Spruch:
Die Beschlüsse des Landesgerichts Korneuburg vom 10. November 2010, GZ 406 HR 256/10h-6 und 8, verletzen § 17 Abs 3 EU-JZG iVm § 29 Abs 2 ARHG.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Korneuburg leitete am 21. Oktober 2010 zu 2 St 282/10d ein Verfahren zur Übergabe der (richtig:) slowakischen Staatsangehörigen Henrich H*****, Ivan B***** und anderer Betroffener an die ungarischen Behörden nach § 17 EU-JZG ein, weil diese - laut Bericht des Polizeikooperationszentrums Nickelsdorf (ON 2 S 253) - im Verdacht standen, in der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 2010 in G***** mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz Gewahrsamsträgern des Unternehmens I***** zahlreiche Wertgegenstände (wie Laptops, Fernseher, andere technische Geräte und Chemikalien im Wert von etwa 4.000 Forint) durch Einbruch (Eindringen in das Gebäude über das Ventilationssystem) weggenommen zu haben.
Unter einem wurde beim Landesgericht Korneuburg die Verhängung der Übergabehaft über die Genannten nach §§ 17, 18 EU-JZG, § 173 Abs 1 StPO aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO nach Beendigung der Inlandshaft zum Verfahren AZ 503 Hv 120/10t des Landesgerichts Korneuburg, deren Vernehmung „unter eingehender Belehrung gemäß § 20 EU-JZG“ und die Befragung der ungarischen Justizbehörden gemäß § 17 Abs 3 EU-JZG unter Setzung einer Frist von 30 Tagen beantragt (ON 1 S 16).
Am 10. November 2010, zu welchem Zeitpunkt sich Henrich H***** zu AZ 114 Hv 32/08y des Landesgerichts für Strafsachen Wien in Strafhaft (vgl ON 1 S 4 iVm ON 2 S 95) und Ivan B***** zu AZ 503 Hv 120/10t des Landesgerichts Korneuburg in Untersuchungshaft (ON 1 S 4) befanden, führte die Einzelrichterin des Landesgerichts Korneuburg die Vernehmung beider Betroffener im Übergabeverfahren durch (ON 5 und 7) und verhängte mit Beschlüssen vom selben Tag die Übergabehaft über die Genannten aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO iVm § 29 Abs 1 ARHG und § 17 EU-JZG jeweils mit Wirksamkeit bis 24. November 2010, „im Fall der Erhebung einer Beschwerde aber bis 10. Dezember 2010“, schob die Übergabehaft jedoch (laut den Vernehmungsprotokollen „gemäß § 25 ARHG“) gleichzeitig „bis zur Beendigung der Inlandshaft zu AZ 503 Hv 120/10t des Landesgerichts Korneuburg“ auf (ON 6 und 8).
Diese Beschlüsse erwuchsen - nach Rückziehung der dagegen erhobenen Beschwerde des Ivan B***** (ON 7 S 2) mit Schriftsatz vom 23. November 2010 - in Rechtskraft.
Mit am selben Tag rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 10. November 2010, AZ 503 Hv 120/10t, wurden die Genannten jeweils des Verbrechens des durch Einbruch begangenen gewerbsmäßigen Diebstahls nach den §§ 127, 129 Z 1, 130 erster Fall StGB schuldig erkannt und hiefür zu Freiheitsstrafen, Henrich H***** in der Dauer von achtzehn Monaten und Ivan B***** in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt, wobei hinsichtlich des Letztgenannten der Vollzug eines achtmonatigen Strafteils nach § 43a Abs 3 StGB für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehen wurde.
Mit Beschluss vom 3. Dezember 2010 (dem - unter Anrechnung der im Inlandsverfahren erlittenen Untersuchungshaft festgestellten - Entlassungsdatum des Ivan B***** in Betreff des unbedingt verhängten viermonatigen Strafteils [ON 11]) verhängte die Einzelrichterin des Landesgerichts Korneuburg unter Bezugnahme auf den Antrag der Staatsanwaltschaft Korneuburg vom 21. Oktober 2010 erneut die Übergabehaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr über den Genannten (ON 21) und setzte diese mit Beschluss vom 17. Dezember 2010 mit Wirksamkeit bis zum 17. Jänner 2011 fort (ON 36). Die über den - weiterhin zu AZ 114 Hv 32/08y des Landesgerichts für Strafsachen Wien in Strafhaft befindlichen (vgl den Amtsvermerk vom 10. Jänner 2011) - Henrich H***** verhängte Übergabehaft hob sie mit Beschluss vom 9. Dezember 2010 „gemäß § 177 Abs 2 StPO“ auf.
