OGH 7Ob92/07s

OGH7Ob92/07s9.5.2007

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Rudolf R*****, vertreten durch Frieders Tassul & Partner, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei R*****, vertreten durch Dr. Matthias Bacher, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 741.683,38 und Feststellung (Streitwert EUR 51.480), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 12. Jänner 2007, GZ 5 R 181/06h-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Handelsgerichtes Wien vom 22. Juni 2006, GZ 41 Cg 11/06k-10, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 6. September 2006, GZ 41 Cg 11/06k-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen ihrer Vertreter binnen vierzehn Tagen die mit EUR 3.217,96 (hierin enthalten EUR 536,33 USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat bei der beklagten Versicherung zwei Unfallversicherungsverträge abgeschlossen, für die die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung der R***** Versicherung (AUVB 2003) gelten. Diese lauten auszugsweise wie folgt:

„Art 7: Dauernde Invalidität

...

2. Höhe der Leistung:

2.1. Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Organe gelten ausschließlich, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, die folgenden Invaliditätsgrade:

...

eines Armes 70 %

...

2.2. Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.

3. ... Waren betroffene Körperteile oder Organe oder deren Funktionen bereits vor dem Unfall dauernd beeinträchtigt, wird der Invaliditätsgrad um die Vorinvalidität gemindert.

...

Art 18: Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes

Eine Versicherungsleistung wird nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen (körperliche Schädigung oder Tod) erbracht.

Darüber hinaus gilt:

1. Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades wird ein Abzug in Höhe einer Vorinvalidität nur vorgenommen, wenn durch den Unfall eine körperliche oder geistige Funktion betroffen ist, die schon vorher beeinträchtigt war.

Die Vorinvalidität wird durch Art 7, Punkt 2 und 3 bemessen."

Am 18. 2. 2004 verletzte sich der Kläger bei einem Jagdunfall mit einer Schrotflinte an der linken Hand, welche seither als Greiforgan völlig funktionslos ist. Bereits am 15. 3. 2001 hatte er einen Vorunfall (Unterarmfraktur links) erlitten, der zu einer teilweisen Funktionsunfähigkeit des linken Arms im Sinne einer Einschränkung der Unterarmrotation führte. Die Beklagte hat aufgrund eines damals bereits bei ihr bestehenden (zwischenzeitlich gekündigten) Unfallversicherungsvertrages eine Versicherungsleistung entsprechend einer zugrundegelegten Minderung der Gebrauchsfähigkeit des linken Arms von 25 % (von 70 % des Armwerts) erbracht.

Auf der Basis der Berechnung eines Gesamtinvaliditätsgrades von 38,5

% (Armwertminderung Altverletzung 80 % minus 25 % Vorinvalidität = 55

%; hievon 70 % laut Art 7. 2. 1. AUVB 2003 = 38,5 %) hat die Beklagte

aufgrund des Vorliegens eines Freizeitunfalles die in der Tabelle der Unfallversicherungspolizzen vorgesehenen - und der Höhe nach nicht (mehr) strittigen - Versicherungsleistungen von jeweils 77 % der Versicherungssummen errechnet und an den Kläger bezahlt, desgleichen die Unfallrenten mit dem halben Betrag.

Infolge des darüber hinausgehenden (und nunmehr klagegegenständlichen) Begehrens des Klägers wurde gemäß den AUVB 2003 eine Ärztekommission einberufen; diese einigte sich unter Berücksichtigung dieser Bedingungen auf eine dauernde Invalidität von 56 % (von 100 %).

Mit der am 15. 2. 2006 eingebrachten und später ausgedehnten Klage begehrt der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von EUR 739.538,38 sA, hievon EUR 93.240 sA zahlbar an die R***** und EUR 648.448,38 sA an den Kläger selbst zu Handen seiner Vertreter, weiters - beginnend mit 1. 6. 2006 - auf Zahlung einer lebenslangen monatlichen Unfallrente und für den Fall des Ablebens des Klägers an die Erben für die Garantiedauer von zwanzig Jahren, somit bis einschließlich Jänner 2024, von insgesamt EUR 1.250 und EUR 180; eventualiter wurden die Rentenbegehren auch als Feststellungsbegehren erhoben. Die Vorinvalidität laut Vorunfall sei von der Beklagten zu Unrecht in Anrechnung gebracht worden, sodass ihm ausgehend von den vereinbarten AVB und unter Zugrundelegung der Ergebnisse der einberufenen Ärztekommission die geltend gemachten Ansprüche zustünden.

Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Es sei unrichtig, dass der Kläger ungekürzt von einer vorfallskausalen Invalidität von 80 % Armwertminderung ausgehe. Seien nämlich durch einen Unfall betroffene Körperteile oder deren Funktionen bereits vor dem konkreten Unfall dauernd beeinträchtigt gewesen, so sei gemäß den AUVB 2003 der Invaliditätsgrad um die Vorinvalidität zu mindern. Da beim Kläger durch den Vorunfall bereits eine teilweise Funktionsunfähigkeit des linken Arms im Ausmaß von 25 % bestanden habe, sei der durch den konkreten Unfall ermittelte Invaliditätsgrad um diese Vorinvalidität zu kürzen gewesen. Die Einschätzung der vom Kläger einberufenen Ärztekommission sei aus rechtlicher Sicht unrichtig. Das Erstgericht wies das Hauptklagebegehren (rechtskräftig) ab und gab dem Eventualklagebegehren statt. Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades sei eine Vorinvalidität nur in Abzug zu bringen, wenn durch den Unfall eine körperliche Funktion betroffen sei, die schon vorher beeinträchtigt gewesen sei. In den Bestimmungen werde ausdrücklich auf die Beeinträchtigung der körperlichen Funktion und nicht generell auf das Betreffen der selben Gliedmaßen abgestellt. Die Unterarmrotation des Klägers sei zwar bereits vor dem klagegegenständlichen Unfall durch einen Vorunfall eingeschränkt gewesen. Durch den späteren Unfall sei das Greiforgan Hand jedoch völlig funktionslos geworden. Durch den Vorunfall sei nicht das Greiforgan Hand betroffen gewesen, sondern die Unterarmrotation, welche die Funktion habe, das Greiforgan Hand in die richtige Position für den Greifakt zu bringen. Die Funktion des Greifens mit der Hand sei dadurch sohin nicht beeinträchtigt gewesen. Durch die beiden Unfälle seien daher unterschiedliche körperliche Schädigungen am Unterarm bzw an der Hand hervorgerufen worden.

Allein aus dem Wortsinn sei es ungerechtfertigt, Art 18 1 AUVB 2003 so auszulegen, dass, wenn ein in irgendeiner Weise schon vorher beeinträchtigter Körperteil verletzt werde, jedenfalls diese Beeinträchtigung als Vorinvalidität in Abzug gebracht werde. Ein Abzug sei vielmehr nur vorzunehmen, wenn durch die Vorinvalidität die gleiche körperliche Funktion beeinträchtigt werde wie durch den aktuellen Versicherungsfall.

Es ergebe sich daher eine Invalidität, für die nach dem Versicherungsvertrag nach Überschreitung der 50 %-igen Invalidität dem Kläger die (zahlenmäßig unbestrittenen) höheren Versicherungsleistungen an Einmalzahlungen und Renten zustünden. Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Allgemeine Versicherungsbedingungen seien nach Vertragsauslegungsgrundsätzen (§§ 914 f ABGB) auszulegen, welche sich am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren habe. Unklarheiten gingen gemäß § 915 ABGB in aller Regel zu Lasten des Versicherers. Auch wenn bei jedem Versicherungsfall nicht mehr als 100 % entschädigt werden könne, da begriffsnotwendig nicht mehr als die volle Versicherungssumme anfallen könne, folge daraus doch, dass dies bei mehreren Unfällen durchaus dann möglich sei, wenn nicht oder nur zum Teil vorgeschädigte Körperteile oder Sinnesorgane durch den (neuen) Unfall verletzt worden seien. Nach den hier maßgeblichen AVB sei eine Vorinvalidität nur dann in Abzug zu bringen, wenn durch den Nachfolgeunfall die gleiche körperliche Funktion eines Körperteils beeinträchtigt werde. Abgestellt werde somit nicht auf das „Betreffen der gleichen Gliedmaßen", sondern auf die „Beeinträchtigung der gleichen körperlichen Funktion". Werde daher wie im konkreten Fall ein in irgendeiner Weise bzw zum Teil schon vorher betroffener Körperteil (neuerlich) verletzt, dabei jedoch jeweils eine andere körperliche Funktion beeinträchtigt, nämlich zunächst die Unterarmrotation und dann die Greiffunktion beeinflusst, so sei auch nach Auffassung des Berufungsgerichtes mangels Beeinträchtigung der gleichen körperlichen Funktion durch die beiden in Rede stehenden Unfälle kein Abzug im Sinne einer Vorinvalidität nach den zitierten Bestimmungen der AUVB 2003 vorzunehmen. Jedenfalls aber müsse die Beklagte, sollte man ihren Versicherungsbedingungen keinen eindeutig klaren Sinn beilegen, gemäß der erwähnten Unklarheitenregelung eine solche Auslegung zu ihren Lasten gegen sich gelten lassen, wobei noch darauf verwiesen werde, dass in den AUVB 2000 (noch) zwischen dem Verlust und der Funktionsunfähigkeit unter anderem des Armes und der Hand (und dann weiters des Daumens sowie anderer Finger) unterschieden und somit sehr wohl zwischen der Beeinträchtigung von Arm- und Handfunktionen differenziert worden sei.

