OGH 10ObS13/08x

OGH10ObS13/08x22.4.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Franz Kisling (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj Paul S*****, geboren am 29. September 2000, *****, vertreten durch Mag. Dr. Alice Hoch, Rechtsanwältin in Laxenburg, gegen die beklagte Partei Land Niederösterreich, Landhausplatz 1, 3100 St. Pölten, wegen Pflegegeld, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. November 2007, GZ 10 Rs 161/07f-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. Juli 2007, GZ 15 Cgs 6/07k-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei von 1. 4. 2006 bis 30. 9. 2009 Pflegegeld der Stufe 5 in Höhe von 799,30 EUR monatlich zu gewähren und die mit 689,86 EUR (darin 114,98 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Prozesskosten zu ersetzen. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ein über Stufe 5 hinausgehendes Pflegegeld zu gewähren, wird abgewiesen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 485,86 EUR (darin 80,98 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 333,12 EUR (darin 55,52 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 29. 9. 2000 geborene Kläger leidet von Geburt an an der seltenen Erbkrankheit Osteogenesis imperfecta, deren Hauptsymptom eine abnorm hohe Knochenbrüchigkeit ist. Die Erkrankung wird daher umgangssprachlich auch als „Glasknochenkrankheit" bezeichnet. Beim Kläger treten als Symptome erhöhte Knochenbrüchigkeit sowie Verminderung der Knochendichte, blaues Skleren, Überstreckbarkeit der Gelenke, verstärktes Schwitzen sowie eine Störung der Zähne (Dentinogenesis imperfecta) auf.

Aufgrund seiner Erkrankung benötigt der Kläger Hilfe sowohl bei der täglichen Körperpflege als auch bei der gründlichen Körperpflege. Eine Ganzkörperpflege in der Badewanne sowie das Waschen der Haare und ähnliches erfolgen nur gemeinsam oder unter Aufsicht der Mutter, da extreme Verletzungsgefahr durch Ausrutschen besteht. Im Rahmen der täglichen Körperpflege ist eine besondere Haut- und Nagelpflege notwendig, da die Haut und die Fingernägel sehr empfindlich und rissig sind und es hier aufgrund der gestörten Infektabwehr auch zu einer vermehrten Entzündungsneigung kommt. Weiters muss die Zahnpflege von der Mutter durchgeführt werden, weil aufgrund der defekten Ausbildung des Zahnschmelzes eine spezielle Pflege nötig ist.

Der Kläger benötigt auch Hilfe beim Einnehmen von Mahlzeiten. Er kann zwar grundsätzlich selbst essen, soll aber kein Metallbesteck verwenden, da es durch die Härte des Bestecks zu Verletzungen des defekten Zahnschmelzes kommt. Er wird daher praktisch ausschließlich von der Mutter mit einem Plastiklöffel mit breiiger Nahrung gefüttert.

Der Kläger benötigt Hilfe beim Verrichten der Notdurft. Er kann zwar selbständig die Notdurft verrichten und ist auch kontinent, muss aber von einer Betreuungsperson auf die Toilette begleitet werden. Hilfe ist auch beim An- und Auskleiden notwendig, weil durch die Überstreckbarkeit der Gelenke und aufgrund des schwachen Bindegewebes beim An- und Ausziehen akute Luxationsgefahr für die Gelenke besteht. Der Kläger muss täglich mehrmals an- und ausgezogen werden, da er zweimal pro Tag eine Schwimmtherapie durchführt. Das Ziel der Therapie ist, die Muskeln allmählich zu stärken und dadurch eine bessere Haltung sowie eine Stärkung der Knochen herbeizuführen. Der Kläger benötigt Hilfe bei der Einnahme von Medikamenten, die er über den Tag verteilt unter Aufsicht und Kontrolle seiner Mutter einnimmt. Erforderlich ist auch Mobilitätshilfe im engeren und im weiteren Sinn. Grundsätzlich kann er sich zwar alleine fortbewegen; allerdings ist aufgrund seiner Erkrankung jeder Sturz praktisch mit einer Fraktur verbunden, weshalb entsprechende Vorsichtsmaßnahmen unabdingbar sind. Er bewegt sich daher de facto meistens an der Hand der Mutter.

