgericht Salzburg nicht nachgekommen, womit eine Unterrichtung des Angeklagten über die Anfechtbarkeit des Urteils unterblieb. Er wurde solcherart nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass die Berufung gegen ein nicht in Anwesenheit des Angeklagten verkündetes Urteil binnen drei Tagen nach seiner Verständigung hievon anzumelden ist und ihm diesfalls die Ausführung der Berufung offen steht, und zwar binnen vier Wochen ab Anmeldung (§ 489 Abs 1 zweiter Satz StPO iVm §§ 466 Abs 2, 467 Abs 1 StPO). Ebenso wenig wurde er über sein Recht auf Erhebung eines Einspruchs binnen 14 Tagen ab Zustellung des Urteils (wegen eines unabweisbaren Hindernisses) sowie darüber informiert, dass die Berufung gegen ein Abwesenheitsurteil auch nach dem Ablauf der Anmeldungsfrist zusammen mit dem Einspruch angemeldet werden kann (§ 489 Abs 1 StPO iVm § 427 Abs 3 StPO). Die Unterlassung der Belehrung des Angeklagten über die Möglichkeiten der Anfechtung eines Abwesenheitsurteils entsprach nicht dem Gesetz (§ 6 Abs 2 StPO).

(4) Nach § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 488 Abs 1 StPO ist den Beteiligten des Verfahrens (auch jenes vor dem Landesgericht als Einzelrichter), soweit sie nicht darauf verzichtet haben, eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen. Auch gegen diese gesetzliche Anordnung hat das Landesgericht Salzburg verstoßen.

Angesichts dieser Gesetzesverletzungen sah sich der Oberste Gerichtshof über deren Feststellung hinaus zur Urteilsaufhebung und Anordnung neuer Verhandlung und Entscheidung veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO).

Bleibt anzumerken, dass der Versuch, die Ladung zur Hauptverhandlung dem damals nach dem Akteninhalt in der Bundesrepublik Deutschland aufhältigen Angeklagten im Rechtshilfeweg zuzustellen (ON 1 S 9), nach einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft Essen vom 1. Juli 2010 scheiterte, weil dieser in der Zwischenzeit unbekannt verzogen war und Aufenthaltserhebungen bis zum Verhandlungstermin nicht mehr durchgeführt werden konnten (ON 24), womit eine weitere der in § 427 Abs 1 StPO genannten Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten nicht vorlag. Die Entscheidung ist somit auf einer insofern in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem Gericht, das in schuldloser Unkenntnis des Zustellmangels war, vielmehr aufgrund der telefonischen Auskunft der Staatsanwaltschaft Essen vom 29. Juni 2010 berechtigt von persönlich erfolgter Zustellung ausgehen konnte (ON 1 S 11; ON 25 S 2), ein Rechtsfehler anzulasten ist. Eine außerordentliche Wiederaufnahme nach § 362 StPO (RIS-Justiz RS0117416, RS0117312; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 16, § 362 Rz 4; Fabrizy StPO10 § 362 Rz 3) erübrigt sich im Hinblick auf die aus den zuvor dargestellten Gründen erforderliche Urteilskassation.

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