Spruch:
In der Strafsache AZ 11 U 207/06w des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien verletzt der Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht vom 26. März 2007, AZ 132 Bl 34/07i (ON 34), § 90a Abs 1 und Abs 2 Z 2 StPO.
Dieser Beschluss sowie das darauf beruhende Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 12. Juni 2007, GZ 11 U 207/06w-36, werden aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien aufgetragen, neuerlich über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 16. Februar 2007 (ON 29) zu entscheiden.
Text
Gründe:
Im Verfahren AZ 11 U 207/06w des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien beantragte der Bezirksanwalt die Bestrafung des am 13. Februar 1923 geborenen Dr. Kurt M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, weil dieser am 16. Jänner 2006 in Wien als Lenker eines Pkw die im Straßenverkehr gebotene Sorgfalt und Aufmerksamkeit außer Acht gelassen, deshalb den die Fahrbahn von links nach rechts am Schutzweg überquerenden Dominik S***** niedergestoßen und dem Genannten dabei eine leichte Körperverletzung, nämlich eine Zerrung des rechten Knies und Prellungen der linken Hüfte und des rechten Fußes, zugefügt habe (ON 3).
In der hierüber am 22. Juni 2006 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 6) zeigte sich der Beschuldigte geständig. Er habe sich mit ungefähr 20 km/h dem Schutzweg angenähert und unmittelbar davor seine Geschwindigkeit weiter verlangsamt, sodass er auf dem Schutzweg bereits fast gestanden sei; weil er eine Handbewegung des in der Fahrbahnmitte stehenden Fußgängers im Sinne eines „Fahr weiter!" gedeutet habe, sei er im Schritttempo weitergefahren, wodurch es zu dem Unfall gekommen sei. Hätte ihm der Fußgänger keine Handzeichen gegeben, wäre er stehen geblieben.
Nach Vernehmung der Zeugen Dominik S*****, Helene E***** (vormals F*****) und Marlene N***** sowie Erstattung des verkehrstechnischen Gutachtens durch den Sachverständigen Dipl. Ing. Fritz H***** ersuchte der Verteidiger des Beschuldigten in der fortgesetzten Hauptverhandlung am 20. Oktober 2006 „im Hinblick auf die zahlreichen Milderungsgründe" um Durchführung einer Diversion. Die Hauptverhandlung wurde daraufhin „zur Durchführung einer Diversion" auf unbestimmte Zeit vertagt (S 113).
Der von der beabsichtigten Vorgangsweise nach § 90c Abs 4 StPO in Kenntnis gesetzte und zur Stellungnahme aufgeforderte Bezirksanwalt trat „mangels Verantwortungsübernahme des Beschuldigten und wegen Vorliegens schweren Verschuldens" (Erklärung vom 15. November 2006 auf dem - nicht durchnummerierten - Antrags- und Verfügungsbogen ON
1) einem diversionellen Vorgehen entgegen.
Mit Schreiben vom 10. Dezember 2006 (ON 20) teilte das Bezirksgericht Innere Stadt Wien dem Beschuldigten gemäß § 90c Abs 4 StPO mit, dass die Fortführung des Strafverfahrens unterbleiben und das Verfahren gemäß § 90c Abs 5 StPO mit Beschluss endgültig eingestellt werden würde, wenn er einen Geldbetrag in der Höhe von 1.000 Euro bezahle und die Staatsanwaltschaft dagegen keine Beschwerde erhebe oder deren Beschwerde erfolglos bliebe.
Die bereits gegen diese Mitteilung gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien (ON 21 und 22) wurde vom Landesgericht für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 6. Februar 2007 (AZ 134 Bl 7/07h, ON 25) - rechtsrichtig (vgl 15 Os 42/07a) - als unzulässig zurückgewiesen.
Nach Zahlung des Betrages durch den Beschuldigten wurde das Verfahren mit Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 16. Februar 2007 (ON 29) gemäß §§ 90b und 90c Abs 5 StPO eingestellt. Zur Begründung führte die Bezirksrichterin aus, dass das Strafverfahren infolge Bezahlung der „angebotenen Geldbuße" diversionell erledigt werden könne und verwies im Übrigen auf das Anbot vom 10. Dezember 2006.
Das Landesgericht für Strafsachen Wien gab der dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde (ON 30 und 32) mit Beschluss vom 26. März 2006, AZ 132 Bl 34/07i (ON 34), Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht auf, das gesetzliche Verfahren durchzuführen (gemeint: das Strafverfahren fortzusetzen).