Während der Nacht muss der Kläger zwei- bis dreimal kontrolliert werden, weil die Möglichkeit besteht, dass er sich in der Bettwäsche so verfängt oder eine solche Schlafposition einnimmt, dass eine Luxationsgefahr für seine Gelenke bestehen könnte. Gegebenenfalls wird er im Rahmen solcher Kontrollen auch umgelagert. Der Kläger benötigt bei folgenden Verrichtungen des täglichen Lebens eine Hilfe im monatlichen Ausmaß von durchschnittlich:

Tägliche und gründliche Körperpflege 25 Stunden

Einnehmen von Mahlzeiten 50 Stunden

Verrichten der Notdurft 30 Stunden

An- und Auskleiden 25 Stunden

Einnahme von Medikamenten 3 Stunden

Mobilitätshilfe im engeren Sinn 45 Stunden

Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 10 Stunden

Gesamtaufwand pro Monat 188 Stunden

In den Feststellungen ist zwar nicht ausdrücklich angeführt, ob es sich dabei um den „Mehraufwand" im Vergleich zu einem gesunden Kind handelt; aus dem Zusammenhang ist dies aber abzuleiten. Zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen während der Tages- und der Nachtzeit sind nicht erforderlich. Sehr wohl ist aber eine dauernde Bereitschaft bzw dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich notwendig.

Mit Bescheid vom 14. 11. 2006 sprach das beklagte Land Niederösterreich dem Kläger für den Zeitraum von 1. 4. 2006 bis 30. 9. 2009 Pflegegeld der Stufe 3 zu.

Das Erstgericht sprach dem Kläger für den im Bescheid genannten Zeitraum Pflegegeld der Stufe 4 in Höhe von 632,70 EUR (abzüglich 60 EUR vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder) zu und wies das auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 6 gerichtete Mehrbegehren ab. Angesichts des durchschnittlichen Pflege-(mehr-)bedarfs von mehr als 180 Stunden stehe dem Kläger jedenfalls Pflegegeld der Stufe 4 zu. Ein Anspruch auf höheres Pflegegeld sei aus folgenden Gründen zu verneinen: Zwar sei beim Kläger die dauernde Bereitschaft und sogar die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in seiner unmittelbaren Nähe erforderlich. Allerdings sei auch bei der Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen der Pflegegeldstufen 5 und 6 ein Vergleich zu einem gleichaltrigen nicht behinderten Kind anzustellen. Da gerade bei Kleinkindern vor ihrem Schuleintritt das Erfordernis der dauernden Bereitschaft bzw Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich naturgemäß immer gegeben sei, würden diese Formen der qualifizierten Pflege zur Begründung eines Anspruchs auf die Pflegegeldstufen 5 und 6 regelmäßig ausscheiden. Wie oft im Einzelfall tatsächlich ein Eingreifen einer Betreuungsperson notwendig sei, sei nicht entscheidungsrelevant.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis einer einwandfreien Beweiswürdigung und verwies auf die zutreffende rechtliche Beurteilung des Erstgerichts. Da die in der Nacht durchzuführenden Kontrollen zeitlich koordiniert werden könnten und dafür auch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson nicht erforderlich sei, fehle es an den Voraussetzungen für die Pflegegeldstufe 6. Im Übrigen sei auch bei einem gesunden 6- bis 7-jährigen Kind die dauernde Bereitschaft (und sogar Anwesenheit) einer Pflegeperson im Wohnbereich grundsätzlich erforderlich, sodass auch die Voraussetzungen der Pflegegeldstufe 5 nicht erfüllt seien.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision sei mangels einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat die ihr freigestellte Revisionsbeantwortung nicht erstattet.

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (10 ObS 165/06x = ARD 5770/7/2007) zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Pflegegeld der Stufe 5 abgewichen ist; sie ist auch teilweise berechtigt.

