OGH 2Ob260/06h

OGH2Ob260/06h24.5.2007

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Veith, Dr. Grohmann und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Werner Rudolf S*****, vertreten durch Dr. Bernhard Ess, Mag. Daniela Weiss, Rechtsanwälte in Feldkirch, wider die beklagten Parteien 1.) Sanli A*****, 2.) U***** GmbH, *****, 3.) G***** Versicherungs AG, *****, alle vertreten durch Dr. Wolfgang Ölz, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen EUR 13.462,-- sA und Feststellung, über die Revisionen sämtlicher Streitteile gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 28. August 2006, GZ 4 R 185/06x-16, womit das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 8. Juni 2006, GZ 38 Cg 1/06d-12, abgeändert wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 114,59 (darin enthalten EUR 19,10 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Text

Begründung

Am 27. 8. 2004 gegen 13.28 Uhr ereignete sich in Feldkirch-Altenstadt auf der Kreuzung Königshofstraße L190 - Churwaldenstraße - Küchlerstraße ein Verkehrsunfall zwischen einem vom Kläger gelenkten Motorrad und dem vom Erstbeklagten gelenkten, von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten LKW Mercedes Sprinter, bei dem der Kläger schwer verletzt wurde. Der Kläger begehrte von den Beklagten zur ungeteilten Hand die Bezahlung von Schmerzengeld, Kosten für Haushaltshilfe etc sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden aus diesem Unfall. Er brachte im Wesentlichen vor, das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalles treffe den Erstbeklagten, der sich als entgegenkommender Linksabbieger im Nachrang gegenüber dem richtungsbeibehaltend fahrenden Kläger befunden habe. Der Kläger habe nicht auf seinen Vorrang verzichtet, ein Verzicht wäre auf Grund der Ampelregelung auch gar nicht möglich gewesen.

Die Beklagten bestritten, beantragten Klagsabweisung und brachten im Wesentlichen vor, den Kläger treffe das Alleinverschulden, weil er nach Aufleuchten des Grünlichtes nicht losgefahren sei und somit eindeutig auf seinen Vorrang verzichtet habe. Erst während des Abbiegemanövers des Erstbeklagten sei der Kläger plötzlich losgefahren und auf Grund seiner unaufmerksamen Fahrweise gegen die rechte hintere Ecke des Beklagtenfahrzeuges gestoßen. Der der Zweitbeklagten entstandene Schaden werde als Gegenforderung eingewendet.

Das Erstgericht ging von einer Verschuldensteilung von 3:1 zu Gunsten des Klägers aus. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Die L190 weist in beiden Fahrtrichtungen im Bereich vor der Kreuzung mit der Churwaldenstraße jeweils zwei Fahrstreifen auf, die nicht durch eine Leitlinie voneinander getrennt sind, wobei der rechte dieser Fahrstreifen jeweils als Geradeaus- und Rechtsabbiegespur und der linke Fahrstreifen als Linksabbiegespur mit Pfeilen auf der Fahrbahn gekennzeichnet sind.

Der Erstbeklagte fuhr mit dem LKW in Richtung Rankweil und ordnete sich bei dieser Kreuzung zum Linksabbiegen in Richtung Churwaldenstraße unter Setzung des linken Fahrtrichtungsanzeigers an der Haltelinie ein. Zur selben Zeit fuhr der Kläger als Fahrlehrer mit einem Motorrad in Begleitung eines Fahrschülers auf der L190 in Fahrtrichtung Feldkirch-Stadtmitte, wobei sie beabsichtigten, die Kreuzung richtungsbeibehaltend zu übersetzen. Alle drei Fahrzeuglenker mussten auf Grund Rotlichts anhalten. Der Kläger hielt sein Motorrad hinter der Haltelinie vor der Kreuzung an, der Fahrschüler sein Motorrad hinter dem des Klägers.

