OGH 1Ob226/07b

OGH1Ob226/07b26.2.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Univ.-Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau, Dr. E. Solé und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. Georg T*****, vertreten durch Prof. Dr. Kurt Dellisch und Dr. Josef Kartusch, Rechtsanwälte in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei *****krankenanstalten-*****gesellschaft, *****, vertreten durch Dr. Ernst Maiditsch M.B.L.-HSG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Klagenfurt, wegen 5.000 EUR sA und Feststellung (Streitwert 2.100 EUR), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Berufungsgericht vom 13. Juli 2007, GZ 1 R 165/07w-91, womit das Urteil des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 27. März 2007, GZ 22 C 395/05d-83, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Urteilsfällung - allenfalls nach Verfahrensergänzung - aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger erlitt am 9. Juni 2003 (Pfingstmontag) einen Hörsturz mit einem völligen Hörverlust am rechten Ohr und starkem Schwindel. Er wurde an diesem Tag in der Notfallambulanz der HNO-Abteilung des von der Beklagten betriebenen Krankenhauses vom diensthabenden Oberarzt behandelt. Der Kläger teilte diesem mit, dass er vermutlich einen Hörsturz erlitten habe, rechts nichts mehr höre, unter Schwindel leide und einen leichten Schmerz im Felsenbein verspüre. Der Oberarzt reinigte das rechte Ohr mit einem Sauger, untersuchte das Trommelfell und führte Stimmgabeltests nach Weber und Rinne durch. Obwohl die Ergebnisse der Stimmgabeluntersuchungen nicht in Einklang zu bringen waren, führte er trotz Ersuchens des Klägers keine audiometrische Untersuchung durch, untersuchte den vom Kläger geschilderten Schwindel nicht weiter, sondern diagnostizierte - unrichtig - eine Entzündung des äußeren Gehörgangs und legte zur Behandlung einen Medikamentenstreifen ein. Er erklärte dem Kläger, dass er (allenfalls) am nächsten Tag eine Audiometrie in seiner Privatordination durchführen könne. Eine stationäre Aufnahme des Klägers veranlasste er nicht. Am 10. Juni 2003 suchte der Kläger wegen seiner anhaltenden Beschwerden einen anderen Facharzt auf, der nach Durchführung einer Reintonaudiometrie den bereits bei der Untersuchung vom Vortag vorgelegenen Hörsturz diagnostizierte. Der Facharzt wies den Kläger noch am selben Tag in eine Privatklinik ein, wo sofort mit einer Infusionsbehandlung (mit Cortison, kombiniert mit anderen Medikamenten) begonnen wurde. Trotz dieser Behandlung konnte die vor dem Hörsturz nicht beeinträchtigt gewesene Hörfähigkeit des Klägers am rechten Ohr nicht mehr zur Gänze hergestellt werden. Der Kläger leidet nunmehr am rechten Ohr an einer hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 70 %. Der Kläger begehrte von der Beklagten Schmerzengeld im Betrag von 5.000 EUR sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden aus der fehlerhaften Behandlung vom 9. 6. 2003. Die vom Kläger gegenüber dem bei der Beklagten beschäftigten Ambulanzarzt geschilderten Symptome (kompletter Hörverlust rechts und starker Schwindel) hätten eine sofortige abschließende Diagnosestellung und eine sofortige stationäre Behandlung mit Infusionen erforderlich gemacht. Mit Hilfe einer noch am 9. 6. 2003 vorzunehmenden Infusionstherapie wäre die Stoffwechselsituation der Sinneszellen des Innenohrs gefördert worden und der vom Kläger erlittene Hörsturz wäre besser oder sogar vollständig ausgeheilt.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen eines Behandlungsfehlers. Es sei nach dem anerkannten Stand der Wissenschaft ausreichend gewesen, den Kläger auf eine fachärztliche Untersuchung zur weiteren Abklärung der Beschwerden auf den nächsten Tag zu verweisen. Die nicht mehr vollständige Wiederherstellung des Hörvermögens des Klägers sei ausschließlich auf die von Beginn an ungünstige Prognose zurückzuführen und daher als schicksalhaft anzusehen. Selbst bei sofortiger Einleitung einer Infusionstherapie wäre eine vollständige Wiederherstellung des Gehörs des Klägers nicht möglich gewesen. Das Schmerzengeldbegehren sei zudem überhöht.

Das Erstgericht wies - im zweiten Rechtsgang - das Klagebegehren zur Gänze ab. Die Unterlassung der Vornahme einer Audiometrie sowie der sofortigen Einleitung der gebotenen Infusionstherapie stelle einen Behandlungsfehler dar, der zwar zu einer Verminderung der Heilungschancen, aber zu keiner wesentlichen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (= Beeinträchtigung des Hörvermögens) geführt habe, sodass dem Kläger keine Schadenersatzansprüche zustünden. Er hätte beweisen müssen, dass das Unterlassen des sofortigen Beginns der Infusionsbehandlung zu einer wesentlichen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Hörminderung geführt habe. Die unterlassene stationäre Aufnahme des Klägers sowie der am 9. 6. 2003 unterlassene Beginn der Infusionstherapie hätten die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nach den Feststellungen aber nur unwesentlich erhöht.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinne einer Klagestattgebung ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Der Kläger habe nachzuweisen, dass sich bei sofortiger Durchführung der Infusionstherapie die (jetzt) bestehende Innenohrschwerhörigkeit im Umfang von 70 % mit großer Wahrscheinlichkeit weiter verbessert hätte. Aufgrund der Feststellung, dass bei einem Beginn der Infusionstherapie (bereits) am 9. 6. 2003 die Heilungschance größer gewesen wäre, das heißt die Chance der Wiederherstellung des Hörvermögens des Klägers bzw die Chance der Besserung des Hörverlusts eine bessere gewesen wäre, sei dem Kläger dieser Beweis gelungen. Ein weiterer Beweis könne vom Kläger nicht verlangt werden. Umgekehrt sei der Beklagten der ihr von der Rechtsprechung aufgebürdete volle Beweis, dass die erwiesene Vertragsverletzung im konkreten Fall für die nachteiligen Folgen mit größter Wahrscheinlichkeit unwesentlich geblieben sei, nicht gelungen. Die erstgerichtliche Feststellung, dass die unterlassene stationäre Aufnahme des Klägers sowie der unterlassene Beginn der Infusionstherapie am 9. 6. 2003 die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (= Beeinträchtigung des Hörvermögens) nur unwesentlich erhöht habe, welche gar nicht zur Frage, ob bei der gebotenen hypothetischen Betrachtung der Schaden bei Durchführung der Infusionstherapie geringer gewesen wäre, Stellung nehme, sondern nur zum Ausdruck bringe, dass die Unterlassung die Wahrscheinlichkeit des - bereits eingetretenen - Schadens nur unwesentlich erhöhe, bewirke nicht etwa „das Misslingen des dem Kläger obliegenden Kausalitätsnachweises, sondern das Misslingen des der Beklagten obliegenden Nachweises der Unwesentlichkeit des von ihr zu verantwortenden Fehlers".

