OGH 10ObS142/04m

OGH10ObS142/04m23.11.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Matzka (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Eva-Maria Florianschütz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Katharina W*****, vertreten durch ihre Mutter Natascha S*****, beide ***** diese vertreten durch Dr. Friedrich Fromherz und andere Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Land Niederösterreich, 3109 St. Pölten, Landhausplatz 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2004, GZ 10 Rs 26/04y-20, womit infolge Berufungen beider Parteien das Urteil des Landesgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 3. September 2003, GZ 7 Cgs 217/02y-15, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen der Klagevertreter die mit EUR 818,97 (darin enthalten EUR 136,49 an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 20. 12. 2001 wurde der Klägerin Pflegegeld der Stufe 2 für den Zeitraum vom 1. 12. 2001 bis 30. 11. 2003 unter Abzug eines Betrags von EUR 60 an Erhöhung der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder gewährt.

Mit Bescheid vom 9. 7. 2002 wies die beklagte Partei den Antrag vom 3. 6. 2002 auf Erhöhung des Pflegegeldes mit der Begründung ab, dass der durchschnittliche Pflegebedarf der Klägerin 108 Stunden monatlich betrage und daher nur den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 rechtfertige.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren insoweit statt, als es der Klägerin ab dem 1. 7. 2002 ein Pflegegeld in Höhe von monatlich EUR 620,30 (Stufe 4) abzüglich der halben erhöhten Familienbeihilfe und der bisher erbrachten Leistungen in Höhe der Pflegegeldstufe 2 zuerkannte. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren wies es ab.

Nach seinen Feststellungen leidet die am 17. 11. 1998 geborene Klägerin an einem congenitalen Dysmorphiesyndrom (Hypertelorismus, Epikantus) mit spinaler Malformation, einem congenitalen Vitium (Aortenisthmusstenose), einem Status post posteriorer sagittaler Analrektalplastik, einem caudalen Regressionssyndrom, einer inkompletten Querschnittlähmung, einer psychomotorischen Retardierung, einem Status post Korrektur der Aortenisthmusstenose, einem status post posteriorer sagittaler Analrectalplastik und einem status post Hüftbeugerelease.

Die Klägerin hat sich trotz ihrer beträchtlichen medizinischen Probleme relativ gut entwickelt; sie weist zwar eine psychomotorische Retardierung auf, sie ist aber ein sehr fröhliches, kontaktfreudiges Mädchen, das langsam Entwicklungsfortschritte macht.

Die motorische Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass die unteren Extremitäten in ihrer Funktion deutlich eingeschränkt sind; die Klägerin bewegt sich robbend und rollend fort. In den letzten Monaten hat sie gelernt, kurz frei zu sitzen; sie braucht aber jemanden in ihrer Nähe, der sie stützt, wenn sie ihr Körpergewicht nicht mehr selbst halten kann. Durch die gute Entwicklung der oberen Extremität hat sie eine gewisse Mobilität erreicht; sie kann sich im Wohnbereich weitgehend selbständig fortbewegen. Die Feinmotorik ist so entwickelt, dass die Klägerin Verschlüsse öffnen und Perlen auffädeln kann. Die Klägerin besucht seit September 2002 einen Kindergarten und ist dort in der heilpädagogisch-integrativen Gruppe untergebracht. Sie erhält Physiotherapie; die Therapeutin kommt ins Haus und führt Bobaththerapie durch. Außerdem wird eine Hippotherapie und eine Kraniosakraltherapie durchgeführt.

Die Klägerin hat über den Pflegebedarf gleichaltriger, nicht behinderter Kinder hinaus folgenden Pflegebedarf:

Sie kann sich nicht allein waschen, duschen oder baden; sie kann auch nicht alleine Zähne putzen. Sie kann lediglich alleine oberflächlich ihre Hände waschen. Es ist durchaus üblich, vierjährige Kinder täglich zu baden oder zu duschen, auch wenn sie nicht behindert sind. Auch solche Kinder wehren sich gegen das Zähneputzen. Durchschnittliche gleichaltrige Kinder haben aber bereits eine gewisse Selbständigkeit bei solchen Verrichtungen. Der Pflegebedarf der Klägerin ist im Monat um 12,5 Stunden höher als der eines gleichaltrigen durchschnittlichen Kindes.

Die Klägerin kann nicht alleine essen. Sie kann wohl einen Löffel halten, aber nicht selbständig essen, weil sie viel patzt und im Umgang mit Besteck nicht zurecht kommt. Sie ist aber in der Lage, feste Nahrung zu beißen; sie kann normal kauen und benötigt keine breiige Kost. Ohne entsprechende Vorrichtung kann die Klägerin aus einem Glas oder einer Tasse nicht trinken. Sie muss bei allen Mahlzeiten gefüttert werden. Auch ein nichtbehindertes gleichaltriges Kind benötigt (bei der Einnahme von Mahlzeiten) eine gewisse Beaufsichtigung. Die Klägerin hat gegenüber einem solchen Kind einen Mehrbedarf von 30 Stunden monatlich.

