Spruch:
Dem Erneuerungsantrag wird stattgegeben.
Die Urteile des Landesgerichtes St. Pölten vom 29. Mai 2001, GZ 31 E Hv 33/00-22, und des Oberlandesgerichtes Wien vom 18. September 2002, AZ 24 Bs 294/01 (ON 27 des Hv-Aktes), werden aufgehoben und es wird die Sache zur Erneuerung des Verfahrens an das Landesgericht St. Pölten verwiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes St. Pölten vom 29. Mai 2001, GZ 31 E Hv 33/00-22, wurde die Antragsgegnerin S***** GmbH nach § 6 MedienG verpflichtet, dem Antragsteller Mag. Ewald S***** einen Entschädigungsbetrag von 15.000 ATS zu bezahlen, weil auf S 13 der Ausgabe der periodischen Druckschrift „Der S*****" vom 1. März 2000 ein Artikel mit der Überschrift „Ich hatte auch Wichtigeres zu tun" veröffentlicht worden war, in dem dem Antragsteller Mag. Ewald S***** vorgeworfen wurde, nach den Angaben des im „R*****-Prozess" vernommenen Peter R***** schon vor dem November 1997 Kenntnis davon erlangt zu haben, dass Kredite und Bürgschaften, die der Ri***** (R*****) aufgenommen hatte bzw eingegangen war, dem Betrieb R*****s zu Gute gekommen seien, da ihm die diese Geschäftsfälle belegenden Unterlagen zur Gänze übergeben worden wären; dadurch sei in einem Medium der objektive Tatbestand des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 StGB verwirklicht worden. Gemäß § 34 Abs 1 und 4 MedienG wurde die Antragsgegnerin zur Urteilsveröffentlichung verpflichtet. Mit dem Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 18. September 2002, AZ 24 Bs 294/01 (ON 27 des Hv-Aktes), wurde der Berufung der Antragsgegnerin wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe nicht Folge gegeben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte im Urteil vom 2. November 2006 (Beschwerde Nr 13071/03) im Fall S***** GmbH gegen Österreich fest, dass durch die angeführte Verurteilung Art 10 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt wurde. Nach Ansicht des Gerichtshofes hatte die strittige Äußerung in ihrem maßgebenden Zusammenhang den Charakter eines fairen Kommentars über Angelegenheiten öffentlichen Interesses. Sie sei als auf einer „gewissen" Tatsachengrundlage beruhendes, demnach nicht überzogenes Werturteil und nicht als Tatsachenbehauptung anzusehen. Der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung wäre in einer demokratischen Gesellschaft im Sinn des Art 10 Abs 2 MRK nicht notwendig gewesen. Es läge daher eine Verletzung des Art 10 MRK vor (Z 55, 57 der Entscheidung).
Gestützt auf diese Entscheidung des EGMR stellt die Antragsgegnerin S***** GmbH den Antrag, das Strafverfahren zur Gänze zu erneuern und die Sache an das Landesgericht St. Pölten zurückzuverweisen.
Rechtliche Beurteilung
Dieser Antrag ist berechtigt.
Wird in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt, so ist das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte (§ 363a Abs 1 StPO). Zusätzlich zur Konventionsverletzung muss somit die Möglichkeit bestehen, dass ohne diese Verletzung eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung gefällt worden wäre.
Ausgehend von der Rechtsansicht des EGMR, der in der gegenständlichen Verurteilung der Antragsgegnerin S***** GmbH eine Verletzung des Art 10 MRK erblickt, ist eine nachteilige Auswirkung auf die Urteilsfindung in erster und zweiter Instanz jedenfalls nicht auszuschließen, betrifft der festgestellte Konventionsverstoß doch unmittelbar die Frage der Tatbestandsmäßigkeit der inkriminierten Äußerung im Sinn des § 111 StGB und somit die Grundlage für die Haftung der Antragsgegnerin nach § 6 (und § 34) MedienG. Demnach war gemäß § 363b Abs 3 StPO bei nichtöffentlicher Beratung dem Erneuerungsantrag der S***** GmbH stattzugeben. Die Urteile des Landesgerichtes St. Pölten sowie des Oberlandesgerichtes Wien waren zur Gänze aufzuheben und es war die Sache zur Erneuerung des Verfahrens an das Landesgericht St. Pölten zu verweisen. Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dass es einer förmlichen Aufhebung der auf den zu kassierenden Urteilssprüchen beruhenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen nicht bedarf: Die sich aus einer gänzlichen Urteilsaufhebung ergebenden rechtslogischen Folgen verlangen nicht nach einem solchen sei es konstitutiven, sei es deklaratorischen Formalakt (RIS-Justiz RS0100444).
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