OGH 13Os106/05w

OGH13Os106/05w23.11.2005

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. November 2005 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Hon. Prof. Dr. Ratz, Hon. Prof. Dr. Schroll und Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Besenböck als Schriftführer, in der Strafsache gegen Oliver T***** wegen § 83 Abs 1 StGB über die vom Generalprokurator gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 19. April 2005, AZ 135 Bl 12/05y (GZ 16 U 74/04b-16 des Bezirksgerichtes Hietzing), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Sperker, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 19. April 2005, AZ 135 Bl 12/05y (GZ 16 U 74/04a-16 des Bezirksgerichtes Hietzing), verletzt das Gesetz

1. in dem aus dem III. Abschnitt des XXVI. Hauptstückes der StPO hervorgehenden Grundsatz, dass über alle gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes, von welcher Seite auch immer ergriffenen Berufungen gleichzeitig entschieden werden muss;

2. in der Bestimmung des § 498 Abs 3 letzter Satz StPO durch Unterlassen einer Entscheidung über die gemäß § 498 Abs 3 dritter Satz StPO implizierte Beschwerde gegen den Beschluss auf Verlängerung der Probezeit zu AZ 62 Hv 20002/01w des Landesgerichtes für Strafsachen Wien.

Dieses Urteil wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten Oliver T***** sowie über dessen implizierte Beschwerde (§ 498 Abs 3 StPO) aufgetragen.

Text

Gründe:

Oliver T***** wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes Hietzing vom 29. September 2004, GZ 16 U 74/04b-10, des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Wochen verurteilt. Gleichzeitig fasste das Erstgericht gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO den Beschluss, vom Widerruf der mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 31. Jänner 2002, AZ 62 Hv 20002/01w, gewährten bedingten Strafnachsicht hinsichtlich einer einjährigen Freiheitsstrafe abzusehen und gemäß § 494a Abs 6 StPO die Probezeit auf fünf Jahre zu verlängern. Der Beschuldigte und die Bezirksanwältin meldeten unmittelbar nach Urteilsverkündung mündlich „Berufung" an, ohne Beschwerdepunkte näher zu bezeichnen (S 77); die Rechtsmittelerklärung der Bezirksanwältin wurde schriftlich dahingehend präzisiert, dass sich die Berufung gegen den Ausspruch wegen Strafe wendet (ON 11). Eine Berufungsausführung wurde lediglich von der Staatsanwaltschaft eingebracht (ON 12).

Dem Landesgericht für Strafsachen Wien als Berufungsgericht wurden die bloß angemeldete, aber nicht ausgeführte Berufung des Angeklagten und die Rechtsmittelausführung der Staatsanwaltschaft mit gemeinsamem Vorlagebericht (ON 13) vorgelegt. Gegenstand der Berufungsverhandlung vom 19. April 2005, AZ 135 Bl 12/05y (GZ 16 U 74/04b-15 des Bezirksgerichtes Hietzing), zu der der Angeklagte trotz ausgewiesener Zustellung der Ladung nicht erschien, war lediglich die Berufung der Staatsanwaltschaft, welcher das Landesgericht für Strafsachen Wien durch Erhöhung der Freiheitsstrafe auf vier Wochen auch Folge gab.

Rechtliche Beurteilung

Dieses Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht verletzt - wie der Generalprokurator in der deswegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu Recht geltend macht - mehrfach das Gesetz:

Nach dem Gesamtzusammenhang der im III. Abschnitt des XXVI. Hauptstückes der Strafprozessordnung enthaltenen Bestimmungen ist - schon im Hinblick auf das Verbot mehrfacher Entscheidungen in derselben Strafsache; vgl Art 4 des 7. ZP zur EMRK - in einer nichtöffentlichen Sitzung oder Berufungsverhandlung über alle, von welcher Seite auch immer ergriffenen Berufungen gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes gleichzeitig zu entscheiden (vgl Ratz in WK-StPO § 473 Rz 1; 13 Os 186/97).

Gemäß § 498 Abs 3 letzter Satz StPO hat der für die Entscheidung über die zugunsten des Angeklagten ergriffene Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe zuständige Gerichtshof auch über die damit verbundene Beschwerde gegen einen gemäß § 494a StPO ergangenen Beschluss zu erkennen.

Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren wurde über die - wenn auch schriftlich unausgeführt gebliebene - Berufung des Angeklagten nicht entschieden, obgleich die nach Urteilsverkündung erfolgte Erklärung, „Berufung" anzumelden - in Anbetracht der leugnenden Einlassung des Rechtsmittelwerbers - jedenfalls als Urteilsanfechtung wegen Schuld und Strafe zu werten ist. Darüber hinaus unterblieb eine Entscheidung über die gemäß § 498 Abs 3 dritter Satz StPO implizierte Beschwerde gegen den Beschluss auf Verlängerung der Probezeit. Diese sich zum Nachteil des Angeklagten auswirkenden Gesetzesverletzungen erforderten die Kassation der Rechtsmittelentscheidung. Dem Berufungsgericht war daher aufzutragen, über sämtliche Berufungen und über die damit implizierte Beschwerde des Angeklagten zu entscheiden.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien wird in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen haben, dass der Erstrichter vor der Entscheidung über den Antrag der Anklagebehörde, vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu AZ 62 Hv 20002/01w des Landesgerichtes für Strafsachen Wien abzusehen und gemäß § 494a Abs 6 StPO die Probezeit auf fünf Jahre zu verlängern, entgegen § 494a Abs 3 StPO weder den Beschuldigten hörte noch (mangels Beischaffung) Einsicht in den Vorstrafakt oder zumindest in eine Abschrift des früheren Urteiles nahm.

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