OGH 12Os56/10t

OGH12Os56/10t12.8.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. August 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. T. Solé und durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Reich als Schriftführerin in der Strafsache gegen Rene G***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 23. Oktober 2009, GZ 16 Hv 87/09f-43, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Angeklagte Rene G***** des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (1./), der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und Abs 3 (zu ergänzen: erster Fall) StGB idF BGBl I 1998/153 (2./), der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (3./) und des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB (4./) schuldig erkannt, nach (zu ergänzen: dem ersten Strafsatz des) § 207 Abs 3 StGB idF BGBl I 1998/153 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und gemäß § 21 Abs 2 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Danach hat er im Zeitraum 11. Mai 2006 bis 2. August 2006 in S*****

1./ mit einer unmündigen Person, und zwar dem am 27. Mai 1999 geborenen Marco D*****, eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung, nämlich zumindest eine anale Penetration durchgeführt,

2./ außer dem Fall des § 206 StGB zahlreiche geschlechtliche Handlungen an dem am 27. Mai 1999 geborenen Marco D***** vorgenommen, indem er diesem immer wieder auf den Penis griff und damit spielte, was gemeinsam mit Punkt 1./ oder alleine zu einer posttraumatischen Belastungsstörung des Marco D*****, die sich in massiven Ängsten, depressiven Zügen, Albträumen, Kontrollzwängen, einem starken Vermeidungsverhalten, einer Kontaktstörung, erhöhter Aggressionsbereitschaft und dissoziativen Zuständen sowie einer deutlichen Affektlabilität manifestiert (US 9 f), und somit zu einer schweren Körperverletzung und zu einer mehr als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung führte,

3./ die unter Punkt 1./ und 2./ geschilderten Handlungen unter Ausnützung seiner Stellung als Aufsichtsperson des minderjährigen Marco D***** vorgenommen,

4./ einem anderen, der seiner Obhut unterstand und der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, nämlich dem am 27. Mai 1999 geborenen Marco D***** körperliche und seelische Qualen zugefügt, indem er diesen wiederholt in den Keller einsperrte, ihn an den Haaren und Ohren aufhob und kalt abduschte, ihm Schläge versetzte, mit einem Plastikgewehr Plastikkugeln verschoss und damit den Minderjährigen traf, wobei er damit Angstzustände bei diesem hervorrief, die mit einer erheblichen Beeinträchtigung des psychischen und physischen Wohlbefindens verbunden sind.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf Z 5, 5a und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

Entgegen dem zu 1./ und 3./ erhobenen Vorwurf unvollständiger und offenbar unzureichender Begründung (Z 5 zweiter und vierter Fall) haben die Tatrichter die Angaben des Tatopfers Marco D*****, insbesondere auch dessen Depositionen anlässlich des Erstgesprächs mit der Zeugin Annemarie P***** (US 12), hinreichend berücksichtigt und mit Bezugnahme auf die für glaubwürdig erachteten Aussagen seines Bruders Marcel D***** vor der Polizei und Rahmen seiner kontradiktorischen Vernehmung - unter Einbeziehung der Angaben der Sozialpädagogin P***** - ihre Feststellung zur analen Penetration des Marco D***** durch den Angeklagten im Einklang mit den Gesetzen folgerichtigen Denkens und grundlegenden Erfahrungsätzen mängelfrei begründet (US 11 ff).

Weshalb die aktenkonform referierten Aussagen des Tatopfers, über sexuelle Übergriffe nicht mehr sprechen zu wollen (US 13), sowie die dazu angestellten Erwägungen der Tatrichter eine Scheinbegründung (Z 5 vierter Fall) darstellen oder Aktenwidrigkeit (Z 5 letzter Fall) bewirken sollten, wird in der Beschwerde nicht nachvollziehbar zur Darstellung gebracht.

Dass das Tatopfer vor der Polizei (S 65 in ON 2) und vor dem Ermittlungsrichter (S 21 in ON 19) eine sexuelle Handlung des Angeklagten in seinem Analbereich bestritten hat, haben die Erstrichter im Rahmen der Beweiswürdigung ohnedies mitberücksichtigt (US 13 f). Die von Marco D***** nach eingehender Befragung und zum Teil nur gegenüber seiner Prozessbegleiterin Mag. W***** schließlich geschilderten Manipulationen des Angeklagten an seinem Penis (S 65 in ON 2, S 19 in ON 19) stehen dem Beschwerdevorbringen zuwider mit der von seinem Bruder bekundeten analen Penetration jedenfalls nicht im Widerspruch und waren daher im Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Tatvorwurf nicht gesondert erörterungsbedürftig.

