OGH 11Os48/06b

OGH11Os48/06b13.6.2006

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. Juni 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Mayrhofer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Gebhart als Schriftführer, in der Strafsache gegen Hans Klaus B***** wegen des Verbrechens des versuchten, schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 206 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 43 Hv 86/05f des Landesgerichtes Wiener Neustadt, gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 25. April 2006, AZ 19 Bs 126/06b (= ON 55 des Strafaktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Hans Klaus B***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Hans Klaus B***** wurde von einem Schöffengericht des Landesgerichtes Wiener Neustadt mit Urteil vom 28. März 2006, GZ 43 Hv 86/05f-47, des jeweils als Bestimmungstäter (§ 12 zweiter Fall StGB) begangenen Verbrechens des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 206 Abs 1 StGB und des ebenfalls im Versuchsstadium verbliebenen Vergehens der pornographischen Darstellung Minderjähriger nach § 207a Abs 1 Z 1 StGB schuldig erkannt und zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, von welcher ein Teil von zwei Jahren gemäß § 43a Abs 4 StGB bedingt nachgesehen wurde. Dieses Urteil wurde vom Angeklagten mit Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung, über welche noch nicht entschieden wurde, bekämpft.

B*****, über den mit Beschluss vom 27. Juli 2005 wegen des dringenden Verdachtes der Begehung der schließlich zum Schuldspruch führenden Taten aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO die Untersuchungshaft verhängt worden war, befindet sich seit 26. Juli 2005 in Haft. Zuletzt wies die Vorsitzende des Schöffengerichtes mit Beschluss vom 7. April 2006 einen Enthaftungsantrag wegen Fortbestehens des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr ab (ON 52).

Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 25. April 2006 nicht Folge (ON 55).

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten, mit welcher (nur) die Unverhältnismäßigkeit der über neun Monate währenden Untersuchungshaft als Grundrechtsverletzung releviert wird. Sie ist nicht im Recht.

Unverhältnismäßig ist gemäß § 180 Abs 1 letzter Satz StPO eine Untersuchungshaft dann, wenn sie gemessen an der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht mehr vertretbar ist. Bezugspunkt der Beschwerde und der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind jene Tatsachen, auf welchen die Entscheidung des Oberlandesgerichtes über die Zulässigkeit der Haftfortsetzung beruht, sowie die dagegen erhobenen Einwendungen.

Ausgehend davon geht die eine Verletzung des in Art 6 MRK normierten Rechtes auf ein faires Verfahren behauptende Kritik des Beschwerdeführers fehl. Der Beschwerdeansicht zuwider widerstreitet die Anhaltung in Untersuchungshaft nach einem in erster Instanz auf der Grundlage einer in ihrem Ablauf den Erfordernissen des Art 6 Abs 1 MRK entsprechenden Hauptverhandlung ergangenen Schuld- und Strafausspruch keineswegs der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK, sondern findet im Gegenteil ihre - nach Maßgabe der nationalen Gesetzeslage zu beurteilende - Rechtfertigung in Art 5 Abs 1 lit a MRK (vgl 14 Os 139/04). Denn die Vermutung, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld unschuldig sei, steht einem Freiheitsentzug in den in Art 5 MRK angeführten Fällen nicht entgegen, so auch dann nicht, wenn er rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht in Haft gehalten wird (Art 5 Abs 1 lit a MRK). Damit ist der Einwand, es widerspreche "jedem rechtstaatlichen Prinzip und auch dem in der Menschenrechtskonvention innewohnenden Rechtschutzprinzip, eine Person, für die die Unschuldsvermutung zu gelten hat, die nicht rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe vorweg verbüßen zu lassen", widerlegt. Weil die Untersuchungshaft, als welche auch die Haft zwischen erstinstanzlichem Schuldspruch und letztinstanzlicher Entscheidung ungeachtet dessen anzusehen ist, dass sie auf die verhängte Strafe anzurechnen ist, nach Zielsetzung und Ausgestaltung gänzlich andere Ziele und Zwecke verfolgt als die auf dem rechtskräftigen Schuldspruch basierende Strafhaft, kann entgegen der Beschwerde auch von einem vorweggenommenen Strafvollzug, welcher allerdings mit dem Grundsatz der Unschuldvermutung unvereinbar wäre, nicht gesprochen werden.

Als Kriterium für die Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt die Unschuldsvermutung bei Fortbestehen des dringenden Tatverdachtes und eines gesetzlichen Haftgrundes nicht in Betracht. Für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaft in Relation zur Bedeutung der Sache sind in erster Linie die abstrakte Strafdrohung für das angelastete Delikt und die nach der Verdachtslage konkrete Fallgestaltung entscheidend. Angesichts der hier maßgeblichen Sanktion des § 206 Abs 1 (Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren) und der im erstgerichtlichen Straferkenntnis (Freiheitsstrafe von drei Jahren) zum Ausdruck kommenden Schwere des in Rede stehenden Fehlverhaltens - Gründe, die eine andere Einschätzung der Bedeutung der Sache ermöglichen würden, wurden nicht ins Treffen geführt - kann keine Rede davon sein, dass die bisher erlittene Untersuchungshaft gemessen an der Bedeutung der Sache unverhältnismäßig ist. Aber auch im Vergleich zu der zu erwartenden Strafe, für deren Maß grundsätzlich die gesamte vom Erstgericht verhängte (Freiheits-)Strafe von hier drei Jahren, nicht aber deren unbedingter Teil (von einem Jahr) den wesentlichen Anhaltspunkt bildet, ist die bisherige neunmonatige Untersuchungshaft noch nicht unangemessen. Die vom Beschwerdeführer reklamierte Möglichkeit einer bedingten Entlassung, welche hier gemäß § 46 Abs 4 StGB indes von vornherein nicht in Betracht kommt, ist dabei nicht zu beachten (vgl 14 Os 139/04).

Aus der Gewährung teilbedingter Strafnachsicht (§ 43a Abs 4 StGB) kann ferner dann kein Rückschluss auf eine positive Verhaltensprognose - und damit das Fehlen der für den angenommenen Haftgrund erforderlichen Tatgefährlichkeit (§ 180 Abs 2 Z 3 StPO), worauf die Beschwerde der Sache nach abzielt - gezogen werden, wenn die Dauer der Untersuchungshaft jene des unbedingten Teiles der verhängten Freiheitsstrafe noch nicht erreicht hat. Denn die für die Anwendung teilweiser Strafnachsicht maßgebliche Erwartung künftigen Wohlverhaltens des Rechtsbrechers knüpften die Tatrichter an die gänzliche Verbüssung des unbedingten Strafteiles als notwendige Voraussetzung für die nur unter dieser Bedingung für gerechtfertigt erachtete Prognose. Weil im vorliegenden Fall die zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung neun Monate andauernde Untersuchungshaft den mit einem Jahr bestimmten unbedingten Strafteil noch nicht erreichte, ist dem Einwand, mit dem gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr argumentiert wird, die Grundlage entzogen. Die Beschwerde war daher - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - ohne Kostenausspruch abzuweisen.

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