OGH 15Os7/06b (15Os17/06y)

OGH15Os7/06b (15Os17/06y)19.4.2006

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. April 2006 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek, Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Hennrich als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Richard K***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung sowie über seine Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 10. Oktober 2005, GZ 032 Hv 120/05g-41, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Angeklagten wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung nicht bewilligt.

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Richard K***** (richtig:) der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I./), (richtig:) der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (II./) sowie des Verbrechens des versuchten sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 207 Abs 1 StGB (III./) schuldig erkannt.

Danach hat er in Wien

I. von April bis Juli 2005 in mehreren Angriffen mit einer unmündigen Person, nämlich der am 5. November 1998 geborenen Julia M***** dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er von ihr an sich einen Oralverkehr (und einen Handverkehr) vornehmen ließ (sowie mit dem Finger ihren Scheideneingang berührte und sie dort küsste);

II. von April bis Juli 2005 durch die in Punkt I. genannten Handlungen mit einer minderjährigen Person, der am 5. November 1998 geborenen Julia M*****, welche seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person eine geschlechtliche Handlung vorgenommen;

III. am 24. Juni 2005 versucht, außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person, nämlich der am 8. September 1991 geborenen Denise K***** vorzunehmen, indem er sie, unter dem Vorwand sie zu kitzeln, packte und ihr mit der Hand in den Hosenbund griff und ihre Scheide zu betasten trachtete. Der Angeklagte meldete rechtzeitig Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (S 395).

Dem Verteidiger wurde die schriftliche Urteilsausfertigung am 28. November 2005 zugestellt (S 3 j des AV-Bogens).

Die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung wurde am 28. Dezember 2005, somit einen Tag nach Ablauf der Rechtsmittelfrist, zur Post gegeben.

Der Umstand der Fristversäumung wurde dem Verteidiger nach dessen Vorbringen erstmalig durch die am 30. Jänner 2006 zugegangene Äußerung der Generalprokuratur vom 25. Jänner 2006, AZ Gs 48/06f, zur Kenntnis gebracht.

Mit am 8. Februar 2006 beim Obersten Gerichtshof eingelangtem Schriftsatz beantragte der Verteidiger die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der genannten Frist und wiederholte gleichzeitig wortident das Vorbringen der verspätet eingebrachten Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung. Zur Begründung brachte er vor, dass seine sehr erfahrene und ausgesprochen zuverlässige Sekretärin Sabine K***** das Ende der Frist zur Ausführung der angemeldeten Rechtsmittel aus nicht nachvollziehbaren Gründen in mehreren, teils elektronisch, teils in einem Papierkalender geführten Aufzeichnungen unrichtig mit 28. Dezember 2005 eingetragen und er dementsprechend „eine Haftnotiz mit dem Hinweis, dass die Frist auf den 27. Dezember 2005 vorzutragen ist, auf das Urteil geklebt" habe. Seinen Konzipienten, Dr. Mario M*****, habe er - im Hinblick auf seinen eigenen Urlaub zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel - ersucht, das Rechtsmittel rasch vorzubereiten und ihm so vorzulegen, dass es jedenfalls vor Weihnachten abgefertigt werden könne. Dr. M***** hätte das unrichtig eingetragene, noch nicht korrigierte Fristende aus den elektronischen Kanzleiaufzeichnungen in seinen privaten elektronischen Kalender übernommen und am 19. Dezember 2005 ein Konzept der Rechtsmittelausführung vorgelegt. Dessen Bearbeitung sei dem Verteidiger infolge einer für den Jahreswechsel geplanten, viel Zeit in Anspruch nehmenden Kanzleiübersiedlung erst am späten Nachmittag des 23. Dezember 2005 möglich gewesen. Danach hätte er die Rechtsmittelausfertigung zwecks Abfertigung zu oberst in die Postmappe gelegt, welche er auf dem sowohl von seiner als auch einer Sekretärin seines Regiepartners benützten Arbeitsplatz deponiert hätte. Er sei davon ausgegangen, dass die Postmappe ohne besondere Anweisung von jeder der beiden Kanzleiangestellten abgefertigt würde, wie dies bisher im Rahmen einer rund dreijährigen Regiegemeinschaft üblich gewesen wäre.

Letztlich sei die rechtzeitige Abfertigung am 27. Dezember 2005 unterblieben, da sich die Sekretärin des Verteidigers an diesem Tag mit bereits Anfang Dezember 2005 erfolgter schriftlicher Genehmigung auf Urlaub befand, der von ihr irrtümlich jedoch nicht im elektronischen Vormerksystem eingetragen worden war. Über sonstige urlaubsbedingte Abwesenheiten der Sekretärinnen sei der Verteidiger nur unvollständig informiert worden, sodass er nicht wissen hätte können, dass nur eine Kanzleiangestellte anwesend sein würde. Dr. M***** sei am 27. Dezember 2005 krankheitsbedingt nicht zur Arbeit erschienen, ohne dies wegen der für 28. Dezember 2005 absehbar wiedererlangten Arbeitsfähigkeit dem Dienstgeber zu melden. Die letztlich alleine in den Kanzleiräumlichkeiten anwesende Sekretärin hätte die auf dem Arbeitsplatz der Sabine K***** liegende Postmappe nicht bemerkt, da sie an ihrem Arbeitsplatz im Empfang vor dem Sekretariat aufhältig gewesen wäre.

