Spruch:
Den Revisionen wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der Kläger verlangt Schadenersatz nach einem Verkehrsunfall. Er wirft dem Erstbeklagten als LKW-Lenker vor, in Linz auf der Wiener Straße stadtauswärts gegen den vor ihm fahrenden PKW des Klägers gestoßen zu sein und diesen noch ein Stück geradeaus "mitgenommen" zu haben. Diese Unachtsamkeit begründe das Alleinverschulden des Erstbeklagten.
Die Beklagten wendeten Alleinverschulden des Klägers ein. Die bis zur Unfallstelle stadtauswärts zweispurig geführte Wiener Straße verenge sich vor dem Haus Nr 230 auf eine Spur. Der linke Fahrstreifen werde unbehindert weitergeführt, der rechte hingegen ende an der beginnenden Parkspur. Vor einem dort geparkten Klein-LKW habe der Kläger mittels Beschleunigung seines Fahrzeuges versucht, den vom Erstbeklagten gelenkten LKW rechts zu überholen, um sich dann nach links einzuordnen. Er habe jedoch zu knapp vor dem LKW die Spur gewechselt. Der Erstbeklagte habe keine Möglichkeit zur Verhinderung der Kollision gehabt. Weiters wandten die Beklagten eine Schadenersatzforderung aus dem selben Verkehrsunfall compensando gegen die Klagsforderung ein.
Das Erstgericht stellte - ausgehend von einer Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Gunsten des Klägers - die Klagsforderung mit EUR 13.713,62 als zu Recht bestehend fest und verurteilte die Beklagten nach Verneinung ihrer Gegenforderung zur Zahlung dieses Betrages sA. Das Mehrbegehren von weiteren EUR 7.856,81 sA wurde abgewiesen. Dem Feststellungsbegehren gab das Erstgericht im Ausmaß von zwei Dritteln Folge. Es ging hiebei von folgendem (vom Berufungsgericht verdeutlichten) Sachverhalt aus:
Ca 180 m vor der Unfallstelle weist der in Fahrtrichtung der Unfallsbeteiligten verlaufende Teil der Wiener Straße eine Breite von 8 m auf. Etwa 100 m vor der Unfallstelle verengt sich die Fahrbahnbreite sukzessive. 15 m vor der Unfallstelle beträgt sie für die Fahrtrichtung der Unfallsbeteiligten noch 6 m. Zur Zeit des Unfalles waren am rechten Fahrbahnrand Fahrzeuge geparkt. Deshalb betrug die tatsächlich nutzbare Fahrbahnbreite nur 4 m. Die beiden Fahrbahnhälften sind durchgehend durch eine Leitlinie getrennt. Etwa 180 m vor der Unfallstelle endet eine weitere die beiden Fahrstreifen in Fahrtrichtung der Unfallsbeteiligten trennende Leitlinie.
Der Kläger fuhr mit seinem PKW zunächst hinter dem vom Erstbeklagten auf dem linken Teil des rechten Fahrstreifens (gemeint: der rechten Fahrbahnhälfte) gelenkten LKW und gelangte schließlich auf dessen rechter Seite vor diesen (Frontabstand 2,5 bis 3 m). Auf Höhe des Hauses Nr 230 war wegen eines dort abgestellten Klein-LKW Ford Transit kein Nebeneinanderfahren mehr möglich. Als der Kläger zwecks Vorbeifahrt am abgestellten Ford Transit nach links auslenkte, stieß er mit der linken Fahrzeugseite gegen die rechte Frontecke des vom Erstbeklagten gelenkten LKW. Über eine weitere Fahrstrecke von etwa 20 m blieben die beiden Fahrzeuge ineinander verhakt. Der Kläger hätte die Kollision verhindern können, wenn er vor dem Linksverlenken abgebremst und den anderen hätte vorfahren lassen. Auch der Erstbeklagte hätte durch Verringerung seiner Geschwindigkeit und durch Einordnenlassen des vom Kläger gelenkten PKW die Kollision verhindern können.