In der Begründung führte das Beschwerdegericht zunächst aus, dass der angefochtene Beschluss nicht deutlich erkennen lasse, von welchem Sachverhalt das Erstgericht ausgegangen sei, „weshalb es schon an der Voraussetzung hinreichender Klärung des Sachverhaltes" mangle. Im Übrigen gelangte es zur Überzeugung, dass „im vorliegenden Fall jedenfalls von einem schweren Verschulden des Beschuldigten auszugehen" sei, welches sich „aus der Art der Missachtung" des § 9 Abs 2 StVO ergebe.
Dem Ausspruch des Beschwerdegerichtes zufolge ereignete sich der gegenständliche Unfall auf einem durch eine Schutzinsel geteilten Schutzweg, welcher nicht durch eine Ampel geregelt ist. Aus der Perspektive des herannahenden Beschuldigten wollte der Fußgänger die Fahrbahn von links nach rechts überqueren und war bereits lange Zeit im Wahrnehmungsbereich des Beschuldigten. Im Zeitpunkt kurz vor dem Unfall hatte der Fußgänger bereits die Hälfte der Fahrbahn überquert; auch ein unbeteiligter, dem Beschuldigten entgegenkommender Fahrzeuglenker hatte angehalten, sodass der Beschuldigte jedenfalls damit rechnen musste, dass der Fußgänger auch die restliche Fahrbahn überqueren wollte. Ein Verzicht auf den Vorrang durch den Fußgänger S***** lag weder aufgrund seines Handzeichens (vor Schreck erhobene Abwehrbewegung) noch zufolge des - allein vom Beschuldigten behaupteten - kurzzeitigen Verweilens des Fußgängers in der Fahrbahnmitte vor.
Aufgrund der vorliegenden Situation hätte der Beschuldigte „in Erfüllung des § 9 Abs 2 StVO" seine Annäherungsgeschwindigkeit weiter reduzieren müssen, um erforderlichenfalls anhalten zu können und dem Fußgänger das gefahrlose Weiterüberqueren des Schutzweges zu ermöglichen.
Schließlich erachtete das Beschwerdegericht eine Bestrafung des Beschuldigten auch aus generalpräventiven Gründen für erforderlich, zumal die Häufigkeit von Unfällen auf Schutzwegen die weit verbreitete Einstellung erkennen lasse, „dass der stärkere Verkehrsteilnehmer trotz der Bestimmung des § 9 Abs 2 StVO von der Möglichkeit zur Erzwingung seines Vorranges ausgeht". Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien setzte daraufhin das Strafverfahren auftragsgemäß fort: Der Beschuldigte Dr. Kurt M***** wurde mit Urteil vom 12. Juni 2007 strafantragskonform des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Geldstrafe von 2 (zwei) Tagessätzen à 100 Euro (ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt. Das Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Das Verhandlungsprotokoll wurde daraufhin gemäß § 458 Abs 2 StPO durch einen Vermerk ersetzt und das Urteil gemäß § 458 Abs 3 StPO in gekürzter Form ausgefertigt (ON 36).
Rechtliche Beurteilung
Der Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 26. März 2007 steht - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Ein Vorgehen nach dem IXa. Hauptstück der StPO setzt neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt und dem Fehlen spezial- und generalpräventiver Notwendigkeit der Bestrafung (§ 90a Abs 1 StPO) unter anderem eine als nicht schwer anzusehende Schuld des Verdächtigen voraus (§ 90a Abs 2 Z 2 StPO).
Bei der Bewertung des Grades der Schuld als „schwer" ist von jenem Schuldbegriff auszugehen, der nach §§ 32 ff StGB die Grundlage für die Strafbemessung bildet, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. Demnach müssen sowohl das Handlungs- als auch das Gesinnungsunrecht insgesamt eine Unwerthöhe erreichen, die im Wege einer überprüfenden Gesamtwertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist. Dabei kommt auch der vom Gesetzgeber in der Strafdrohung zum Ausdruck gebrachten Vorbewertung des deliktstypischen Unrechts- und Schuldgehaltes eine Indizwirkung für die Schuldabwägung zu (Schroll, WK-StPO § 90a Rz 13 f, 16, 21 f und 27 ff; 13 Os 7/03 mwN).
