OGH 2Ob93/04x

OGH2Ob93/04x20.10.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Dr. Baumann, Hon. Prof. Dr. Danzl und Dr. Veith als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Helmut C*****, vertreten durch Kortschak + Höfler Rechtsanwälte OEG in Leibnitz, gegen die beklagten Parteien 1. Venceslav R*****, Dalmatinska, Ulica N*****, und 2. Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, Schwarzenbergplatz 7, 1030 Wien, vertreten durch Dr. Erwin Bajc ua Rechtsanwälte in Bruck an der Mur, wegen EUR 399.368,67 und Feststellung, über die außerordentliche Revision beider Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht vom 22. Jänner 2004, GZ 6 R 213/03w-138, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind wie Verfahrenskosten erster Instanz zu behandeln.

Die außerordentliche Revision der beklagten Parteien wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung

Der Kläger wurde am 22. 12. 1994 als Insasse eines VW-Busses bei einem vom Erstbeklagten als Lenker eines LKW-Zuges verschuldeten Auffahrunfall verletzt. Die Haftung der beklagten Parteien für alle Unfallsfolgen aus diesem Unfall ist nicht mehr strittig. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Bemessung des Schmerzengeldes.

Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine Distorsion der Halswirbelsäule, Prellung und Abschürfung des Kniegelenkes links sowie eine Distorsion der Lendenwirbelsäule mit endgültiger Schädigung der vorgeschädigten Bandscheibe L 4/L 5. Bei einer am 18. 1. 1995 durchgeführten Computertomographie wurde ein "mediolateraler Bandscheibenprolaps älterer Genese L 3/L 4 und eine Bandscheibenprotrusion L 4/L5" diagnostiziert. Am 13. 2. 1995 wurde der Kläger wegen einer akuten Lendenwirbelsäulensymptomatik bei Diskusprolaps L 3/L 4 stationär im Landeskrankenhaus Bad Radkersburg aufgenommen und konservativ behandelt. Nach Durchführung einer Arthroskopie am linken Knie wurde am 17. 8. 1995 ein progredientes lumbales Wurzelirritationssyndrom bei bekanntem Diskusprolaps L 4/L 5 und L 3/L 4 diagnostiziert. Da keine Besserung der Leiden erfolgte, wurde am 25. 10. 1995 die erste Bandscheibenoperation, am 20. 6. 1996 die zweite und am 12. 2. 1997 die dritte Bandscheibenoperation durchgeführt. Weiters wurde der Kläger wiederholt stationär behandelt und am 17. 9. 1998 eine "Foraminotomie im Bereich der Lendenwirbelsäule L 3/L 4 rechts, L 4/L 5 beidseits und L 5/S 1 sowie eine Wurzelrevision L 4 und L 5 beidseits und eine Diskusresektion L 5/L 5" durchgeführt. Auch während des stationären Aufenthaltes wurden keine Fortschritte erzielt. Der Kläger leidet seit August 1995 an einer reaktiven Depression bei neurotischer Persönlichkeitsstruktur mit vegetativer Reizsymptomatik.

Beim Kläger waren zum Zeitpunkt des Unfalles bereits degenerative Veränderungen der Wirbelsäule vorhanden, und zwar eine geringgradig deformierende Spondylose in Abschnitten der mittleren Brustwirbelsäule. Durch den Aufprall des LKW-Zuges auf den VW-Bus kam es zu einer endgültigen Schädigung des Phasenringes der Bandscheibe L 4/L 5, die eine wechselhafte Schmerzsymptomatik mit Ausstrahlung sowohl in das rechte als auch das linke Bein des Klägers zu Folge hatte. Es kam zu einer akuten Manifestation der bereits degenerativ vorgeschädigten Bandscheibe. Bei einer vorgeschädigten Lendenwirbelsäule, wie der des Klägers, ist das Entstehen eines Bandscheibenvorfalles mit Nervenausfällen beim falschen Heben von schweren Lasten zwar viel wahrscheinlicher als bei einem Auffahrunfall, doch muss es bei Einhaltung einer entsprechenden Lebensweise und Gymnastik nicht zu einer derartigen Verschlechterung und den Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule kommen. Es kann nicht festgestellt werden, dass ohne den Unfall die aufgrund des Unfalles notwendig gewordenen Operationen und ein Berufswechsel notwendig geworden wären. Der Kläger wäre ohne den Unfall am 18. 1. 1995 uneingeschränkt arbeitsfähig gewesen, er hätte allerdings auf seine Wirbelsäule achten müssen.

