OGH 8Ob59/07w

OGH8Ob59/07w27.6.2007

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Langer als Vorsitzende sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Kuras und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Dr. Lovrek und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Berkan Ü*****, vertreten durch Magistrat Linz, Amt für Soziales, Jugend und Familie, Hauptstraße 1-5, 4040 Linz, wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der Republik Österreich, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, Gruberstraße 20, 4010 Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 27. Februar 2006, GZ 15 R 493/06k-U12, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Linz vom 17. Oktober 2006, GZ 36 P 266/06v-U3, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass er zu lauten hat:

„Der Antrag auf Unterhaltsvorschuss ab 1. 10. 2006 wird abgewiesen."

Text

Begründung

Der am 18. 9. 2002 geborene Antragsteller ist ebenso wie seine Mutter, bei der er sich aufhält, türkischer Staatsangehöriger. Der unterhaltspflichtige Vater Veli G*****, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, ist unbekannten Aufenthalts und im ZMR nicht erfasst. Sein letztes versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis in Österreich endete am 21. 8. 2000. Auf Grund des Antrages vom 16. 10. 2006 gewährte das Erstgericht dem Antragsteller Unterhaltsvorschuss gemäß § 4 Z 2 UVG in Höhe von monatlich EUR 113,-- vom 1. 10. 2006 bis 30. 9. 2009. Mangels hinreichender Anhaltspunkte könne ein Unterhaltstitel nicht geschaffen werden, weil der Unterhaltsschuldner unbekannten Aufenthalts sei. Auf Grund der Aktenlage würden sich keine Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners ergeben. In seinem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs führte der Präsident des Oberlandesgerichtes Linz zusammenfassend aus, dass Kinder mit der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaates bzw der Türkei mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätten, soweit sie in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr 1408/71 EWG nunmehr Verordnung (EG) 883/2004 , zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeindschaft zu- und abwandern, fallen. Vorliegend sei davon auszugehen, dass weder die Mutter noch der unterhaltspflichtige Vater des Antragstellers vom Arbeitnehmerbegriff der angeführten Verordnung umfasst seien, da die Drittschuldneranfrage bei beiden negativ verlaufen sei. In der Rekursbeantwortung führte der Jugendwohlfahrtsträger im Wesentlichen aus, dass der Arbeitnehmerbegriff der Verordnung Nr 1408/71 weit zu sehen sei, sodass auch bei Arbeitslosigkeit und freiwilligem Ausscheiden aus dem Berufsleben, die Arbeitnehmereigenschaft eine Erweiterung auf nicht Erwerbstätige erfahre. Der unterhaltspflichtige Vater sei im Zeitraum 1989 bis Dezember 2001 - wenn auch in unregelmäßigen Abständen - unselbständig beschäftigt gewesen. Auch die Mutter habe seit dem Jahr 2002 unregelmäßig gearbeitet. Zum Beweis für dieses Vorbringen wurden Versicherungsdatenauszüge der österreichischen Sozialversicherung angeschlossen.

Das Rekursgericht bestätigte den erstgerichtlichen Beschluss. Der EuGH habe mehrfach ausgesprochen, dass es sich beim Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischem UVG um eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 handle. Aus diesen Entscheidungen sei unter anderem abzuleiten, dass alle EWR-Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht des Mitgliedstaates vorgesehene Familienleistung haben, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der genannten Verordnung fallen. In der neuen Verordnung (EG) Nr 883/2004, die die Verordnung 1409/71 ablöse, seien allerdings für Österreich Unterhaltsvorschüsse nach dem Unterhaltsvorschussgesetz 1985 ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgeschlossen. Nach der Übergangsbestimmung des Art 91 der Verordnung 883/2004 sei diese Verordnung bereits mit 20. 5. 2004 in Kraft getreten, sie gelte jedoch erst ab dem Tag des Inkrafttreten der Durchführungsverordnung. Da diese noch nicht erlassen worden sei, sei weiterhin die Verordnung 1408/71 anzuwenden.

