Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.566,36 EUR (darin enthalten 261,06 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Gegen den Kläger war beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein Strafverfahren wegen des Verdachts des Verbrechens des versuchten schweren Raubs nach §§ 15, 142 Abs 1, 143 zweiter und dritter Fall StGB anhängig. Der Kläger war verdächtig, am 17. 4. 2005 in Wien im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter versucht zu haben, mit Gewalt gegen eine Person unter Verwendung einer Waffe einem anderen eine fremde bewegliche Sache mit dem Vorsatz abzunötigen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern; er sei gemeinsam mit einem Mitangeklagten in ein Taxi eingestiegen, habe dem Taxilenker von hinten einen Arm und dem Hals gelegt und begonnen, ihn zu würgen, während der Mitangeklagte ein Messer gezogen und damit mehrfach auf den Taxilenker eingestochen habe. Dabei sollten beide Täter mit den Worten „money, money" die Herausgabe von Bargeld gefordert haben. Am 23. 4. 2005 verhängte der zuständige Untersuchungsrichter die Untersuchungshaft wegen der Haftgründe der Flucht-, Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr gemäß § 180 Abs 2 StPO. Die Untersuchungshaft wurde in Haftverhandlungen verlängert, jeweils unter Rechtsmittelverzicht des Klägers. Der Kläger wurde letztlich in der Hauptverhandlung vom 28. 2. 2006 aufgrund des Wahrspruchs der Geschworenen vom Schwurgerichtshof gemäß § 336 StPO freigesprochen und am selben Tag aus der Haft entlassen.
Der Kläger begehrte 47.100 EUR an Haftentschädigung sowie 1.190,48 EUR an Kosten des Aufforderungsschreibens. Er sei 314 Tage lang ungerechtfertigt in Verwahrungs- bzw Untersuchungshaft gewesen. Ein Betrag von 150 EUR pro Tag sei als ideeller Schadenersatz angemessen.
Die Beklagte wendete ein, dass zum Zeitpunkt der Verhängung der Verwahrungs- bzw Untersuchungshaft die belastenden Umstände gegenüber den entlastenden in der Überzahl gewesen seien und deshalb der Tatverdacht zu Recht als dringend angenommen worden sei. Die herangezogenen Haftgründe seien zufolge mangelnder Inlandsintegration, der Suchtgiftabhängigkeit sowie der Mittellosigkeit des Klägers zu Recht bejaht und aus diesen Gründen die Untersuchungshaft auch fortgesetzt worden. Im Hinblick auf die Strafdrohung des angelasteten Delikts und eine einschlägige Vorstrafe des Klägers sei die verhängte Haft auch nicht unverhältnismäßig gewesen; sie habe überdies dem Schutz der Allgemeinheit gedient. Darüber hinaus habe es der Kläger unterlassen, die Beschlüsse über die Verhängung bzw Fortsetzung der Haft zu bekämpfen, weshalb er einen allfälligen Schaden selbst und allein verschuldet habe.
Das Erstgericht sprach dem Kläger 31.400 EUR sA zu und wies das Mehrbegehren - unangefochten - ab. Da der Kläger aufgrund des Wahrspruchs der Geschworenen freigesprochen worden sei, sei bei der Ermessensentscheidung nach § 3 Abs 2 StEG der gegen ihn vorgelegene Tatverdacht nicht zu berücksichtigen. Die Unterlassung des Einbringens von Rechtsmitteln gegen die Verhängung der Haft bzw deren Fortsetzung begründe kein Mitverschulden im Sinne des § 4 StEG. Der Kläger sei aufgrund des Freispruchs durch die 314 Tage dauernde Haft in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden. Dafür stehe ihm ein Betrag von 100 EUR pro Tag zu.
Das Berufungsgericht bestätigte den in der Hauptsache allein angefochtenen klagestattgebenden Teil dieses Urteils. Ein Fall notwendiger Delegierung nach § 9 Abs 4 AHG sei schon deshalb nicht vorgelegen, weil der Kläger seinen Anspruch nur auf den Tatbestand der ungerechtfertigten Haft (§ 2 Abs 1 Z 2 StEG) und schon gar nicht auf eine fehlerhafte Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien über den Einspruch des Mitangeklagten gegen die Anklage gestützt habe. Es läge ein Fall gesetzmäßiger Haft vor, wobei der Freispruch des Klägers gemäß § 336 StPO - obwohl in § 3 Abs 2 StEG 2005 nicht ausdrücklich genannt - dem dort enthaltenen nach § 259 Z 3 StPO insoweit gleichgestellt werden müsse, also auch hier die Verdachtslage nicht berücksichtigt werden dürfe. Dass der Untersuchungsrichter zu Recht die „angezogenen" Haftgründe wegen mangelnder Inlandsintegration, Suchtgiftabhängigkeit und Mittellosigkeit des Klägers bejaht habe, führe zu keinem Ausschluss bzw keiner Minderung der Haftung der Beklagten, sei doch hier allein der Fall der zwar gesetzmäßigen, aber ungerechtfertigten Haft nach § 2 Abs 1 Z 2 StEG zu untersuchen und nicht jener der gesetzwidrigen Haft. Über den Kläger sei die Untersuchungshaft unter anderem wegen Tatbegehungsgefahr, also als vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit verhängt worden. Dieser Haftgrund enthalte vier verschiedenen Varianten (§ 180 Abs 2 Z 3 lit a bis d), darunter die in lit d geregelte Tatausführungsgefahr. In den Gesetzesmaterialien zum StEG werde als Grund für eine allfällige Minderung des Ersatzanspruchs die sonst drohende Amtshaftung gegenüber einer von der Tatausführungsgefahr betroffenen konkreten Person genannt. Im Fall der ungerechtfertigten Haft sei daher eine Minderung bzw ein Ausschluss des Entschädigungsanspruchs nur bei Verhängung der Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit d StPO (Tatausführungsgefahr) vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, nicht dagegen - wie im vorliegenden Fall - bei Verhängung der Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht berechtigt.
