OGH 15Os24/07d

OGH15Os24/07d19.3.2007

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. März 2007 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. T. Solé als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Brandstetter als Schriftführerin in der Strafsache gegen Nurmuchamed S***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 erster und zweiter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Rijad L***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Graz als Beschwerdegericht vom 8. Februar 2007, AZ 11 Bs 39/07d (ON 101 des Vr-Aktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Rijad L***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 700 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen geltend:

1. Am 24. Jänner 2007 beantragte der Staatsanwalt beim Untersuchungsrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz die Einleitung der Voruntersuchung gegen die Jugendlichen Nurmuchamed S*****, Shaban G***** und Rijad L***** sowie gegen den jungen Erwachsenen Rohollah B***** je wegen des Verdachtes des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 erster und zweiter Fall StGB. Zugleich stellte der Staatsanwalt den Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft über alle vier Beschuldigten wegen Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 2 und Z 3 lit a und b, hinsichtlich Shaban G***** auch § 180 Abs 2 Z 3 lit c StPO (in Ansehung der drei Jugendlichen iVm § 35 Abs 1 JGG und mit Blick auf den jungen Erwachsenen iVm §§ 46a Abs 2, 35 Abs 1 zweiter SatzJGG). Der Staatsanwalt bezog sich dabei auf eine Strafanzeige des Stadtpolizeikommandos Graz vom 23. Jänner 2007 gegen die Genannten und „weitere bis zu acht unbekannte Täter" wegen des Verbrechens des schweren Raubes in fünf Fällen (S 5 bis 395/I).

Als „Faktum 2" zeigte die Polizei einen am 19. Jänner 2007 gegen

18.45 Uhr an Helmut F***** begangenen Raub an. Mehrere Täter hätten ihm im Grazer Stadtpark durch Einkreisen und Drohung mit einem in der Hand gehaltenen Messer verbunden mit der Aufforderung durch einen der Täter, „Gib mir dein Geld, sonst ersteche ich dich!", das mitgeführte Bargeld von 22 Euro und das Mobiltelefon abgenötigt. Verdächtig seien Nurmuchamed S*****, Shaban G*****, Rohollah B***** und Rijad L***** (S 9, 93 ff/I).

Unter „Faktum 5" wurde zur Anzeige gebracht, dass Nurmuchamed S*****, Shaban G*****, Rijad L***** und drei weitere, unbekannt gebliebene Täter am 20. Jänner 2007 gegen 19.00 Uhr im Grazer Stadtpark Tankred K***** durch Drohung mit einem Schlagring und mit der Äußerung, „Gebt alles her, was ihr habt, oder wir schlagen euch zusammen!", sowie mit Gewalt, nämlich durch Schläge mit der Waffe, ein Mobiltelefon und eine Packung Zigaretten weggenommen haben (S 15, 135 ff/I). Am 21. Jänner 2007 um 20.10 Uhr nahmen Kriminalbeamte Nurmuchamed S*****, Shaban G*****, Rohollah B***** und Rijad L***** gemäß §§ 175, 177 StPO in vorläufige Verwahrung (S 177 f/I).

Rijad L***** wurde am 22. Jänner 2007 polizeilich vernommen. Er bestritt, bei den Überfällen dabei gewesen zu sein, und gab an, am Freitag, dem (ersichtlich gemeint:) 19. Jänner 2007 (im Protokoll S 313/I unrichtig „Freitag, 18. Jänner 2007") zum Training beim Fußballverein LUV gefahren zu sein. Dort sei er Spieler einer Nachwuchsmannschaft („U 17"). Gegen 18.10 Uhr sei er beim LUV-Platz angekommen, das Training habe bis 19.00 Uhr gedauert. Sein Trainer Wolfgang Ko***** könne diese Angaben bestätigen. Danach sei er mit dem Bus wieder nach Hause gefahren und dann mit seinem Bruder in ein Lokal gegangen (S 313 f/I).