Im Verhältnis zur Türkei habe der Assoziationsrat am 19. 9. 1980 den Beschluss Nr 3/80 verabschiedet, der ein an der Verordnung 1408/71 orientiertes Koordinierungssystem für türkische Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene vorsehe, die sich in einem Mitgliedstaat aufhalten, sofern sie in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallen und damit den Arbeitnehmerbegriff im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h leg cit erfüllen. Unter dem Begriff des Arbeitnehmers sei jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiter versichert sei. Der EuGH habe dazu klargestellt, dass eine Person somit Arbeitnehmereigenschaft im Sinn der Verordnung 1408/71 besitze, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit a der Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme in der sozialen Sicherungspflicht versichert oder freiwillig versichert sei. Da beim Vater keinerlei Versicherungsverhältnisse im maßgeblichen Zeitraum ab 1. 10. 2006 aufscheinen, sondern der Versicherungsdatenauszug lediglich fallweise zurückliegende Beschäftigungen aufweise, könne daraus nicht auf den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung geschlossen werden. Nach der Rechtsprechung reiche es jedoch bereits aus, dass ein Elternteil eines Kindes in eine in Bezug auf die Familienleistungen von der Verordnung 14.08/71 erfasste Gruppe falle. Laut dem mit der Rekursbeantwortung vorgelegten Versicherungsdatenauszug mit Stand 20. 11. 2006 beziehe die Mutter des Antragstellers seit 31. 10. 2006 Kinderbetreuungsgeld. Bezieher von Kinderbetreuungsgeld seien gemäß § 28 KBGG in der gesetzlichen Krankenversicherung teilversichert. Die Mutter erfülle damit ab 31. 10. 2006 das für den Arbeitnehmerbegriff vorausgesetzte Erfordernis einer Pflichtversicherung.

Wenngleich die Mutter zum Zeitpunkt der Beschlussfassung erster Instanz (17. 10. 2006) noch nicht Kinderbetreuungsgeld bezogen habe und damit Arbeitnehmerin im Sinn der Verordnung gewesen sei, sei dem Vorbringen des Unterhaltssachwalters in der Rekursbeantwortung erhebliche Bedeutung zuzumessen.

Gemäß § 49 Abs 3 AußStrG seien neu vorgebrachte Tatsachen, die zur Zeit des Beschlusses noch nicht vorhanden waren, nur so weit zu berücksichtigen, als sie nicht ohne wesentlichen Nachteil zum Gegenstand eines neuen Antrags, ausgenommen einen Abänderungsantrag gemacht werden können. Für die Neuerungserlaubnis des § 49 AußStrG sei die bisher zu § 10 AußStrG aF ergangene Judikatur fortzuschreiben. Danach könnten zu bisher unbewiesenen Behauptungen neue Beweismittel angeboten und vorgelegt werden. Vorliegend bestreite der Antragsteller in der Rekursbeantwortung die Rechtsansicht des Rekurswerbers, wonach weder Vater noch Mutter vom Arbeitnehmerbegriff der zitierten Verordnung erfasst seien und lege zum Beweis den Versicherungsdatenauszug vom 20. 11. 2006 vor aus dem sich ergebe, dass die Kindesmutter seit 31. 10. 2006 Kindergeldbezieherin sei. Dies bedeute im Hinblick auf die Monatsbezogenheit des Unterhaltsvorschusses (§ 8 UVG), dass die Mutter auch für den Monat Oktober die Anspruchsvoraussetzungen erfülle.