Soweit die Revisionswerberin die Nichtigkeit des Verfahrens erster Instanz releviert, ist ihr zu erwidern, dass das Berufungsgericht das Vorliegen einer solchen Nichtigkeit ausdrücklich verneint hat. Die Wahrnehmung dieser behaupteten Nichtigkeit ist im Verfahren dritter Instanz nicht mehr möglich (RIS-Justiz RS0042925, RS0042981).
Die Revision sieht aber auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien wegen Verstoßes gegen § 9 Abs 4 AHG mit Nichtigkeit gemäß § 477 Abs 1 Z 1 ZPO behaftet. Dem ist nicht zu folgen:
Wie bereits das Berufungsgericht dargelegt hat, wird im vorliegenden Fall der Ersatzanspruch nicht aus einer Verfügung des Präsidenten eines Gerichtshofs erster Instanz oder eines Oberlandesgerichts oder eines kollegialen Beschlusses eines dieser Gerichtshöfe abgeleitet, die nach den Bestimmungen des AHG unmittelbar oder im Instanzenzug zuständig wären - also des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien oder des Oberlandesgerichts Wien -, sondern aus einer Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Wien. Dieses Gericht ist aber nach den Bestimmungen des AHG weder unmittelbar noch im Instanzenzug für die Entscheidung über den Ersatzanspruch zuständig, sodass ein Fall der notwendigen Delegierung nach § 9 Abs 4 AHG nicht vorliegt. Insoweit die Revisionswerberin meint, die Klage stütze sich auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien (über den Einspruch des Mitangeklagten gegen die Anklageschrift), entfernt sie sich vom Klagsvorbringen.
Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wiederholt die Beklagte ihre Berufungsargumente und wendet sich gegen die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach im Fall eines Freispruchs die Ermessensklausel des § 3 Abs 2 StEG nur bei Verhängung der Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit d StPO (Tatausführungsgefahr) anwendbar sei. Sie meint, dass weitere Konstellationen denkbar seien, die die Anwendung der Ermessensklausel erforderten, ohne dass die Untersuchungshaft explizit auf die Gefahr der Ausführung der angedrohten Tat gegründet worden sei. Die vom Berufungsgericht zitierten Erläuterungen zur Regierungsvorlage seien nur beispielhaft zu verstehen und sei die Ermessensklausel immer dann anzuwenden, wenn die Untersuchungshaft auch dem Schutz der Allgemeinheit vor „befürchteten Prognosetaten" diene. Auch in solchen Fällen seien nämlich Amtshaftungsansprüche Dritter denkbar.
Das Strafrechtliche Entschädigungsgesetz 2005 unterscheidet Ersatzansprüche aufgrund gesetzwidriger und ungerechtfertigter Haft sowie nach Wiederaufnahme. In den Fällen der ungerechtfertigten Haft - also wenn jemand wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung festgenommen oder in Haft gehalten, in der Folge aber freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt wurde - und der Wiederaufnahme kann gemäß § 3 Abs 2 StEG der Ersatz unter Bedachtnahme auf die Verdachtslage zur Zeit der Festnahme oder Anhaltung, auf die Haftgründe und die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, gemindert oder auch ganz ausgeschlossen werden. Ist allerdings ein Freispruch nach § 259 Z 3 StPO erfolgt, kann nach § 3 Abs 2 Satz 2 StEG dabei die Verdachtslage nicht berücksichtigt werden. Ein Freispruch nach § 336 StPO wird in dieser Bestimmung nicht erwähnt. Nach § 336 StPO ist mit freisprechendem Urteil vorzugehen, wenn die Geschworenen die Schuldfragen verneint oder Zusatzfragen (§ 313 StPO) bejaht haben. Eine Zusatzfrage ist zu stellen, wenn in der Hauptverhandlung Tatsachen vorgebracht wurden, die - als erwiesen angenommen - die Strafbarkeit ausschließen oder aufheben würden. Sämtliche Fälle des Freispruchs nach § 336 StPO decken sich daher mit den Fällen des § 259 Z 3 StPO, bei denen nach § 3 Abs 2 StEG die Verdachtslage nicht berücksichtigt werden darf. Die letztgenannte Regelung wurde eingeführt, um die Grundrechtskonformität des StEG im Lichte der Judikatur des EGMR zu gewährleisten, nach der es nach einem rechtskräftigen Freispruch mit der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK unvereinbar ist, den Fortbestand der Verdachtslage zu prüfen (1 Ob 169/07w mwN). Da dies genauso für freisprechende Erkenntnisse des Geschworenengerichts nach § 336 StPO gilt, ist davon auszugehen, dass die Nichterwähnung dieser Bestimmung im § 3 Abs 2 Satz 2 StEG eine unbeabsichtigte Lücke darstellt, die eine analoge Anwendung des § 3 Abs 2 Satz 2 StEG auch auf den Fall des Freispruchs nach § 336 StPO rechtfertigt.