Der 17-jährige Helmut F***** (Faktum 2) hatte am 19. Jänner 2007, befragt nach einer Personenbeschreibung der vier Täter, nähere Angaben zum Aussehen des „Haupttäters mit dem Messer" gemacht, einen weiteren Täter als Schwarzafrikaner bezeichnet und hinsichtlich der zwei anderen Tätern ausgesagt, dass er sie nicht mehr beschreiben könne, außer dass sie „auch eher südländische Typen waren" (S 105 f/I).

Am 22. Jänner 2007 wurde Helmut F***** bei der Polizei ein Lichtbild vorgelegt, auf dem die vier festgenommenen Verdächtigen, aber keine anderen Personen zu sehen waren (vgl demgegenüber die Regelung des § 163 Abs 1 StPO idF StPRefG, wonach einem Zeugen mehrere Personen - offen oder verdeckt - gegenübergestellt werden können, unter denen sich eine befindet, die verdächtig ist). Der Zeuge erklärte, es handle sich um die vier Personen, die ihn im Grazer Stadtpark überfallen hätten (S 349/I).

Das Foto wurde von der Polizei auch den Zeugen Skanda W*****, Tankred Kr***** und Younes N***** (Faktum 5) vorgelegt. In Ansehung des Verdächtigen Rijad L***** gab der Erstgenannte an, sich nicht sicher zu sein, ob diese Person (Nr 2 auf dem Lichtbild) bei dem Überfall dabei gewesen ist, der zweite Zeuge, dass es sich möglicherweise um jene Person handle, die einen Schlagring in der Hand gehabt habe, und der dritte Zeuge, nicht sagen zu können, ob auch diese Person beim Überfall dabei war (S 375 ff/I).

Am 23. Jänner 2007 um 19.55 Uhr wurden die vier festgenommenen Verdächtigen in die Justizanstalt Graz-Jakomini eingeliefert (S 449/I).

Am 25. Jänner 2007 um 8.00 Uhr begann der Untersuchungsrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz nach Einleitung der Voruntersuchung gegen Rijad L***** und die drei anderen Beschuldigten wegen des Verdachtes des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 erster und zweiter Fall StGB mit der Vernehmung des zuerst Genannten. Rijad L***** erklärte dem Untersuchungsrichter, dass er mit dem in Rede stehenden Sachverhalt nichts zu tun habe, und verwies auf seine Angaben von der Polizei (S 475 ff/I).

Mit Beschluss vom 25. Jänner 2007 verhängte der Untersuchungsrichter unter anderem über Rijad L***** die Untersuchungshaft aus den Gründen der Flucht, Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit a und b StPO iVm § 35 Abs 1 JGG (S 483/I, ON 11). Der Beschluss wurde L***** am 25. Jänner 2007 kurz vor 8.25 Uhr kundgemacht (S 483/I).

Aus einem Aktenvermerk des Untersuchungsrichters vom 29. Jänner 2007 geht hervor, dass er am 25. Jänner 2007 von 9.00 Uhr bis 15.00 Uhr und am 26. Jänner 2007 von 9.00 Uhr bis 22.15 Uhr als Beisitzer in einem Geschworenenverfahren tätig war (S 3a verso des Antrags- und Verfügungsbogens).

Der vom Beschuldigten Rijad L***** gegen die Verhängung der Untersuchungshaft erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Graz mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss nicht Folge. Es erkannte, nachdem der Genannte am 31. Jänner 2007 auf Grund eines vom Verteidiger gestellten Antrags mit Zustimmung des Staatsanwaltes enthaftet worden war, über die Gesetzmäßigkeit des erstrichterlichen Beschlusses (§ 179 Abs 6 StPO).

Das Oberlandesgericht erachtete einen dringenden Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer hinsichtlich der in der Polizeianzeige unter den Fakten 2 und 5 beschriebenen Vorfälle für gegeben. Rechtlich beurteilte es das insoweit anzeigekonform und mit einer höhergradigen Wahrscheinlichkeit angenommene Tatgeschehen als „zweifache Verübung des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 erster und zweiter Fall StGB".