Am 28. Dezember 2005 hätte Dr. M***** die Abfertigung der Nichtigkeitsbeschwerde an Hand der von ihm (kritiklos und unter Übergehen der auf den Fehler hinweisenden Haftnotiz) in seinem persönlichen Vormerksystem übernommenen, auch später nicht korrigierten und damit falschen Frist (28. Dezember 2005) kontrolliert und wäre so zur Meinung gelangt, dass das Rechtsmittel noch rechtzeitig zur Post gegeben würde.

Diese Verkettung unglücklicher Umstände sei dem Verteidiger bloß als ein Versehen minderen Grades anzulasten.

Rechtliche Beurteilung

Der Wiedereinsetzungsantrag ist nicht berechtigt.

Gemäß § 364 Abs 1 Z 1 StPO ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einem Angeklagten - neben anderen, hier nicht aktuellen Fällen - gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung eines Rechtsmittels zu bewilligen, sofern er nachweist, dass ihm die Einhaltung der Frist durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, es sei denn, dass ihm oder seinem Vertreter ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt.

Der Wiedereinsetzungsantrag kann sich auf ein vereinzeltes Versehen eines Kanzleiangestellten, dem ein Rechtsanwaltsanwärter gleichzuhalten ist, stützen (RIS-Justiz RS0101329), sofern dem Anwalt keine Verletzung seiner Überwachungspflicht anzulasten ist. Ausgehend von dem - überwiegend nicht bescheinigten - Vorbringen des Verteidigers war für ihn spätestens seit der erkannten fehlerhaften Berechnung und Eintragung des Ablaufes der Rechtsmittelfrist mit 28. Dezember 2005 offenkundig, dass seiner bis dahin von ihm als zuverlässig eingestuften Kanzleimitarbeiterin Fehler unterliefen; bei Anwendung bloß gewöhnlicher, jedenfalls zumutbarer Sorgfalt eines Verteidigers wäre er in Anbetracht der schwerwiegenden Folgen einer Fristenversäumung bereits zu diesem Zeitpunkt verhalten gewesen, die Korrektur der irrig gesetzten Terminvormerkung nicht bloß auf einer (zudem durch Ablösen leicht in Verstoß geratenden) Haftnotiz anzuordnen, sondern hätte deren sofortige Vornahme durch das Sekretariat persönlich überwachen müssen. Damit wäre die Übernahme der im Kanzleicomputer falsch eingetragenen Frist in andere Terminvormerksysteme, wie beispielsweise jenes des Konzipienten, verhindert worden.

Darüber hinaus wäre der Verteidiger, der zwar grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass der bloß manipulative Vorgang der Postabfertigung auch tatsächlich erfolgt, fallbezogen verpflichtet gewesen, die Rechtsmittelausführungen nicht bloß zuoberst in der am Arbeitsplatz seiner Sekretärin liegenden Postmappe zu deponieren. Auf Grund der besonderen Situation - nämlich der laut Vorbringen für den Jahreswechsel geplanten, mit vorhersehbaren massiven Mehrbelastungen auch der Kanzleimitarbeiter verbundenen und damit Fehlleistungen begünstigenden Kanzleiverlegung, der Enderledigung der Rechtsmittelausführungen am späten Nachmittag des 23. Dezember 2005, wodurch wegen der folgenden Weihnachtsfeiertage und wegen Urlaubes des Verteidigers eine (ebenfalls nach dem Antragsvorbringen) sonst bei Fristen übliche persönliche Abfertigung des Rechtsmittels durch Mag. B***** nicht möglich war, sondern nur eine Abfertigung am letzten Tag der Frist, nämlich dem 27. Dezember 2005 durch Kanzleimitarbeiter in Betracht kam, weiters des der Sekretärin Sabine K***** Anfang Dezember 2005 schriftlich genehmigten Urlaubes und der keineswegs unvorhersehbaren Möglichkeit der Erkrankung von Mitarbeitern - hätte er vielmehr bei gehöriger Sorgfalt Vorkehrungen zur Sicherstellung einer rechtzeitigen Abfertigung treffen müssen. Dies wäre vor allem durch unmittelbar mündliche, allenfalls telefonische Aufforderung zur Abfertigung möglich und erforderlich gewesen.

Insgesamt liegt somit nicht bloß eine Verkettung unglücklicher Umstände vor, sondern ein Organisations- und Aufsichtsverschulden, das angesichts der konkreten, eine besondere Sorgfalt erfordernden Umstände, nicht als Versehen bloß minderen Grades zu werten ist. Die Wiedereinsetzung war daher zu verweigern.

Demgemäß war die verspätet ausgeführte Nichtigkeitsbeschwerde, zumal bei deren Anmeldung keiner der in § 281 Abs 1 Z 1 bis 11 StPO angegebenen Nichtigkeitsgründe deutlich und bestimmt bezeichnet wurde, zurückzuweisen.

Dieser Erledigung wäre sie im Übrigen auch bei Rechtzeitigkeit zuzuführen gewesen, da sich die Mängelrüge (Z 5) unter Anführung selektiv herausgegriffener Aussageteile und spekulativer Erwägungen in der Bekämpfung der formell einwandfreien Beweiswürdigung des Erstgerichtes erschöpft und die Rechtsrüge (Z 9 lit a) die zur prozessordnungsgemäßen Ausführung dieses Nichtigkeitsgrundes notwendige Orientierung am Urteilssachverhalt vermissen lässt. Für ein amtswegiges Vorgehen (§ 290 Abs 1 zweiter Satz StPO) bietet das angefochtene Urteil keinen Anlass.

Über die rechtzeitig angemeldete Berufung des Angeklagten wird das zuständige Oberlandesgericht Wien zu entscheiden haben (§ 285i StPO). Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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