Die Ampel für den Erstbeklagten schaltete ca drei Sekunden vor jener für den Kläger von Rot-Gelb auf Grün um. Sobald die Ampel für den Erstbeklagten Grünlicht zeigte, fuhr er in Richtung Kreuzungsmitte und bog langsam ohne anzuhalten nach links in Richtung Churwaldenstraße ab, wobei er zunächst eine Geschwindigkeit von etwa 10 km/h einhielt und geringfügig auf etwa 15 km/h beschleunigte. Mit dem Kläger hatte er keinen Blickkontakt und bekam von diesem keinerlei Handzeichen oder sonstige Signale. Etwa fünf Sekunden vor der späteren Kollision begann der Kläger anzufahren. Dabei drehte er seinen Kopf zur Seite, um zu hören, ob sein Fahrschüler Gas gebe, und konzentrierte sich vorerst nicht auf die Straße vor ihm und den Gegenverkehr. In weiterer Folge beschleunigte der Kläger bis auf etwa 25 km/h, als er plötzlich das einbiegende Beklagtenfahrzeug vor sich wahrnahm. Etwa 10,8 m vor der Unfallstelle begann er die Vorderbremse zu betätigen und verminderte seine Geschwindigkeit auf ca 15 km/h, konnte jedoch die Kollision nicht mehr vermeiden. Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad frontal gegen die rechte hintere Ecke des LKWs. Bei entsprechender Aufmerksamkeit wäre es ihm etwa 3,5 Sekunden vor der Kollision möglich gewesen, das Einbiegen des Lastkraftwagens wahrzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt hielt der Kläger eine Fahrgeschwindigkeit von etwa 15 km/h ein. Der Kläger hätte bei entsprechender Aufmerksamkeit die Kollision verhindern können, wenn er sein Fahrzeug in der Folge nicht weiter beschleunigt hätte. Auf Grund des Kollisionsgeräusches fasste der Erstbeklagte den Entschluss, seinen LKW abzubremsen und hielt diesen nach ca 3 m an. Das Anfahren des Klägers war für den Erstbeklagten gerade erkennbar, als er begann, nach links abzubiegen. Er hätte die Kollision vermeiden können, wenn er sein Fahrzeug nach Erkennen des Anfahrens des Klägers beschleunigt hätte.

Das nur von den Beklagten angerufene Berufungsgericht vertrat rechtlich die Ansicht, auf einer ampelgeregelten Kreuzung würden nicht die Bestimmungen des § 19 StVO, sondern ausschließlich die Regeln über die Bedeutung der Lichtzeichen gemäß § 38 StVO gelten. Damit sei auch § 19 Abs 8 StVO, wonach Anhalten als Vorrangverzicht gelte, auf lichtgeregelten Kreuzungen nicht anwendbar. Wer auf einer solchen Kreuzung geradeaus fahre oder nach rechts einbiege, habe gegenüber dem entgegenkommenden Linkseinbieger Vorrang nach § 38 Abs 4 StVO, auch wenn er bei Freigabe der Kreuzung nicht sofort angefahren sei.

Die Besonderheit im gegenständlichen Fall liege darin, dass die automatische Ampelregelung auf eine „versetzte Grünphase" eingestellt gewesen sei. Die StVO verbiete derartige Grünphasenverschiebungen nicht.