Die Revisionsausführungen gehen im Wesentlichen in zwei Richtungen:

a) Im Hinblick auf die Konsequenzen der Glasknochenkrankheit (hochkonzentrierte Kontrolle und Überwachung des Kindes in jeder Lebenslage; Betreuung und Pflege rund um die Uhr und nicht nur eine „Beaufsichtigung" wie bei einem gesunden gleichaltrigen Kind) bestehe ein „außerordentlicher Pflegebedarf" (gemeint vermutlich ein „außergewöhnlicher Pflegeaufwand" im Sinne der Stufe 5);

b) aufgrund des extrem hohen Verletzungsrisikos sei sowohl tagsüber als auch nachts ein unkoordinierbarer Pflegeaufwand gegeben.

Dazu hat der Senat erwogen:

1. Nach der Judikatur ist bei einem Kind auch bei der Beurteilung der (neben dem über 180 Stunden pro Monat hinausgehenden Pflegebedarf) weiteren Voraussetzungen der Pflegegeldstufen 5 und 6 der Vergleich zu einem gleichaltrigen nicht behinderten Kind anzustellen, was in der Vergangenheit dazu führte, dass diese Formen der qualifizierten Pflege zur Begründung eines Anspruchs auf die Pflegegeldstufen 5 und 6 regelmäßig ausschieden (zB 10 ObS 102/01z = SSV-NF 16/23).

2. Zum Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6:

Dem Berufungsgericht ist zu folgen, dass es an der Voraussetzung zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 NÖ PGG), fehlt. In Betracht käme allenfalls das Erfordernis der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht wegen der Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 NÖ PGG). Dieses Erfordernis ist aber gerade bei Kleinkindern etwa bis zum Schuleintritt immer gegeben, sodass diese Form der qualifizierten Pflege zur Begründung eines Anspruchs auf die Pflegegeldstufe 6 regelmäßig ausscheidet (Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld [2004] Rz 395).

3. Zum Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5:

In der Literatur wurde Kritik an der „bedenklich engen Auslegung" des Begriffs des außergewöhnlichen Pflegeaufwands und der zu restriktiven Judikatur des Obersten Gerichtshofs geübt; bei weiterer Interpretation als nach § 6 EinstV wäre ein solcher Pflegebedarf durchaus auch bei Kindern denkbar (Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld Rz 395 FN 691).

Der Oberste Gerichtshof hat sich in der Entscheidung 10 ObS 165/06x (= ARD 5770/7/2007; siehe auch 10 ObS 106/07x) von der restriktiven früheren Judikatur gelöst. Demnach ist die Stufe 5 allen Pflegebedürftigen zugänglich, bei denen zum funktionsbezogen ermittelten, rein zeitmäßig bestimmten Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden besondere - die Pflege zusätzlich erschwerende - qualifizierende Elemente hinzutreten, die aber noch nicht ausreichen, die Voraussetzungen für die Stufen 6 oder 7 zur Gänze zu erfüllen (RIS-Justiz RS0121581).

Diese Voraussetzung ist auch beim Kläger erfüllt, da er zum einen in jeder Nacht im Hinblick auf die Luxationsgefahr zwei- bis dreimal kontrolliert werden muss und zum anderen eine Bewegung untertags praktisch nur an der Hand der Mutter möglich ist; dieser Aufwand geht über die aus dem Titel Mobilitätshilfe im engeren Sinn angerechneten 45 Stunden (monatlich) weit hinaus. Diese die Intensität der Pflege im Vergleich zum Regelfall verstärkenden Elemente sind als „außergewöhnlicher Pflegeaufwand" im Sinne der Pflegegeldstufe 5 zu qualifizieren.

In Stattgebung der Revision des Klägers sind daher die Urteile der Vorinstanzen im Sinne des Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 5 (859,30 EUR monatlich abzüglich des Anrechnungsbetrages von 60 EUR gemäß § 6 Abs 1 NÖ PGG) abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.

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