Mit dem Einwand, der im klinisch-psychologischen Gutachten der Sachverständigen Mag. Dr. Heidrun E***** erwähnte Verdacht einer analen Penetration des Zeugen Marcel D***** durch seinen leiblichen Vater im Jahre 2002 (S 71 in ON 24) spreche gegen die Glaubwürdigkeit des genannten Zeugen, wird keine Unvollständigkeit aufgezeigt, sondern die Beweiswürdigung des Schöffengerichts unzulässig kritisiert. Überdies waren die Tatrichter zu einer Erörterung aller Details der Expertise nicht verhalten (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 428).

Entgegen dem Vorwurf einer Scheinbegründung (Z 5 vierter Fall) ist die vom Schöffengericht zur Begründung der subjektiven Tatseite zu 2./ und 3./ vorgenommene Verknüpfung des objektiven Tatgeschehens und der Lebenserfahrung mit der Persönlichkeit des Beschwerdeführers (US 17 erster Absatz) formal mängelfrei.

Die Absicht, sich oder einen Dritten erregen oder befriedigen zu wollen, ist zur Verwirklichung des § 207 Abs 1 StGB nicht erforderlich (RIS-Justiz RS0095226), sodass es der Rüge zuwider auch keiner Begründung der insoweit überschießenden Feststellung bedurfte, der Angeklagte hätte mit einem ebensolchen Vorsatz gehandelt (US 7).

Dem Einwand der Undeutlichkeit und Unvollständigkeit (Z 5 erster, zweiter Fall) zuwider wurde zur Qualifikation des ersten Falls des § 207 Abs 3 StGB die Kausalität der Unzuchtshandlungen unmissverständlich festgestellt (US 9 letzter Absatz). Die Ausführung der Sachverständigen Mag. Dr. E*****, eine Traumatisierung könne an sich auch durch ständige Abwesenheit der Mutter ausgelöst werden (S 93 in ON 24, S 6 in ON 42), haben die Tatrichter im Rahmen der Beweiswürdigung ausreichend berücksichtigt (US 16).

Mit der Hypothese, für die zu 2./ konstatierte Traumatisierung könne „allenfalls das ebenfalls festgestellte und urteilsmäßig abgesprochene Zufügen von seelischen oder körperlichen Qualen iSd § 92 StGB mitursächlich sein“, wird weder ein Begründungsmangel noch ein Rechtsfehler vorschriftsgemäß aufgezeigt (§§ 285 Abs 1 zweiter Satz, 285a Z 2 StPO).

Entgegen der Behauptung von Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) zu 4./ wusste der Zeuge Markus Wi*****, dessen Aussage ohnehin in die Beweiswürdigung einfloss (US 16 letzter Absatz), nicht mehr genau, wie die Kellertüre zu verriegeln gewesen sei (S 9 in ON 12, S 3 in ON 42). Die Spekulation wiederum, der ältere Bruder hätte das eingesperrte Tatopfer befreien können, betrifft keinen für die Tatbestandsmäßigkeit nach § 92 Abs 1 StGB entscheidungswesentlichen Umstand.

Ein erörterungsbedürftiger Widerspruch (Z 5 dritter Fall) zwischen der Feststellung, der Angeklagte sei mit der Erziehung und Aufsicht überfordert gewesen (US 8 zweiter Absatz), und der weiteren Konstatierung, er habe die Misshandlungen aus Bosheit verübt (US 8 vorletzter Absatz), liegt nicht vor, weil beide Tatsachen logisch nebeneinander bestehen können (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 438 f).

Schließlich wurde auch der Vorsatz zu 4./ mängelfrei damit begründet, dass sich dieser bei vernetzter Betrachtung des objektiven Tatgeschehens schon aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebe (US 17 erster Absatz).

Indem die Tatsachenrüge (Z 5a) zu 1./ und 3./ mit Wiederholung der in der Mängelrüge vorgetragenen Aspekte und mit eigenen Beweiswerterwägungen im Ergebnis die dem Zeugen Marcel D***** mit Bezugnahme auf das für verlässlich befundene Gutachten der Sachverständigen Mag. Dr. E***** attestierte Glaubwürdigkeit (US 15 f) bestreitet, zeigt sie auf Aktenbasis keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit der diesen Schuldsprüchen zu Grunde liegenden entscheidenden Tatsachen auf, sondern kritisiert nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung die tatrichterliche Beweiswürdigung.