In einem vergleichbaren Fall - wenngleich zum Außerstreitgesetz in der damals geltenden Fassung - habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass nach Beschlussfassung eingetretene Sachverhaltsänderungen einen Zuspruch von Unterhaltsvorschussleistungen nicht verhindern (2 Ob 103/02i). Gerade weil eine rückwirkende Geltendmachung von Ansprüchen im Unterhaltsvorschussrecht nicht möglich sei, würde die Unzulässigkeit der vorgebrachten Neuerungen finanzielle Einbußen derart bedeuten, dass der ab Oktober 2006 zu Recht bestehende Unterhaltsvorschussanspruch bis zur neuerlichen Antragstellung unwiederbringlich untergehen würde, was als wesentlicher Nachteil im Sinn des § 49 Abs 3 AußStrG anzusehen sei. Die einzige - nur bei besonders restriktiver Auslegung vertretbare - Variante, diese Unterversorgung des Kindes abzuwenden, wäre, die Antragszurückziehung und eine neuerliche Antragstellung zu jenem Zeitpunkt zu fordern, in dem die Voraussetzungen erstmals vorlagen. Im konkreten Fall wäre die Möglichkeit einer neuerlichen Antragstellung jedoch auf bloß einen einzigen Tag (31. 10. 2006) beschränkt gewesen, um den Anspruch schon ab 1. 10. 2006 zu sichern. Dies erscheine dem Rekursgericht insbesondere im Hinblick auf die komplexe Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund des anzuwendenden Gemeinschaftsrechtes unbillig. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zuzulassen, weil zur Frage der Auslegung des § 49 Abs 3 AußStrG im Bezug auf die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen einheitliche oberstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Der Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz ist aus den vom Rekursgericht genannten Gründen zulässig. Er ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 49 Abs 3 AußStrG, können Tatsachen, die nach Beschlussfassung eingetreten sind (nova produkta) dann im Rekurs geltend gemacht werden, wenn sie nicht ohne wesentlichen Nachteil der Partei zum Gegenstand eines neuen Antrags - ausgenommen einen Abänderungsantrag - gemacht werden können. Da nova produkta grundsätzlich stets einen neuen Antrag rechtfertigen, dh nicht von den zeitlichen Grenzen der Rechtskraft einer Entscheidung erfasst werden, soll nach dem Gesetz der neue Antrag Vorrang haben und das Geltendmachen im Rekurs nur dann möglich sein, wenn es erhebliche Vorteile für die Partei hat (Klicka in Rechberger AußStrG § 49 Rz 1 mwH). Schon nach § 10 AußStrG 1854 waren Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss von der Rechtsmittelinstanz zu berücksichtigen, wenn dies das Interesse des pflegebefohlenen Kindes erforderte (RIS-Justiz RS0006893). Diese Rechtsprechung ist im Geltungsbereich des neuen Außerstreitgesetzes aufrecht zu erhalten. Mit Fucik/Kloiber (AußStrG § 49 Rz 5) ist ein solcher wesentlicher Nachteil jedenfalls dann zu bejahen, wenn eine Gefahr für Minderjährige oder sonstige Pflegebefohlene besteht (vgl hiezu bereits 3 Ob 111/06d). Ein derartiger „wesentlicher" Nachteil wurde vom Obersten Gerichtshof etwa auch im Fall der Umbestellung des Sachwalters angenommen (3 Ob 250/06w). Nur ein „wesentlicher" Nachteil erlaubt es ausnahmsweise, Tatsachen, die erst nach Beschlussfassung erster Instanz entstanden sind und in die Entscheidung des Erstgerichts daher nicht einfließen konnten, zu berücksichtigen (Fucik/Kloiber aaO). In Unterhaltsverfahren bilden nova produkta hinsichtlich der Unterhaltsgrundlagen infolge der Möglichkeit eines Hinauf- oder Herabsetzungsantrages (bzw einer Oppositionsklage nach Einleitung der Exekution) in der Regel keinen Neuerungsgrund (Fucik/Kloiber aaO; Klicka aaO). Ob und unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise auch in einem derartigen Verfahren Neuerungen beachtlich sein können, ist hier nicht näher zu untersuchen, da entgegen der Ansicht des Rekursgerichts im hier zu beurteilenden Fall die Voraussetzungen des § 49 Abs 3 AußStrG jedenfalls nicht vorliegen.

Abgesehen davon, dass die Parteien grundsätzlich die Pflicht haben die Zulässigkeit von Neuerungen (neu vorgebrachte Tatsachen und angebotene Beweismittel) zu behaupten und schlüssig darzulegen (Fucik/Kloiber aaO Rz 3) und das Rekursgericht quasi „amtswegig" aus dem der Rekursbeantwortung beigelegten Versicherungsdatenauszug woraus sich der Kinderbetreuungsgeldbezug seit 31. 10. 2006 ergibt, auf die Anwendung der vorgenannten Verordnung geschlossen hat, rechtfertigt nicht jeder finanzielle Nachteil bereits die Berücksichtigung von Neuerungen. Im vorliegend zu beurteilenden Fall ist das Rekursgericht selbst davon ausgegangen, dass vor dem Bezug von Kinderbetreuungsgeld die Eltern des Antragstellers nicht in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung 1408/71 EWG gefallen sind und schon aus diesem Grund kein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss bestand. Der Umstand, dass der Antragsteller bei Stellung eines neuen Antrages auf Unterhaltsvorschuss diesen im Sinn der Ausführungen des Rekursgerichtes nicht bereits für das Monat der (ursprünglichen) Antragstellung erhalten hätte, stellt jedenfalls keinen wesentlichen Nachteil im Sinn des § 49 Abs 3 AußStrG dar.

Es ist daher auch nicht auf die Frage einzugehen, ob - was der Rechtsmittelwerber ausdrücklich bestreitet - bereits der Bezug von Kinderbetreuungsgeld durch einen Elternteil des Unterhaltsberechtigten, die Einbeziehung in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung 1408/71 EWG rechtfertigt. Da sich der Revisionsrekurs als berechtigt erweist, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn des Spruchs abzuändern.

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