Im Hinblick auf § 38 Abs 4 StVO wäre der Erstbeklagte verpflichtet gewesen, sein Abbiegemanöver nach links sorgfältigst und unter Beobachtung des entgegenkommenden Verkehrs durchzuführen. Es genüge nicht, dass sich der Lenker eines Kraftfahrzeuges lediglich vor dem Einfahren in die für ihn freigegebene Kreuzung davon überzeuge, ob dies die Verkehrslage zulasse, vielmehr habe er auch während des Durchfahrens insbesondere einer großflächigen Kreuzung die Verkehrslage weiter zu beobachten, damit er gegebenenfalls ab Erkennbarkeit des Fehlverhaltens eines anderen Verkehrsteilnehmers, wodurch der Vertrauensgrundsatz seine Wirksamkeit verliere, entsprechend reagieren könne. Der Erstbeklagte wäre verpflichtet gewesen, während des gesamten Abbiegemanövers, das er rund fünf Sekunden vor der Kollision begonnen habe, den entgegenkommenden Verkehr zu beobachten, um gegebenenfalls ab Erkennbarkeit eines Fehlverhaltens entsprechend reagieren zu können, wie etwa durch eine entsprechende Beschleunigung seines Fahrzeuges zwecks früherer Freigabe der für den Gegenverkehr bestimmten Fahrstreifen. Er wäre auch verpflichtet gewesen, die Kreuzung rasch zu räumen, also nicht nur mit 10 km/h oder geringfügig mehr die beiden für den Gegenverkehr bestimmten Fahrspuren zu überqueren. Dass er nach Durchfahren der Kreuzungsmitte, also ab dem eigentlichen Beginn des Linksabbiegemanövers, den Gegenverkehr nicht mehr beobachtet habe, sei ein Fehlverhalten des Erstbeklagten, das ihm als Verschulden anzulasten sei.

Das Mitverschulden des Klägers sei mit 25 % vom Erstgericht wesentlich zu gering ausgemessen worden. Als die Ampel für den Kläger auf Grünlicht geschaltet habe, habe sich der entgegenkommende Erstbeklagte gerade in der Kreuzungsmitte unmittelbar vor oder bei Beginn seines Linksabbiegemanövers befunden, sodass der Kläger bei der zu diesem Zeitpunkt freien Fahrspur und der ihm signalisierten „freien Fahrt" jedenfalls losfahren durfte, zumal er zu diesem Zeitpunkt wohl durchaus damit habe rechnen können, dass der Erstbeklagte anhalten werde, da dessen Bremsweg nur maximal 1 m (unter Annahme einer Mindestverzögerung von 3 m/sec2) betragen habe. Allerdings wäre der Kläger auch verpflichtet gewesen, beim Losfahren und Beschleunigen den potenziell immer gefährlichen Kreuzungsbereich vorsichtig zu beobachten und nicht seinen Blick mehrere Sekunden zur Seite oder gar nach hinten zu richten. Dieses Verhalten des Klägers sei ein grobes Fehlverhalten, auf Grund dessen er erst fast zwei Sekunden später reagiert habe.

Eine Verschuldens- und Schadensteilung von 1:1 erscheine gerechtfertigt.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil eine höchstgerichtliche Judikatur zu einem vergleichbaren Verkehrsunfall bei einer „versetzten Grünphase" nicht vorliege. Die Lösung der Frage, ob dabei § 38 Abs 4 StVO auch uneingeschränkt zur Anwendung komme, habe im Hinblick auf die bei zahlreichen Verkehrslichtsignalanlagen bestehenden „versetzten Grünphasen" durchaus Bedeutung über den Einzelfall hinaus.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen diesem Ausspruch liegt hier jedoch eine erhebliche Rechtsfrage gemäß § 502 Abs 1 ZPO nicht vor, weil im vorliegenden Fall spezifische Auslegungsprobleme des § 38 Abs 4 StVO im Zusammenhang mit einer „versetzten Grünphase" nicht zu lösen sind.

§ 19 Abs 8 StVO, wonach Anhalten als Vorrangverzicht gilt, findet auf lichtgeregelten Kreuzungen (§ 38 StVO) keine Anwendung. Wer auf einer solchen Kreuzung geradeaus fährt, hat gegenüber dem entgegenkommenden Linkseinbieger Vorrang nach § 38 Abs 4 StVO, auch wenn er bei Freigabe der Kreuzung nicht sofort angefahren ist (ZVR 1980/256 = RIS-Justiz RS0074934; vgl auch RS0075067). Nach ständiger Rechtsprechung macht es für die Beurteilung des Vorranges des Richtungsbeibehaltenden gegenüber dem Linksabbieger im Gegenverkehr keinen Unterschied, ob der Geradeausfahrende zu Recht oder zu Unrecht in die Kreuzung eingefahren ist (RIS-Justiz RS0075276; zuletzt etwa 2 Ob 109/05a). Lediglich Fahrzeuglenkern, die bei Rotlicht gemäß § 38 Abs 5 StVO in die Kreuzung einfahren, kommt der Vorrang nicht zu (RIS-Justiz RS0075087).

