Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und es wird die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.
Text
Begründung
Patrick G***** wurde am ***** 2003 in Bratislava (Pressburg), Slowakei, geboren. Seine Eltern waren und sind nicht verheiratet. Am 26. 9. 2008 beantragte der Vater beim Zentrum für den internationalen Rechtsschutz der Kinder und Jugend in Bratislava die Rückführung des Kindes an ihn an seine aus dem Kopf ersichtliche Wohnadresse in Bratislava nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ, BGBl 1988/512) mit dem Vorbringen, die Mutter habe den Minderjährigen am 30. oder 31. 8. 2008 ohne Zustimmung des Vaters nach Österreich genommen. Der Vater befürchte, die Mutter werde mit dem Minderjährigen nach Hongkong reisen. Der Minderjährige und die Mutter seien slowakische und bundesdeutsche Staatsbürger, der Vater sei slowakischer Staatsbürger. Der gewöhnliche Aufenthalt vor der behaupteten Verbringung des Minderjährigen nach Österreich sei in Bratislava, *****, in der Slowakei gewesen. In der Slowakei seien beide Eltern gemäß § 35 des slowakischen Familiengesetzes berechtigt, über wichtige Sachen in Angelegenheiten des Kindes nur zusammen zu entscheiden. Dazu gehöre auch die Übersiedlung des Kindes ins Ausland. Es sei daher das Sorgerecht des Vaters verletzt worden.
Nach dem dem Antrag beiliegenden rechtskräftigen Urteil des Bezirksgerichts Bratislava V vom 11. 3. 2008 (in slowakischer Sprache und in amtlicher deutscher Übersetzung) genehmigte das Gericht die Vereinbarung der Eltern, wonach der Minderjährige in die persönliche Obhut der Mutter anbefohlen wurde und sich der Vater zu Unterhaltszahlungen verpflichtete und berechtigt war, ein bestimmtes Besuchsrecht auszuüben.
Das Erstgericht gab ohne Anhörung der Antragsgegnerin (der Mutter) dem Antrag des Vaters statt und trug der Antragsgegnerin auf, den Minderjährigen unverzüglich an den Ort seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts, Bratislava *****, gegebenenfalls an den Aufenthaltsort des Vaters, Bratislava *****, zurückzuführen. Das Erstgericht ging von den Angaben des Vaters aus und folgerte unter Bezugnahme auf § 35 des slowakischen Familiengesetzes 2005, die Bestimmung des Aufenthalts des minderjährigen Kindes komme beiden Elternteilen gemeinsam zu. Der Tatbestand des widerrechtlichen Verbringens im Sinn des Art 3 HKÜ sei somit erfüllt. Gemäß Art 12 HKÜ sei die sofortige Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn weniger als ein Jahr seit Verbringen des Kindes vergangen sei. Ein Fall des Art 13 HKÜ, wonach eine Kindesrückgabe ausnahmsweise nicht anzuordnen sei, liege nicht vor.
Das von der Mutter angerufene Rekursgericht gab dem Rekurs nicht Folge. Die „persönliche Obsorge", die Gegenstand des genannten Urteils des Bezirksgerichts Bratislava V gewesen sei, sei mit der „alleinigen Obsorge" nicht gleichzusetzen. Mit diesem Urteil sei gemäß § 36 des Familiengesetzes das Sorgerecht geregelt worden. Das habe aber nichts daran geändert, dass für den Fall, dass sich Eltern über wesentliche Fragen der Ausübung der elterlichen Rechte und Pflichten nicht einigen könnten, das Gericht auf Antrag eines von ihnen zu entscheiden habe. Dies sei in § 35 Familiengesetz geregelt. Dort werde auch die Übersiedlung eines minderjährigen Kindes in das Ausland genannt. Daraus ergebe sich, dass die Mutter aufgrund der Tatsache, dass ihr das Kind zur persönlichen Pflege übergeben worden sei, noch nicht berechtigt sei, allein über den Aufenthaltsort des Minderjährigen zu bestimmen. Das Kind sei daher im Sinn des Art 3 HKÜ widerrechtlich verbracht worden.
Dem Rekursvorbringen der Mutter, wonach der Minderjährige bereits seit seiner Geburt in Österreich aufhältig sei, könne nicht gefolgt werden. Es lägen Bescheinigungen des Amtes für Arbeit, Soziales und Familie in Bratislava vor, aus denen hervorgehe, dass die Mutter für den Minderjährigen bis Mai 2008 Kindergeld bezogen habe. Weiters habe nach einer Bestätigung eines Kindergartens in Bratislava der Minderjährige diesen Kindergarten von Jänner 2006 bis zum 31. 8. 2008 besucht. Daraus ergebe sich, dass auch die Frist nach Art 12 HKÜ eingehalten worden sei.
Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu, da es an einer oberstgerichtlichen Entscheidung zur Frage fehle, ob für den Fall, dass einem Elternteil nach slowakischem Recht die persönliche Obsorge übertragen worden sei, dem anderen Teil Anträge nach § 35 des slowakischen Familiengesetzes nicht mehr zustehen.
Gegen den Beschluss des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag, die Beschlüsse der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass der Antrag des Kindesvaters abgewiesen werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Vater hat keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
Das Rekursgericht hat mit seiner Begründung des Zulässigkeitsausspruchs betreffend den Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG aufgezeigt: Der österreichische Oberste Gerichtshof ist nicht dazu berufen, einen Beitrag zur Auslegung ausländischen Rechts zu liefern, weshalb das Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu ausländischen Sachnormen in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage darstellt (RIS-Justiz RS0042948 [T3, T6, T14, T19, T20]). Eine solche liegt aber aus anderen unten behandelten Gründen vor. Die Mutter hat im Rekurs vorgebracht, ihr komme nach dem genannten Urteil des Bezirksgerichts Bratislava V die alleinige Obsorge zu. Sie habe den Minderjährigen nicht erst im August 2008 nach Österreich gebracht, dieser lebe vielmehr nahezu seit seiner Geburt, nämlich seit 18. 11. 2003, in Österreich und habe seit damals bei seiner Mutter den Hauptwohnsitz. Seit 2006 befinde sich der Minderjährige in Hainburg an der Donau, wobei nunmehr erreicht werden habe können, dass der Minderjährige dort auch den Kindergarten besuchen könne. Der Minderjährige habe in Hainburg seinen Freundes- und Bekanntenkreis und seine Mutter. Dem Rekurs liegen Bestätigungen aus dem österreichischen Lokalen und Zentralen Melderegister bei, aus denen sich ergibt, dass der Minderjährige und die Mutter seit 18. 11. 2003 an verschiedenen Orten in Österreich, nämlich in Wien, in Hainburg und in Bad Deutsch-Altenburg durchgehend, ausgenommen im Zeitraum 16. 1. 2007 bis 27. 2. 2007, bis dato gemeldet waren.
Den Rekursbehauptungen der Mutter und der vorgelegten Meldebestätigung steht das Neuerungsverbot gemäß § 49 Abs 2 AußStrG schon deshalb nicht entgegen, da die Mutter im erstinstanzlichen Verfahren nicht gehört wurde.
Im Revisionsrekurs hält die Mutter die Rekursbehauptungen sinngemäß
aufrecht.
Hiezu wurde erwogen:
1. Anzuwendendes materielles Recht:
Sowohl die Wirkungen der Unehelichkeit eines Kindes (§ 25 Abs 2 IPRG) als auch dessen Obsorge (§ 27 Abs 1 IPRG) sind nach dem Personalstatut des Kindes zu beurteilen (Verschraegen in Rummel, ABGB³ [2004] § 27 Rz 4 IPRG; vgl auch Schwimann, Internationales Privatrecht3 [2001] 168; 6 Ob 30/08t). Nach § 9 Abs 1 Satz 1 IPRG ist das Personalstatut einer natürlichen Person das Recht des Staates, dem diese Person angehört.
Nach den Angaben des Antragstellers ist der Minderjährigen Doppelstaatsbürger der Slowakei und der Bundesrepublik Deutschland. Für diesen Fall sieht § 9 Abs 1 Satz 3 IPRG vor, dass dann die Staatsangehörigkeit des Staates maßgebend ist, zu dem die stärkste Beziehung besteht. Nach dem insoweit übereinstimmenden Vorbringen beider Eltern ergibt sich daraus die Slowakei, während ein besonderer Bezug zu Deutschland nicht ersichtlich ist (vgl RIS-Justiz RS0009222; RS0009220 [T1]; RS0009229).
2. Sorgerecht im Sinn des Art 3 HKÜ:
Die Rechtsmittelwerberin legt keine stichhaltigen Argumente dar, weshalb die rekursgerichtlichen Ausführungen, beiden Eltern stehe nach slowakischem Recht die gemeinsame Obsorge - zumindest soweit sie die Frage der Übersiedlung ins Ausland betrifft - zu, unrichtig sein sollen. Sie kann auch keine gegenteilige slowakische Judikatur oder Literatur nennen.