Nach den Gesetzesmaterialien zum StEG, (618 BlgNR 22 GP , 9), wäre es verfehlt, wenn jede einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung vorausgegangene Festnahme oder Anhaltung „automatisch" zu einer Haftung des Bundes führte. Sei ein Freispruch etwa darauf zurückzuführen, dass der Verwertung einer Aussage ein nachträgliches „Verwertungsverbot" entgegenstehe, dass ursprünglich vorhandene Beweismittel verloren gingen oder der Freispruch allein aus formalen Gründen erfolge, könne eine Entschädigung unangemessen sein. Ebenso sei eine (volle) Haftung des Bundes fragwürdig, wenn der Freiheitsentzug zur Verhinderung weiterer Schäden, etwa der Gefahr der Ausführung einer angedrohten Tat, notwendig gewesen sei und der Bund andernfalls - wie zB im Fall SZ 62/73 - Amtshaftungsansprüchen späterhin geschädigter Dritter ausgesetzt werde. Für solche und anderer Fälle solle dem Richter eine Mäßigungs- oder Ausschlussbefugnis eingeräumt werden. Bei der Ermessensentscheidung dürfe freilich nach einem Freispruch nach § 259 Z 3 StPO nicht auf den „bestandenen oder noch bestehenden" Tatverdacht eingegangen werden. In einem solchen Fall könnten aber die Haftgründe und die Gründe für den Freispruch oder die Verfahrenseinstellung gewertet und die Haftpflicht des Bundes gemindert oder ausgeschlossen werden.
Diese Ausführungen vermeiden eine klare Trennung zwischen den entschädigungsrechtlichen Rechtsfolgen bei „qualifizierten" Freisprüchen nach § 259 Z 3 StPO und anderen Freisprüchen bzw Verfahrenseinstellungen und berücksichtigen daher unzureichend, dass der Gesetzestext selbst bei Freisprüchen nach § 259 Z 3 StPO und - wie oben dargelegt analog solchen nach § 336 StPO - jegliche Berücksichtigung der Verdachtslage verbietet. Die in § 3 Abs 2 StEG gesondert angeführten gesetzlichen Haftgründe reichen aber für sich alleine nie für die Anhaltung aus, sondern müssen immer zusätzlich zu einem bestehenden dringenden Tatverdacht vorliegen (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 Rz 1 und 6). Wenn eben dieser Tatverdacht nach einem Freispruch nach § 259 Z 3 StPO aber nicht berücksichtigt werden darf, können die Haftgründe für sich genommen nicht zur Mäßigung der Entschädigung nach einem iSd § 3 Abs 2 StEG „qualifizierten" Freispruch führen, ohne mit dem Verbot der Berücksichtigung der in nicht trennbarem Zusammenhang stehenden Verdachtslage in Konflikt zu geraten. Sämtliche Varianten des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr sind nur dann taugliche Gründe für die Verhängung der Untersuchungshaft, wenn überhaupt ein dringender Tatverdacht vorliegt. Ohne diesen können sie eine Untersuchungshaft weder zur Gänze noch zum Teil rechtfertigen und daher auch nicht eine Minderung der Entschädigung für ungerechtfertigte Haft.
Die Ausführungen in der Revision, dass die Haftgründe zufolge mangelnder Inlandsintegration, Mittellosigkeit und Suchgiftabhängigkeit des Klägers zu Recht angenommen worden seien, sind darüber hinaus auch deshalb nicht geeignet zu einer Mäßigung zu gelangen, weil damit lediglich dargetan wird, dass „nur" ein Fall der ungerechtfertigten - und nicht der gesetzwidrigen - Haft iSd StEG vorliegt.
Im von der Beklagten betonten Schutz der Allgemeinheit durch die im vorliegenden Fall verhängte Untersuchungshaft ist ein von der Verdachtslage unabhängiger Grund, der zu einer Minderung der Haftung der beklagten Partei nach § 3 Abs 2 StEG führen könnte, nicht zu erblicken.
Da die rechtliche Beurteilung auf Basis des zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung gegebenen Sachverhalts zu erfolgen hat, kommt die Berücksichtigung der nach einer Mitteilung der Beklagten lange nach diesem Zeitpunkt - erst nach Einbringen der Revision - erfolgten Anrechnung der Haft auf eine weitere Verurteilung des Klägers nicht in Betracht.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO, wobei gemäß § 23 Abs 5 RATG nur ein Einheitssatz von 50 % zusteht.
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