Nach Durchführung einer Übergabeverhandlung am 31. Dezember 2010, in der sich Ivan B***** nach Belehrung gemäß § 20 EU-JZG mit der vereinfachten Übergabe einverstanden erklärte, wurde seine Übergabe an die ungarischen Behörden für zulässig erklärt. Diese fand am 7. Jänner 2011 statt.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, stehen die Beschlüsse des Landesgerichts Korneuburg vom 10. November 2010 mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Nach § 17 Abs 3 EU-JZG hat das Gericht unter den dort genannten Voraussetzungen die Übergabehaft auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 18 EU-JZG über die betroffene Person unter sinngemäßer Anwendung der Bestimmungen des § 29 ARHG (vgl § 18 Abs 2 EU-JZG) zu verhängen.
Danach darf die Auslieferungshaft nicht verhängt oder aufrecht erhalten werden, wenn die Haftzwecke durch eine gleichzeitige gerichtliche Untersuchungshaft oder Strafhaft erreicht werden können. Können die Haftzwecke durch eine gleichzeitige Strafhaft nicht erreicht werden oder würde das Auslieferungsverfahren durch die Aufrechterhaltung der Strafhaft wesentlich erschwert, so ist vom Gericht die Auslieferungshaft zu verhängen, womit eine Unterbrechung des Strafvollzugs eintritt und die Auslieferungshaft auf die durch sie unterbrochene Strafhaft anzurechnen ist (Abs 2 des § 29 ARHG).
Da demgemäß eine zeitliche Überschneidung der Auslieferungshaft und damit auch der Übergabehaft nach § 17 EU-JZG und der Untersuchungshaft nicht in Betracht kommt (Subsidiarität der Auslieferungshaft gegenüber einer gerichtlichen Untersuchungs- oder Strafhaft), sind erstere regelmäßig nicht vor Aufhebung der Untersuchungshaft zu verhängen (RIS-Justiz RS0087076; 14 Os 186/93). Die Anordnung einer Auslieferungs-(Übergabe-)haft als „Überhaft“ zu einer inländischen Untersuchungshaft, deren Dauer nicht abzusehen ist, ist unzulässig (Göth-Flemmich in WK² ARHG § 29 Rz 10 f). Die gleichzeitige Anhaltung des Betroffenen in Übergabehaft und inländischer Strafhaft ist nach dem Vorgesagten schon ex lege ausgeschlossen. Ein - dem Zweck der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht entsprechender - Aufschub des Vollzugs einer bereits verhängten Übergabehaft ist wiederum im Gesetz nicht vorgesehen (die vom Erstgericht offenbar angesprochene Bestimmung des § 25 Abs 1 [richtig:] EU-JZG regelt bloß die Voraussetzungen für den Aufschub der Übergabe selbst).
Die dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung der Übergabehaft nach Beendigung der Inlandshaft zuwider bereits am 10. November 2010, also zu einem Zeitpunkt, als sich Henrich H***** und Ivan B***** im Inland in Straf- bzw Untersuchungshaft befanden, erfolgte Verhängung der Übergabehaft über die Genannten unter gleichzeitigem „Aufschub“ derselben bis zur Beendigung der Haft im Verfahren AZ 503 Hv 120/10t des Landesgerichts Korneuburg stellt damit eine Verletzung des Gesetzes in § 17 Abs 3 EU-JZG iVm § 29 Abs 2 ARHG dar.
Mit Blick auf die zwischenzeitig erfolgte Aufhebung der über Henrich H***** verhängten Übergabehaft und die Übergabe des Ivan B***** an die ungarischen Behörden hat es mit deren Feststellung sein Bewenden (§ 292 letzter und vorletzter Satz StPO).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)