In Bezug auf die Qualifikation des ersten Falls des § 207 Abs 3 StGB im Schuldspruch 2./ wird mit dem pauschalen Verweis auf das diesbezügliche Vorbringen in der Mängelrüge die eigenständige und wesensmäßig verschiedene Tatsachenrüge nicht prozessordnungsgemäß ausgeführt (RIS-Justiz RS0115902).

Die gegen die vorerwähnte Qualifikation gerichtete Subsumtionsrüge (Z 10) verfehlt mit der lapidaren Behauptung, es sei nicht erkennbar, „ob die Feststellung“ einer durch die sexuellen Übergriffe verursachten schweren posttraumatischen Belastungsstörung „die Folge einer nicht näher begründeten Beweiswürdigung oder das Ergebnis einer Subsumtion unter einen falschen Qualifikationstatbestand darstellt“, mangels der gebotenen Konkretisierung materielle Nichtigkeit bewirkender Umstände die prozessordnungsgemäße Ausführung (§§ 285 Abs 1 zweiter Satz, 285a Z 2 StPO).

Zum Einweisungserkenntnis wird bemerkt, dass das Erstgericht seinen Feststellungen zur Gefährlichkeitsprognose (US 10) - zulässigerweise (vgl Fabrizy StPO10 § 270 Rz 8) - im Rahmen der Beweiswürdigung die weitere Ausführung hinzufügte, dass sich die geistige Abnormität des Angeklagten in Verbindung mit seiner Gefährlichkeit und der ungünstigen Prognose aus dem logisch nachvollziehbaren, unbedenklichen Gutachten des Sachverständigen Dr. R***** ergibt (US 16 vorletzter Absatz). Durch den Verweis wird deutlich, dass die Tatrichter ihr Einweisungserkenntnis auch auf die vom Sachverständigen in der Hauptverhandlung vorgetragene (Gutachten AS 15 f in ON 42) Befürchtung gründeten, der Angeklagte werde mit hoher Wahrscheinlichkeit unter dem Einfluss der bestehenden Störung wieder strafbare Handlungen wie die ihm vorgeworfenen begehen (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 579 mwN; RIS-Justiz RS0119301). Aus dem Zusammenhalt der im Urteil wörtlich wiedergegebenen Feststellungen zur Entscheidung gemäß § 21 Abs 2 StGB (US 10) mit diesem Verweis ergibt sich die Vollständigkeit der für ein derartiges Erkenntnis notwendigen Sachverhaltskriterien (vgl RIS-Justiz RS0118581).

Das Schöffengericht verurteilte den Angeklagten zu 2./ zwar wegen einer unbestimmten Anzahl von Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB idF BGBl I 1998/153, obwohl bei mehreren realkonkurrierenden strafbaren Handlungen nach § 207 Abs 1 StGB, die (mit-)kausal für schwere Verletzungsfolgen iSd ersten Falls des § 207 Abs 3 StGB geworden sind, die Erfolgsqualifikation nur bei einer dieser Taten anzulasten ist (RIS-Justiz RS0120828; Schick in WK2 § 207 Rz 14 iVm § 201 Rz 30).

Da sich diese - im Rechtsmittel übergangene - rechtsirrige Qualifikation bei der Strafbemessung nicht nachteilig auswirkte, zumal das als erschwerend gewertete Zusammentreffen mehrerer Verbrechen und Vergehen über einen längeren Zeitraum auch bei richtiger Subsumtion zu berücksichtigen ist, besteht kein Anlass zu amtswegigem Einschreiten nach § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO.

Sieht sich der Oberste Gerichtshof unter ausdrücklichem Hinweis auf eine verfehlte Subsumtion mangels eines darüber hinausgehenden konkreten Nachteils für den Angeklagten nicht zu amtswegigem Vorgehen nach § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO veranlasst, so besteht bei der Entscheidung über die Berufung, bei der das Berufungsgericht an die in der Rechtsmittelschrift vorgetragenen Berufungsgründe nicht gebunden ist, insoweit auch keine (dem Berufungswerber zum Nachteil gereichende) Bindung an den Ausspruch des Erstgerichts über das anzuwendende Strafgesetz nach § 295 Abs 1 erster Satz StPO (RIS-Justiz RS0118870).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hiezu erstatteten, unzulässig (vgl Schroll, WK-StPO § 24 Rz 18 mwN) die Nichtigkeitsbeschwerde ergänzenden Äußerung der Verteidigung bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Graz zur Erledigung der Berufung folgt (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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