Zu den Angaben des Beschuldigten über ein Alibi für den 19. Jänner 2007 führte das Oberlandesgericht aus, sie seien „vor der Haftverhängung für den Untersuchungsrichter nicht überprüfbar gewesen" (S 7 der Beschwerdeentscheidung).

Der Trainer, den der Beschuldigte Rijad L***** als Zeugen für das Alibi genannt hatte, wurde erst am 16. Februar 2007 vom Untersuchungsrichter vernommen. Der Zeuge legte eine Anwesenheitsliste vor, die auf die Teilnahme des Beschuldigten am Training vom 19. Jänner 2007 hinweist (ON 163/V).

2. Mit der Grundrechtsbeschwerde wird gerügt, dass der vom Beschuldigten bereits am 22. Jänner 2007 namhaft gemachte Zeuge zur Überprüfung des für den 19. Jänner 2007 angegebenen Alibis umgehend hätte herangezogen werden müssen. Der Untersuchungsrichter sei in dieser Hinsicht säumig gewesen.

3. Die Beschwerde ist berechtigt:

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 179 Abs 2 zweiter Satz StPO kann der Untersuchungsrichter vor der Entscheidung, ob der Beschuldigte freigelassen oder ob über ihn die Untersuchungshaft verhängt wird, sofortige Erhebungen vornehmen oder vornehmen lassen, wenn deren Ergebnis maßgebenden Einfluss auf die Beurteilung von Tatverdacht oder Haftgrund erwarten lässt. In jedem Fall hat der Untersuchungsrichter zufolge § 179 Abs 2 dritter Satz StPO innerhalb von 48 Stunden nach Einlieferung des Beschuldigten über die Untersuchungshaft zu entscheiden.

§ 193 Abs 1 StPO verpflichtet alle am Strafverfahren beteiligten Behörden, darauf hinzuwirken, dass die Haft so kurz wie möglich dauere. Demgemäß prüft der Oberste Gerichtshof hinsichtlich der dem Gericht zukommenden Aufgaben (§ 1 Abs 1 GRBG), ob dieses alles ihm Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen hat. Eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen ist nach gefestigter jüngerer Rechtsprechung auch ohne Verletzung des § 180 Abs 1 zweiter Satz StPO - wonach die Untersuchungshaft nicht verhängt oder aufrechterhalten werden darf, soweit sie zur Bedeutung der Sache oder zu der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht - grundrechtswidrig im Sinn einer Verletzung des § 193 Abs 1 StPO (RIS-Justiz RS0120790; anders noch 11 Os 75/03, EvBl 2003/192, 908 = SSt 2003/51). Mit Blick auf das Beschleunigungsgebot in Haftsachen hätte das Gericht noch vor der binnen 48 Stunden ab Einlieferung, somit bis 25. Jänner 2007, 19.55 Uhr, gebotenen Entscheidung über die Untersuchungshaft zwar nach Lage des Falles nicht selbst Erhebungen anstellen, aber doch zumindest veranlassen müssen, dass die Angaben des Beschuldigten über das konkret bezeichnete Alibi schleunigst durch die Polizei überprüft werden. Durch die insoweit eingetretene Säumigkeit auf Seite des Gerichtes wurde der Beschuldigte im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Ohne Bedeutung ist, ob den Untersuchungsrichter ein Verschulden traf, obliegt es doch dem Staat, das Grundrecht zu gewährleisten (vgl zB dBVerfG, 20. 10. 2006, 2 BvR 1742/06 ua, EuGRZ 2006, 612 [613]). Maßgeblich ist mit Blick auf § 1 Abs 1 GRBG, ob die ins Gewicht fallende Säumigkeit den Gerichten zuzurechnen ist, was hier zutrifft. Zur Vermeidung einer solchen Grundrechtsverletzung können auch organisatorische Maßnahmen geboten sein, für den Fall einer Verhinderung des zuständigen Richters zB in Gestalt rechtzeitiger Befassung eines Vertreters.

4. Angesichts der zwischenzeitigen Enthaftung des Beschuldigten war die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses nicht erforderlich (§ 7 Abs 1 GRBG).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG.

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