Bei Prüfung der Frage, ob die Schuld als schwer einzustufen ist, ist zu berücksichtigen, dass das Diversionshindernis der „schweren Schuld" vom Strafbefreiungshindernis des „schweren Verschuldens" iSd § 88 Abs 2 StGB strikt zu unterscheiden ist. Während das „schwere Verschulden" ganz spezifisch auf gravierende Verletzungen gerade des § 88 Abs 1 StGB zielt, ist die „schwere Schuld" auf den Gesamtbereich der für Diversion prinzipiell offenen Delikte zu beziehen. Bei Delikten mit geringeren Strafobergrenzen ist angesichts des vom Gesetzgeber solcherart zum Ausdruck gebrachten geringeren sozialen Störwertes daher die Schwelle für die Bejahung des Vorliegens einer nicht als schwer anzusehenden Schuld iSd § 90a Abs 2 Z 2 StPO niedriger anzusetzen als bei einem mit einer höheren Strafe bedrohten Vergehen oder Verbrechen. Beim Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB (mit einer Strafobergrenze von drei Monaten Freiheitsstrafe) kommt demnach eine diversionelle Erledigung aufgrund Erreichens des in Rede stehenden Schuldgrades überhaupt nur in Ausnahmefällen nicht in Betracht (15 Os 42/07a mwN). Im vorliegenden Fall ging das Beschwerdegericht „jedenfalls von einem schweren Verschulden" aus. Zwar stelle die bloße Missachtung des § 9 Abs 2 StVO noch kein schweres Verschulden dar, doch ergebe sich in concreto aus der Art der Missachtung ein schweres Verschulden des Beschuldigten. Der gegenständliche Unfall habe sich auf einem durch eine Schutzinsel geteilten Schutzweg ereignet, welcher nicht durch eine Ampel geregelt war. „Im Zeitpunkt kurz vor dem Unfall hatte der Fußgänger bereits die Hälfte der Fahrbahn überquert und hatte auch ein unbeteiligter, dem Beschuldigten entgegen kommender Fahrzeuglenker angehalten, sodass der Beschuldigte jedenfalls damit rechnen musste, dass der Fußgänger auch die restliche Fahrbahn überqueren will. Daher kann auch ein allfälliges Missdeuten des vom Beschuldigten behaupteten Armzeichens des Fußgängers diesem nicht zu Gute kommen."
Die vom Beschwerdegericht vertretene Rechtsansicht ist verfehlt. Wenngleich § 9 Abs 2 StVO gegenüber Verkehrsteilnehmern auf einem Schutzweg zweifellos erhöhte Sorgfaltsanforderungen vorschreibt, kann in dem vom Beschwerdegericht erwogenen Sorgfaltsdefizit des Beschuldigten Dr. M***** ein außergewöhnlich gravierender Sorgfaltsverstoß oder ein krasser Aufmerksamkeitsfehler nicht schon deshalb gesehen werden, weil sich der Verkehrsunfall auf einem Schutzweg ereignete. Auch von einem erheblichen sozialen Störwert der Tat allein wegen dieser Umstände kann diesfalls keine Rede sein (vgl Schroll, Diversion bei Verkehrsunfällen, Der Sachverständige 3/2003, 139 [142 f]; Burgstaller in WK² [2006] § 88 Rz 51). Schließlich stehen einem diversionellen Vorgehen auch keine generalpräventiven Erfordernisse entgegen. Denn nach der Argumentation des Beschwerdegerichts, dass schon die Häufigkeit von Unfällen auf Schutzwegen die weitverbreitete Einstellung erkennen lasse, dass der stärkere Verkehrsteilnehmer seinen Vorrang erzwingen wolle, wäre eine diversionelle Erledigung für die Fälle einer Missachtung des Vorranges auf Schutzwegen (§ 9 Abs 2 StVO) in der Regel - aus generalpräventiven Gründen - ausgeschlossen. § 90a Abs 1 StPO schließt demgegenüber eine Diversion nur dann aus, wenn den generalpräventiven Bedürfnissen auch unter Berücksichtigung der Diversionsmaßnahme nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Gerade aber die für einen Verdächtigen spürbare Reaktion - wie in casu die Zahlung einer nicht unerheblichen Geldbuße - vermittelt auch in Fällen wie diesem der Öffentlichkeit ein ausreichendes Signal der Rechtsbewährung (Schroll, WK-StPO § 90a Rz 41).
Die aufgezeigte Gesetzesverletzung war daher festzustellen. Gemäß § 292 letzter Satz StPO sah sich der Oberste Gerichtshof überdies veranlasst, den dem Verurteilten zum Nachteil gereichenden Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien und das ersichtlich auf der darin vertretenen Rechtsansicht beruhende Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien aufzuheben und dem Landesgericht für Strafsachen Wien aufzutragen, neuerlich über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien zu entscheiden. Einer förmlichen Aufhebung der auf dem kassierten Urteilsspruch basierenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS-Justiz RS0100444).
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