Aus den Feststellungen der Vorinstanzen ergibt sich, dass der Erstbeklagte im Zeitpunkt, als ihm das Anfahren des Klägers erkennbar wurde, gerade begann, nach links abzubiegen. Er hätte dort (bei einer Reaktionszeit von einer Sekunde) bei den festgestellten 10 km/h einen Anhalteweg von unter 4 m gehabt. Das Berufungsgericht hat weiter ausgeführt, der Kläger hätte bei seinem Losfahren darauf vertrauen dürfen, der Erstbeklagte werde anhalten. Dies impliziert als Element aus dem Tatsachenbereich, dass der Erstbeklagte bei sofortiger Bremsung im Zeitpunkt der Erkennbarkeit des Anfahrens des Klägers noch so anhalten hätte können, dass der angehaltene LKW nicht in die Fahrlinie des Klägers gelangt wäre.

Nach § 38 Abs 4 Satz 4 StVO kam daher in dieser Situation jedenfalls dem Kläger der Vorrang zu, zumal der Kläger (im Gegensatz etwa zu 8 Ob 19/85) rechtmäßig in die Kreuzung eingefahren ist. Der Erstbeklagte hätte daher bei Erkennbarkeit des Anfahrens des Klägers den LKW anhalten müssen. Bei Fortsetzung des Abbiegemanövers wäre eine Vorrangverletzung durch den Erstbeklagten nur dann nicht vorgelegen, wenn er mit Sicherheit damit rechnen hätte können, dass durch sein Linksabbiegemanöver vorrangige Verkehrsteilnehmer - wie hier der Kläger - weder zu einer Ablenkung noch zu einer unvermittelten Bremsung genötigt werden (ZVR 1977/5, 1983/252; RIS-Justiz RS0075383). Dem Erstbeklagten fällt daher eine Vorrangverletzung zur Last.

Die vom Berufungsgericht in der Zulassungsbegründung angesprochene Frage der Anwendbarkeit von § 38 Abs 4 StVO bei versetzten Grünphasen (vgl dazu auch 8 Ob 19/85) stellt sich daher nicht, weil hier der unterschiedliche Beginn der Grünphase für beide Fahrtrichtungen keinen Einfluss auf die Beurteilung des Vorranges gemäß § 38 Abs 4 StVO hat.

Ob eine bestimmte Verschuldensteilung angemessen ist, ist eine bloße Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen - von einer krassen Verkennung der Rechtslage abgesehen - eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu lösen ist (2 Ob 179/99h = RIS-Justiz RS0042405 [T15]; vgl auch RS0087606).

Hier steht der Vorrangverletzung gemäß § 38 Abs 4 StVO seitens des Erstbeklagten eine grobe Unaufmerksamkeit des Klägers gegenüber. Angesichts dieser Verschuldenselemente kann bei der vom Berufungsgericht vertretenen gleichteiligen Verschuldensteilung von einer krassen Verkennung der Rechtslage nicht gesprochen werden. Die Revisionen waren daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50 und 41 ZPO. Die Streitteile haben in ihren Revisionsbeantwortungen jeweils auf die Unzulässigkeit der gegnerischen Revision hingewiesen. Der Einheitssatz beträgt jeweils nur 60 % (RIS-Justiz RS0115069). Die für die Revisionsbeantwortungen zustehenden Kosten wurden bereits saldiert.

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