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig und mit ihrem Aufhebungsantrag berechtigt.

Den Beweis für die Verursachung des Schadens hat grundsätzlich der Geschädigte zu tragen, und zwar auch in den Fällen des § 1298 ABGB. Im Arzthaftungsbereich ist die Feststellung des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen Eintritt des Schadens und fehlerhafter Heilbehandlung jedoch äußerst schwierig, da die Kausalität bestimmter Umstände für den Eintritt gesundheitsschädigender Folgen naturwissenschaftlich nicht immer mit Sicherheit beweisbar ist. Aufgrund der Schwierigkeiten, einen exakten Beweis zu erbringen, stellt die judizielle Praxis bei möglicherweise mit Behandlungsfehlern zusammenhängenden Gesundheitsschäden von Patienten geringere Anforderungen an den Kausalitätsbeweis, zumal ein festgestellter schuldhafter Behandlungsfehler auf einen nachteiligen Kausalverlauf geradezu hinweist. Für den vom Patienten zu führenden Beweis der Kausalität des ärztlichen Behandlungsfehlers genügt eine (sehr) hohe Wahrscheinlichkeit. Der Arzt haftet also bereits bei hochwahrscheinlicher und nicht erst bei unzweifelhafter Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für den vom Patienten erlittenen Körperschaden (Juen, Arzthaftungsrecht2, 236 f mwN). Hat der Geschädigte das Entstehen des Schadens durch das Verhalten des Arztes überwiegend wahrscheinlich gemacht, so ist es Sache des Arztes bzw des für ihn Haftenden, nachzuweisen, dass nicht sein Verhalten, sondern eine andere Ursache den Schaden - zumindest ebenso wahrscheinlich - ausgelöst hat. Hat somit der Geschädigte einen typischen Geschehensablauf wahrscheinlich gemacht, obliegt der Gegenbeweis für einen anderen Tatsachenzusammenhang dem Beklagten (9 Ob 34/00s; vgl 3 Ob 51/98s; RIS-Justiz RS0022719).

Insbesondere dann, wenn das schädigende Verhalten in Unterlassungen besteht, genügt ein sehr hoher Grad von Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs für die Haftung (3 Ob 560/84 mwN).

Zum Arzthaftungsrecht judiziert der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass für den dem Kläger obliegenden Beweis der Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden der Nachweis genügt, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler der Ärzte nicht bloß unwesentlich erhöht wurde. Dem Beklagten (Anstaltsträger) obliegt in diesem Fall der volle Beweis, dass die erwiesene Vertragsverletzung im konkreten Fall für die nachteiligen Folgen mit größter Wahrscheinlichkeit unwesentlich geblieben sei (SZ 63/90, EvBl 1993/32; JBl 1999, 246). Im vorliegenden Fall stellte das Erstgericht einerseits fest, dass die unterlassene stationäre Aufnahme des Klägers sowie der unterlassene Beginn der Infusionstherapie am 9. 6. 2003 die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (= Beeinträchtigung des Hörvermögens) nur unwesentlich erhöht habe. Andererseits stellte es fest, dass mit dem Beginn der Infusionstherapie am 9. 6. 2003 eine größere Heilungschance des Klägers verbunden gewesen wäre. Nicht festgestellt werden könne, in welchem Umfang die aufgrund des Hörsturzes verursachte Hörbeeinträchtigung des rechten Ohrs des Klägers geringer gewesen wäre, wäre die Infusionsbehandlung bereits am 9. 6. 2003 begonnen worden und nicht erst am 10. 6. 2003. Schließlich führte das Erstgericht aus, es könne nicht festgestellt werden, ob der am 9. 6. 2003 unterlassene Beginn der Infusionstherapie mit größter Wahrscheinlichkeit für die verbleibende Innenohrschwerhörigkeit unwesentlich geblieben sei. Diese - vom Berufungsgericht übernommenen - Feststellungen stehen zueinander im Widerspruch, sodass eine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts nicht möglich ist. Die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen ist demnach unumgänglich. Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren - allenfalls nach Ergänzung oder Neudurchführung des Sachverständigenbeweises - eindeutige, nicht in sich widersprüchliche Feststellungen dahingehend zu treffen haben, ob der ärztliche Behandlungsfehler eine wesentliche Verringerung der Heilungschance des Klägers bewirkte oder ob er die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nur unwesentlich erhöhte. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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