Der Kläger ist aufgrund des Unfalles 100 % nicht mehr arbeitsfähig. Ohne den Unfall wäre es aufgrund der sowohl anlage- als auch berufsbedingten Bandscheibenschädigung nicht zu einem klinisch relevanten Bandscheibenvorfall gekommen, wenn der Kläger sich wirbelsäulengerecht und schonend verhalten hätte. Wenn er das nicht getan hätte, dann hätte ein derartiger Bandscheibenvorfall auch in einem wahrscheinlich kurzen Zeitraum, der medizinisch jedoch zeitlich nicht einschätzbar ist, durch jede Gelegenheitsursache, wie beispielsweise eine abrupte Drehbewegung oder das Anheben einer Last entstehen können. Mit zunehmendem Alter wird es möglicherweise zu einer progredienten Schmerzsymptomatik kommen, wobei weder das Schmerzausmaß noch die zeitliche Abfolge eingeschätzt werden kann. Der Kläger begehrte zunächst unter Berücksichtigung einer Zahlung von S 90.000 vor Klagseinbringung Zahlung von S 310.000 (EUR 22.528,58) an Schmerzengeld und dehnte diesen Betrag in der Verhandlung vom 2. 10. 2002 nach Erörterung des unfallchirurgischen Gutachtens um EUR 132.471,42 aus. Dem Kläger gebühre für die Zeit vom Unfall bis zum 29. 12. 2005 unter Berücksichtigung der körperlichen Schmerzen und der psychischen Alteration ein Schmerzengeld von insgesamt EUR 155.000, wovon S 310.000 bereits geltend gemacht worden seien. Die beklagten Parteien beantragten, soweit verfahrensgegenständlich, die Abweisung des Klagebegehrens. Das Schmerzengeld sei in Höhe von S 350.000 angemessen; es werde daher zusätzlich zu dem vor Einbringung der Klage bezahlten Betrag von S 90.000 ein weiterer Betrag von S 260.000 anerkannt. Die vom Kläger zur Begründung seines Schmerzengeldbegehrens angeführten Verletzungen im Bandscheibenbereich seien zwar unfallskausal; sie wären aber auch ohne das Unfallereignis eingetreten. Das geltend gemachte Schmerzengeld sei überhöht.

Das Erstgericht hat dem Kläger an Schmerzengeld EUR 65.351,16 samt gestaffelten Zinsen zugesprochen. Es erachtete insgesamt ein global zu bemessendes Schmerzengeld, das auch die künftigen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge zu erwartenden Schmerzen umfasst, von EUR 80.000 für angemessen. Unter Berücksichtigung des darauf geleisteten Betrages von S 310.000 (EUR 22.528,58) sei daher der Betrag von EUR 65.351,16 zuzusprechen.

Das von beiden Seiten angerufene Berufungsgericht hat dem Schmerzengeldbegehren mit einem Betrag von EUR 57.471,42 stattgegeben und das Mehrbegehren abgewiesen. Es teilte die Rechtsmeinung des Erstgerichtes, dass die beklagten Parteien den ihnen obliegenden Beweis, wann und in welchem Ausmaß eine Lendenwirbelsäuleschädigung des Klägers auch ohne den Unfall eingetreten wäre, nicht erbracht hätten, weshalb sie zur Gänze für die durch den Unfall ausgelösten Schäden des Klägers zu haften hätten.

Das Berufungsgericht erachtete zur Abgeltung aller Schmerzen, die der Kläger bereits erduldet habe und in Zukunft zu erdulden haben werde, ein (global bemessenes) Schmerzengeld von EUR 80.000 für angemessen. Unter Berücksichtigung der auf Schmerzengeld zweckgewidmeten Zahlungen von EUR 22.258,58 seien daher EUR 57.471,42 zuzusprechen. Auf den in der Berufung des Klägers enthaltenen Hinweis, die Bemessung des Schmerzengeldes sei nur bis zum 29. 12. 2005 möglich, ging es nicht ein.

Gegen diese Entscheidung richten sich die außerordentlichen Revisionen des Klägers und der beklagten Parteien.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Parteien ist mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt in seiner außerordentlichen Revision die Abänderung der angefochtenen Entscheidung dahingehend, dass ihm das gesamte begehrte Schmerzengeld zugesprochen werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagten Parteien beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision des Klägers ist zulässig, weil sich das Berufungsgericht mit dem Vorbringen, die Bemessung der unfallkausalen Schmerzen sei nur bis zum 29. 12. 2005 möglich, weshalb er keine Globalbemessung, sondern ausnahmsweise ein Teilbemessung verlangt habe, nicht ausreichend auseinandergesetzt hat. Sie ist auch im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Der Kläger hat nach Erörterung des medizinischen Sachverständigengutachtens sein Schmerzengeldbegehren für die Zeit vom Unfall bis zum 29. 12. 2005 ausgedehnt. Der medizinische Sachverständige hatte unmittelbar zuvor unter Bezug auf sein Ergänzungsgutachten ON 109 ausgeführt, der Zeitraum, für welchen die Schmerzen des Klägers für die Zukunft beurteilt werden könne, betrage fünf Jahre und beginne mit dem Zeitpunkt der Untersuchung am 29. 12. 2000. Daraus ist erkennbar, dass der Kläger ausdrücklich nur (Teil-)Schmerzengeld für die Zeit bis zum 29. 12. 2005 geltend machen wollte.

Nach stRspr ist eine mehrmalige Schmerzengeldbemessung nur dann zulässig, wenn eine Globalbemessung zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz versagt und zwar ua dann, wenn (trotz an sich abgeklärtem Verletzungsbild) Schmerzen in ihren Auswirkungen für den Verletzten zum Zeitpunkt des Schlusses erster Instanz noch gar nicht oder nicht endgültig überschaubar erscheinen (vgl Danzl-Gutierréz/Lobos-Müller Schmerzengeld8 171 mwN). Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist der Kläger behauptungs- und beweispflichtig. Er hat den Nachweis zu führen, dass die Geltendmachung eines Teilbetrages aus besonderen Gründen ausnahmsweise doch zulässig ist (Danzl aaO 173).

Ob, wie der Kläger behauptet, die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Teilschmerzengeldbemessung vorliegen, kann noch nicht abschließend beurteilt werden, weil Feststellungen fehlen, ob die Schmerzen, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge zu erwarten sind, überschaubar sind.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher das Erstgericht diese fehlenden Feststellungen nachzuholen habe.

Die Kostenentscheidung war der Endentscheidung vorzubehalten.

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