Spruch:
I. In dem zu AZ 29 Hv 87/06d des Landesgerichtes Innsbruck geführten Verfahren verletzten das Urteil vom 12. Juni 2006 und der zugleich ergangene Beschluss, mit welchem eine Widerrufsentscheidung nach § 494a StPO vorbehalten wurde, das Gesetz, und zwar
1. das Urteil, soweit Mario J***** in Betreff ein- und derselben tatbestandlichen Handlungseinheit hinsichtlich eines Teils der angeblichen Beute des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig (G) und eines anderen Teils nach § 259 Z 3 StPO freigesprochen wurde (B), in den Bestimmungen der §§ 28 Abs 1, 127 StGB, § 259 StPO;
2. der Beschluss in den Bestimmungen des § 53 Abs 1 StGB, des § 494a und des XX. Hauptstücks der StPO.
II. Der zu I/2 genannte Beschluss wird aufgehoben.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 12. Juni 2006, GZ 29 Hv 87/06d-29, wurde Mario J***** unter anderem schuldig erkannt, am 23. Februar 2006 in Innsbruck in der Wohnung des Bernhard T***** der Mag. Angelika S***** mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz eine Digitalkamera weggenommen zu haben (Pkt G des Schuldspruchs). Dass der Angeklagte im Zuge desselben historischen Sachverhalts auch einen im Eigentum des Bernhard T***** stehenden Bargeldbetrag von 200 Euro mit Bereicherungswillen weggenommen hatte, hielt das Schöffengericht für nicht erwiesen und sprach den Angeklagten insoweit nach § 259 Z 3 StPO frei (Punkt B des Freispruchs).
In Hinsicht auf den wegen mehrerer Vergehen schuldig erkannten Rene K***** hinwieder wurde „die Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck auf Widerruf der zu 35 Hv 96/04 des Landesgerichtes Innsbruck gewährten bedingten Nachsicht bis zur rechtskräftigen Erledigung des Verfahrens 28 Hv 37/06v des Landesgerichtes Innsbruck" mit der Begründung „vorbehalten", der im zuletzt genannten Verfahren gefasste Widerrufsbeschluss sei bis zu dessen Rechtskraft „insoweit bindend, als kein Gericht ohne vorangegangene Aufhebung dieses Beschlusses über den Entscheidungsgegenstand neuerlich absprechen darf" (US 29).
Rechtliche Beurteilung
Wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, verletzen beide Entscheidungen das Gesetz.
Da § 127 StGB die Gegenstände eines einzigen diebischen Zugriffs unter dem Begriff „einer" fremden beweglichen Sache zusammenfasst, sind Wegfall oder Hinzukommen von Beutestücken weder unter dem Gesichtspunkt der Identität von Anklage- und Urteilsgegenstand - der Tat im prozessualen Sinn (§ 281 Abs 1 Z 7 und 8 StPO) - beachtlich noch verändern sie den dem materiellen Tatbegriff zugrunde liegenden, solcherart bloß handlungsbezogen definierten historischen Sachverhalt („wegnimmt"; vgl demgegenüber die Abgrenzung nach jeweils großen Mengen in § 28 Abs 2 SMG [13 Os 10/03, SSt 2003/21]). Die Begriffe Schuld- und Freispruch indes beziehen sich auf je eine Tat im materiellen Sinn (RIS-Justiz RS0091051; Platzgummer8 159; aM Kadecka, Handlungseinheit und Identität der Tat, JBl 1932, 49; Bertel, Die Identität der Tat; Höpfel, Staatsanwalt und Unschuldsvermutung, 94 ff) und sind in der StPO als kontradiktorisches Gegensatzpaar angelegt.
Hinsichtlich ein- und derselben Tat im materiellen Sinn kommt als urteilsmäßige Erledigung demnach nur entweder Schuldspruch oder Freispruch in Betracht. Das ist auch der Grund, warum nach ständiger Rechtsprechung ein Freispruch bloß von einer seitens des Anklägers für begründet erachteten Subsumtion der Tat nicht in Frage kommt (sog Subsumtions- oder Qualifikationsfreispruch; zum Ganzen: 15 Os 27, 60/02, SSt 64/35; 15 Os 5/05g; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 521 ff, § 295 Rz 18, JBl 2006, 291 und JBl 2005, 294; Schroll, WK-StPO § 34 Rz 46). Will das Gericht - wie vorliegend hinsichtlich der von Mario J***** am 23. Februar 2006 in der Wohnung des Bernhard T***** begangenen Tat (vgl US 17, 19 f, 26) - einzelne Beutestücke vom Schuldspruch wegen Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB ausnehmen, hat demnach entgegen vereinzelt gebliebenen älteren Entscheidungen in Betreff derselben kein Freispruch zu erfolgen (EvBl 1998/130). Einer (den Angeklagten nicht benachteiligenden, weil bloß) klarstellenden Beseitigung (vgl 14 Os 8/02, SSt 64/14 = EvBl 2002/154 = JBl 2002,
670) des verfehlten Freispruchs bedarf es nicht.
Die vom Schöffengericht bei seinem Vorbehaltsbeschluss ins Treffen geführte Bindungswirkung, welche nach Rechtskraft in die aus dem XX. Hauptstück der StPO erhellende Sperrwirkung übergeht, besteht nur bei identem Prozessgegenstand, also dann nicht, wenn - wie vorliegend - eine andere während der Probezeit begangene Straftat den Gegenstand der Entscheidung über den Widerruf bildet.
Indem jede Verurteilung wegen einer in der Probezeit begangenen strafbaren Handlung je für sich den im § 53 Abs 1 StGB genannten Widerrufsgrund bildet und es sich dabei um unterschiedliche Lebenssachverhalte handelt, die nur je (auch) dieselbe Sanktion zur Folge haben können, ist je gesondert eine eigene Widerrufsentscheidung zu treffen, so lange diese - nur einmal mögliche - Sanktion noch nicht verbraucht, die bedingte Strafnachsicht oder -entlassung mit anderen Worten noch nicht rechtskräftig widerrufen wurde.
Folgerichtig sieht das Gesetz einen Vorbehaltsbeschluss (§ 494a Abs 2 StPO) für Fälle, in denen wegen einer anderen Tat bereits eine noch nicht in Rechtskraft erwachsene Widerrufsentscheidung gefasst wurde, nicht vor.
Die gesetzesfremde Vorbehaltsentscheidung war zu beseitigen. Ein auf Straftaten, welche dem Schuldspruch des Rene K***** im angefochtenen Urteil zugrunde liegen, gegründeter Widerruf der bedingten Strafnachsicht oder eine darauf fußende Probezeitverlängerung kommt nicht mehr in Betracht, weil der Staatsanwalt die Beschwerde gegen das Unterbleiben einer solchen Entscheidung zurückgezogen hat (ON 40; Jerabek, WK-StPO § 494b Rz 1).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)