Nach Art 3 HKÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Nach Art 5 HKÜ umfasst im Sinn des Übereinkommens das „Sorgerecht" die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen.
Wenn beide Eltern gemeinsam das Recht haben, den Aufenthaltsort des Minderjährigen zu bestimmen, wäre im Sinne der zitierten Bestimmungen des HKÜ das Sorgerecht nach diesem Übereinkommen verletzt worden, sofern das Vorbringen des Vaters zutrifft, wonach der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen vor der für 30. oder 31. 8. 2008 behaupteten Verbringung durch die Mutter tatsächlich in der Slowakei gewesen wäre.
3. Gewöhnlicher Aufenthalt:
Grundsätzlich kommt es - auch für die Anwendung von Art 3 HKÜ (1 Ob 220/02p; 2 Ob 80/03h) - für die Ermittlung des „gewöhnlichen Aufenthalts" nicht auf die Absicht, dauernd an einem Ort verbleiben zu wollen, an, aber doch darauf, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehungen macht. Maßgeblich sind dauerhafte Beziehungen einer Person zu ihrem Aufenthaltsort. Der Aufenthalt einer Person bestimmt sich ausschließlich nach tatsächlichen Umständen. Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein kein ausschlaggebendes Moment, wesentlich ist stets, ob Umstände vorliegen, die dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen. Ein „gewöhnlicher Aufenthalt" ist im Allgemeinen nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten anzunehmen, doch ist die genaue Prüfung der jeweiligen Umstände erforderlich, insbesondere wenn der Aufenthalt des Kindes mehr oder weniger zwangsweise begründet wurde. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch gegen den Willen eines Sorgeberechtigten begründet werden, weil es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt des Minderjährigen ankommt. Der entgegenstehende Wille des (anderen) Sorgeberechtigten wirkt sich aber rein tatsächlich häufig dahin aus, dass der Aufenthalt des Minderjährigen in dem anderen Staat noch nicht als auf Dauer angelegt angesehen werden kann. Das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts darf jedoch nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen längeren Zeitraum gewährt wurde und das Kind sozial integriert ist (1 Ob 220/02p mwN; vgl auch 2 Ob 80/03h).
4. Fehlende Feststellungen:
In diesem Licht reichen die Feststellungen der Vorinstanzen nicht aus, um den gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen bis zum 31. 8. 2008 beurteilen zu können: Dass die Mutter für den Minderjährigen bis Mai 2008 slowakisches Kindergeld bezogen hat, sagt insofern über den bis dahin bestehenden gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen nichts aus, weil nicht bekannt ist, welche Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug dieses Kindergelds gelten, insbesondere, ob dafür der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen in der Slowakei erforderlich ist. Darüber hinaus kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass - etwa durch unrichtige Angaben über den Wohnort des Minderjährigen - zu Unrecht in der Slowakei Kindergeld bezogen worden wäre. Dass nach der Bestätigung des Kindergartens in Bratislava der Minderjährige bis zum 31. 8. 2008 dort den Kindergarten besucht hat, ist ebenfalls kein zwingender Grund, den gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen bis zum angeblichen Entführungszeitpunkt in der Slowakei anzunehmen. Sollten die Mutter und der Minderjährige entsprechend den durch die Meldebestätigungen unterstützten Behauptungen schon seit 2006 in Hainburg gewohnt haben, wäre es durchaus möglich gewesen, dass sie den Minderjährigen von dort jeden Tag in das ca 10 km entfernte Bratislava in den Kindergarten gebracht und von dort am selben Tag auch wieder abgeholt hätte. Diesfalls wäre durchaus denkbar, dass der Minderjährige schon geraume Zeit vor dem 31. 8. 2008 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich gehabt hätte.
5. Schlussfolgerungen:
Feststellungen, die eine Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts des Minderjährigen vor dem behaupteten Entführungsdatum erlauben, sind entscheidungswesentlich: Sofern das Vorbringen der Mutter zutrifft, würde es schon an einem „Verbringen" im Sinn des HKÜ fehlen. Im Sinne der obigen Ausführungen wird das Erstgericht Beweise zum gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen vor dem 31. 8. 2008 aufnehmen, dazu ausreichende Feststellungen treffen und danach neuerlich entscheiden müssen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)