Die Zulässigkeit der ordentlichen Revision begründete das Berufungsgericht mit dem Fehlen von Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Berücksichtigung der Vorinvalidität in Fällen wie dem vorliegenden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Beklagten mit dem Antrag, auch das verbliebene Eventualbegehren abzuweisen; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. In der Folge brachte die Beklagte noch einen Berichtigungsschriftsatz zu ihrem Rechtsmittel wegen falscher Bezeichnung (nicht auch Verzeichnung) der Kosten des Revisionsschriftsatzes ein.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung die Zurückweisung des gegnerischen Rechtsmittels mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage, in eventu diesem keine Folge zu geben. Die Revision ist zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach Art 7.3 iVm Art 18.1 AUVB 2003 wird, wenn durch einen Unfall ein Körperteil oder Organ oder deren Funktion betroffen wird, die schon vorher dauernd beeinträchtigt waren, der Invaliditätsgrad um diese Vorinvalidität gemindert. Diese ist grundsätzlich nach denselben Grundsätzen wie die Invalidität zu bemessen und wurde hier (unstrittig) im Rahmen der Vorschadensliquidation mit 25 % bewertet. Die Formulierung in den AUVB, wonach der Invaliditätsgrad einer Unfallverletzung um die Vorinvalidität „gemindert" wird, bedingt in der Regel die Ermittlung einer Gesamtinvalidität, von der dann diese Vorinvalidität im Sinne einer Substraktion abzuziehen ist (Bruck-Möller, Komm zum VersVG8 VI/1 494).

Nach den (unstrittigen) Feststellungen hat die hier tätig gewordene Ärztekommission Art und Schwere der Verletzung des Klägers hinsichtlich der geschädigten Extremität durch den Unfall vom 18. 2. 2004 mit 56 (von 100) % aus medizinischer Sicht bewertet und hiebei auch ausdrücklich auf die durch den früheren Unfall gegebene eingeschränkte Unterarmrotation in Bezug auf die erst durch den zweiten Unfall eingetretene Funktionslosigkeit der Greiffunktion der Hand Bedacht genommen, die Schädigung laut Vorunfall vom 15. 3. 2001 (wegen „Überlagerung") jedoch als „irrelevant" erachtet. Diese Feststellung ist gemäß § 184 Abs 1 Satz 1 VersVG als verbindlich zugrunde zu legen, weil sie nicht „von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht" (7 Ob 184/06v; RIS-Justiz RS0080431). Dem Kläger ist daher beizustimmen, wenn er deren Bewertungsergebnis seiner Anspruchsberechnung zugrundelegt, zumal § 184 Abs 1 Satz 1 VersVG gemäß Abs 3 dieser Gesetzesstelle zwingend ist (Schwintowsky in Berliner Kommentar, Rn 9 zu § 184). Soweit die Beklagte daher diese „Sicht" der Ärztekommission ohne nähere substantielle Begründung als „nicht maßgeblich" bezeichnet, steht dies mit der genannten ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung in Widerspruch. Wie der erkennende Senat bereits zu 7 Ob 271/06p ausgeführt hat, ist im Bereich der privaten Unfallversicherung grundsätzlich jeder Unfall mit seinen konkreten Folgen getrennt zu beurteilen und abzurechnen;

ein neuer Unfall ist ein neuer Versicherungsfall und als solcher zu

entschädigen. Haben sich der Versicherungsnehmer und Versicherer

hinsichtlich der Entschädigung einer Vorinvalidität (wie hier

einvernehmlich oder vergleichsweise) geeinigt, betrifft dies allein

den Vorunfall und kann eine Bindungswirkung für künftige

Versicherungsfälle nicht bewirken. Wird also - wie hier - der zweite

Folgeschaden, der zu einem neuen selbständigen Versicherungsfall

führt, (wie die Mediziner im Rahmen der Ärztekommission es

umschrieben) ausschließlich durch das zweite Trauma „überlagert" und

wäre daher auch ohne Vorschädigung so entstanden, so kann von einer

Anspruchkürzung bedingenden Betroffenheit des in Frage stehenden

Körperteils oder dessen Funktion durch die bereits vor dem Unfall gegebene (anderweitige) dauernde Beeinträchtigung und damit Vorinvalidität im Sinne der AVB nicht ausgegangen werden, steht doch auch - insoweit von der Beklagten gar nicht ernsthaft bestritten - fest, dass die Greiffunktion der Hand ja auch durch den Erstunfall nicht betroffen war und Vorschäden in einer nicht betroffenen Funktion daher auch unberücksichtigt zu bleiben haben (Pröllss/Martin, VVG27 Rn 31 zu § 7 AUB 94). Soweit in der Revision ausschließlich damit argumentiert wird, durch die Behinderung der Unterarmrotation aufgrund des Erstunfalls sei auch schon die Greiffunktion der Hand beeinträchtigt gewesen, weicht sie in unzulässiger Weise von den vom Erstgericht (unbekämpft) getroffenen Tatsachenfeststellungen ab, wonach der Unfall vom 15. 3. 2001 beim Kläger bloß zu einer teilweisen Funktionsunfähigkeit des Unterarms geführt hat.

Der Revision war daher keine Folge zu geben. Hinsichtlich der Höhe, Aktivlegitimation und Fälligkeitszeitpunkte wird in der Revision nichts vorgebracht, sodass hierauf seitens des Obersten Gerichtshofes nicht weiter einzugehen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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