In seiner rechtlichen Beurteilung nach den §§ 11 und 19 StVO führte das Erstgericht aus, dass § 11 Abs 5 StVO ("Reißverschlusssystem") voraussetze, dass einer von zwei Fahrstreifen ende oder auf Grund von Hindernissen zur Gänze blockiert werde. Dies sei hier nicht der Fall, sondern es verengten sich zwei Fahrstreifen auf einen breiteren Fahrstreifen. Diese Situation sei nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt, sodass der Rechtsvorrang des § 19 StVO anzuwenden sei. Dem Erstbeklagten falle daher eine Vorrangverletzung zur Last. Den Kläger treffe wegen der nicht genutzten Möglichkeit zur Unfallverhinderung ein Mitverschulden von einem Drittel.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und der Berufung der beklagten Parteien teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil - ausgehend von einem gleichteiligen - Verschulden dahin ab, dass die Klagsforderung mit EUR 9.960,21 sA zu Recht bestehend, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend erkannt wurde, die Beklagten zur Zahlung von EUR 9.960,21 sA verurteilt wurden und dem Feststellungsbegehren zur Hälfte stattgegeben wurde; die Mehrbegehren wurden abgewiesen. Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstandes insgesamt EUR 20.000,-- übersteige und dass die ordentliche Revision zulässig sei. Zur Rechtsfrage führte es im Wesentlichen Folgendes aus:
Eine Vorrangsituation setze voraus, dass Fahrzeuge aus verschiedenen Straßen so aufeinander zukommen, dass bei Fortsetzung der Fahrten eine Überschneidung der Fahrlinien eintrete und im Kreuzungsbereich Kollisionsgefahr bestehe. Daran sei festzuhalten: Wo keine Kreuzung sei, könne auch keine Vorrangsituation angenommen werden. Der hier zu beurteilende Unfall habe sich weder auf einer Kreuzung noch in der Nähe einer solchen ereignet. Die Vorrangregeln des § 19 StVO seien daher hier nicht anwendbar, und zwar weder direkt noch analog. Die gegenteilige vom Erstgericht herangezogene Judikatur stamme vom Verwaltungsgerichtshof (87/18/0032) und sei vereinzelt geblieben. Ihr sei nicht zu folgen. Der vom Kläger zitierten Entscheidung 8 Ob 49/79 sei der Sachverhalt zugrundegelegen, dass eine zunächst aus zwei Fahrstreifen bestehende Fahrbahn sich nach einer Kreuzung nur mehr in einem Fahrstreifen fortsetzte. Der Oberste Gerichtshof habe dort ausgeführt, dass mangels ausdrücklicher Regelung dieser Verkehrslage im Gesetz die Rechtsregel des § 19 Abs 1 StVO sinngemäß anzuwenden sei.
Auch dieser Entscheidung sei zumindest seit der 10. StVO-Novelle (BGBl 1983/174) nicht mehr zu folgen, weil der Gesetzgeber mit dem im Jahre 1983 neu geschaffenen Abs 5 des § 11 StVO das "Reißverschlusssystem" eingeführt habe. Ein Anwendungsfall dieser Bestimmung sei hier gegeben. Entgegen der Ansicht des Erstgerichtes und des Verwaltungsgerichtshofes setze das Reißverschlusssystems des § 11 Abs 5 StVO nicht voraus, dass einer von zwei Fahrstreifen abrupt ende, sondern es genüge, dass das durchgehende Befahren nicht möglich sei. Das durchgehende Befahren sei auch dann nicht möglich, wenn zwei Fahrstreifen, die zufolge § 2 Abs 1 Z 5 StVO auch schmäler als je 2,5 m sein können, durch allmähliche Verengung in einen einzigen übergehen. Diesen Anwendungsfall würden die Gesetzesmaterialien zur 10. StVO-Nov sogar ausdrücklich vorsehen.
Daraus folge, dass hier beide beteiligten Fahrzeuglenker zu dem im § 11 Abs 5 StVO vorgeschriebenen Verhalten verpflichtet gewesen seien und jeder von ihnen zu Unrecht einen Vorrang für sich in Anspruch genommen und auf diesem beharrt habe. Die sukzessive Fahrbahnverengung habe beide in gleicher Weise betroffen. Dies begründe ihr gleichteiliges Verschulden. Da der Erstbeklagte in Annäherung an die Unfallstelle eine solche Fahrlinie gewählt habe, dass rechts neben ihm ausreichend Platz für einen PKW geblieben sei, habe er mit dem PKW des Klägers rechnen müssen und könne sich nicht damit entlasten, dass er diesen nur schlecht oder nur in bestimmten Phasen der Annäherung im rechten Außenspiegel habe sehen können. Soweit die Rundumsicht vom Fahrersitz des vom Erstbeklagten gelenkten LKW bauartbedingt schlechter sei als vom Fahrersitz eines PKW, sei dieser Umstand durch entsprechende Aufmerksamkeit auszugleichen und verschiebe das Verschulden nicht.
Die ordentliche Revision sei gemäß § 502 Abs 1 ZPO zulässig, weil das Berufungsgericht von einer Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei und weil zum Zusammentreffen von straßenbaulicher Fahrbahnverengung mit Verparkung keine oberstgerichtliche Judikatur auffindbar gewesen sei.
Gegen diese Berufungsentscheidung richten sich die Revisionen aller Parteien wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Der Kläger beantragt die Abänderung der angefochtenen Entscheidung auf der Basis des Alleinverschuldens des Erstbeklagten; die Beklagten streben eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zu ihren Gunsten an; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
In ihren Revisionsbeantwortungen beantragen die Parteien jeweils, der Revision der Gegenseite nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionen sind zulässig; zwar kommt es hiebei gemäß § 502 Abs 1 ZPO nicht auf eine entsprechende Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes an, es fehlt aber an einer ausreichenden Judikatur des Obersten Gerichtshofes zu § 11 Abs 5 StVO (nur 2 Ob 74/94 = ZVR 1995/140). Die Revisionen sind im Sinne der Aufhebungsanträge auch berechtigt.
Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, ihm sei gemäß § 19 Abs 1 StVO der Vorrang zugekommen, § 11 Abs 5 StVO sei nicht anwendbar; selbst dann hätte der Erstbeklagte gegen § 11 Abs 1 StVO verstoßen. Die Beklagten behaupten, es sei nicht § 19 StVO, sondern § 11 Abs 5 StVO anzuwenden; der Kläger habe gegen § 11 Abs 1 und 2 StVO verstoßen, ihn treffe das überwiegende Verschulden.
Hiezu wurde erwogen:
Gemäß § 11 Abs 5 StVO ist, wenn auf Straßen mit mehr als einem Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich ist oder ein Fahrstreifen endet, den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Wechsel auf den zunächst gelegenen verbleibenden Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass diese Fahrzeuge jeweils im Wechsel einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug nachfolgen können (Reißverschlusssystem).
Wie den bereits vom Berufungsgericht zitierten Gesetzesmaterialien (abgedruckt in MGA StVO11 § 11 Anm 16) zu entnehmen ist, fällt unter diese Bestimmung nicht nur die Verlegung eines Fahrstreifens (durch ein Hindernis), sondern auch die (allmähliche) Verengung von zwei Fahrstreifen auf einen (anders VwGH 87/18/0032 = VwSlg 12.524/A; Dittrich/Stolzlechner § 11 StVO Rz 121). Die Anwendbarkeit des Reißverschlusssystems setzt allerdings Kolonnenverkehr voraus (Dittrich/Stolzlechner aaO Rz 114), wobei bereits je zwei Fahrzeuge genügen (Grundtner, Reißverschlusssystem, ZVR 1985, 35 P. 4; anders Dittrich/Stolzlechner aaO Rz 115). Einen auf seinem Vorfahrtsrecht gemäß § 11 Abs 5 StVO rücksichtslos beharrenden Lenker kann freilich ein - regelmäßig geringer zu gewichtendes - Mitverschulden treffen (Dittrich/Stolzlechner aaO Rz 125; Grundtner aaO P. 11).
Bei Aufeinandertreffen einzelner Fahrzeuge - oder der jeweils ersten Fahrzeuge von Kolonnen (argumentum "nachfolgen"; vgl Grundtner aaO P. 7; Dittrich/Stolzlechner aaO Rz 127) - gilt nach wie vor der so genannte Spurenvorrang, dh der auf einem aufhörenden Fahrstreifen fahrende Lenker hat dem auf dem fortgeführten Fahrstreifen fahrenden Lenker die Vorfahrt zu überlassen (RIS-Justiz RS0058743; Dittrich/Stolzlechner aaO Rz 111 f, 116; Grundtner aaO P. 6). Welcher Fahrstreifen aufhört, kann sich aus Bodenmarkierungen oder der Lage von Hindernissen (Baustellen) ergeben; im Falle einer allmählichen Verengung ist regelmäßig der rechte Fahrstreifen als fortgeführt zu betrachten (vgl Grundtner aaO P. 6 mwN).
Im vorliegenden Fall kann die - vom Erstgericht verneinte, vom Berufungsgericht bejahte - Anwendbarkeit des § 11 Abs 5 StVO noch nicht verlässlich beurteilt werden, weil nicht feststeht, ob sich die beiden Unfallsfahrzeuge überhaupt im Kolonnenverkehr befunden haben. Die Rechtssache war daher unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Sollte sich im fortgesetzten Verfahren ergeben, dass die beteiligten Lenker im Kolonnenverkehr fuhren, wäre auch festzustellen, wie die Reihenfolge im "Reißverschluss" gewesen wäre (vgl 2 Ob 74/94). Dem danach Vorfahrtberechtigten könnte allerdings - wie schon erwähnt - ein Mitverschulden zur Last fallen. Sollte sich hingegen ergeben, dass es sich um keinen Kolonnenverkehr (oder um die ersten Fahrzeuge von Kolonnen) handelte, wäre bei der hier gegebenen allmählichen Fahrbahnverengung von zwei auf einen Fahrstreifen (der rechte Fahrbahnrand war nach den Präzisierungen des Berufungsgerichtes nicht erst an der Unfallstelle, sondern schon vorher, wenn auch nicht lückenlos verparkt; die vor der Unfallstelle für den Fließverkehr verbleibende Fahrbahnbreite von 4 m reichte für das gefahrenlose Nebeneinanderfahren von LKW und PKW nicht aus) der vom Kläger benützte rechte Fahrstreifen als fortgesetzt und der vom Erstbeklagten benutzte linke (bis dahin zweite) Fahrstreifen als aufhörend anzusehen. Dem Kläger käme dann zwar der "Spurenvorrang" zu; seine festgestellte gefährliche Fahrweise würde aber - wie vom Erstgericht zutreffend angenommen - ein Mitverschulden von einem Drittel begründen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.
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