Die Klägerin ist aufgrund der Querschnittsymptomatik harn- und stuhlinkontinent und muss daher ständig eine Windel tragen. Sie muss vollständig an- und ausgekleidet werden; sie kann weder ein T-Shirt anziehen, noch Socken an- oder ausziehen. Ein gleichaltriges, nichtbehindertes Kind kann sich im Wesentlichen ohne fremde Hilfe an- und ausziehen; es bedarf nur handgriffsartiger Hilfe zB beim Binden von Schuhbändern oder im Sinne einer Anleitung, welche konkreten Kleidungsstücke es anziehen soll.

Die Klägerin ist häufig obstipiert; dem muss mit regelmäßiger (zwei- bis dreimal) Gabe von Laevolac vorgebeugt werden. Damit ist allerdings kein relevanter Zeitbedarf verbunden.

Die Klägerin kann nicht gehen und frei und aufrecht stehen, auch nicht mit Hilfe einer A-Schiene, das ist eine Vorrichtung, die Schalen für beide Füße, beide Unterschenkel und das Gesäß aufweist und die mit Riemen an der Vorderseite der Unterschenkel, am Rist und am Bauch geschlossen werden kann. Die Klägerin kann, wenn sie diese Schiene trägt, unter Aufsicht und mit Unterstützung Gegenstände (zB Spielzeug) aus Kästen und Läden herausnehmen und sich damit beschäftigen. Sie kann aber nicht essen oder sonstige Gegenstände von einem Tisch nehmen und muss ansonsten getragen werden. Die A-Schiene trägt die Klägerin täglich etwa eine Stunde lang; das An- und Ablegen der Schiene ist relativ aufwendig und nimmt 10 Minuten täglich (fünf Stunden monatlich) in Anspruch.

Die Klägerin muss orthopädische Schuhe tragen, die die Fehlstellung der Füße ausgleichen sollen. Die Schuhe sollen daher untertags nicht zu oft an- und ausgezogen werden. Über dem orthopädischen Schuh trägt die Klägerin einen normalen Kinderkonfektionsschuh. Das Ausziehen des Schuhs nimmt zwei Minuten in Anspruch, das Anziehen fünf Minuten. Das An- und Ablegen eines Paares Schuhe dauert daher 14 Minuten. Die Klägerin trägt die orthopädischen Schuhe über der Strumpfhose und unter der Überhose. Wenn sich die Klägerin schmutzig macht oder die Strumpfhose trotz Windel verunreinigt ist, müssen die orthopädischen Schuhe abgelegt werden, um die Strumpfhose wechseln zu können. Die Klägerin hat auch Schienen für die Kniegelenke, die sie aber nicht ständig trägt. Die Schienen sind ebenfalls über der Strumpfhose, aber unter der Überhose zu tragen. Auch zum Ausziehen der Überhose ist es notwendig, zunächst die orthopädischen Schuhe abzulegen.

Vor dem Anlegen der Knieschienen und der orthopädischen Schuhe ist es notwendig, die Knie- bzw Knöchelgelenke durchzubewegen und aufzudehnen. Das nimmt etwa 30 Minuten täglich (15 Stunden monatlich) in Anspruch.

Das An- und Ablegen der orthopädischen Schuhe ist fünfmal täglich nötig; der Zeitaufwand hiefür beträgt fünfmal 14 Minuten täglich (35 Stunden monatlich).

Außer Haus benötigt die Klägerin Hilfe durch eine Betreuungsperson. Sie kann sich außerhalb der Wohnung nicht fortbewegen und benötigt für den Weg zum und vom Kindergarten sowie für Wege zum Arzt oder zur Therapie fremde Hilfe.

Die Klägerin ist psychomotorisch retardiert; es ist für die Durchführung therapeutischer Maßnahmen, aber auch für alltägliche Verrichtungen Motivation notwendig.

Aufgrund der in den letzten Monaten erreichten Mobilität durch Robben und Rollen gelangt die Klägerin durchaus in Gefahrenbereiche und kann nicht allein gelassen werden. Sie benötigt eine Aufsichtsperson in unmittelbarer Nähe oder zumindest in Rufweite. Bei jeglichem Transfer, zB vom Boden auf einen Sessel, benötigt sie Hilfe.

In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Erstgericht von folgendem - monatlichem - pflegegeldrelevanten Bedarf an Betreuung und Hilfe aus:

tägliche Körperpflege 12,5 Stunden

Einnehmen von Mahlzeiten 30 Stunden

Reinigung bei Inkontinenz 20 Stunden

An- und Auskleiden 20 Stunden

Anlegen der A-Schiene 5 Stunden

Dehnen und Bewegen der Knie- bzw

Knöchelgelenke 15 Stunden

Anlegen orthopädischer Schuhe 35 Stunden

Mobilitätshilfe im engeren Sinn 15 Stunden

Motivationsgespräch 10 Stunden

insgesamt 162,5 Stunden.

Für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn sei kein Zeitwert anzunehmen, weil auch ein gleichaltriges, nichtbehindertes Kind bei Wegen außer Haus jedenfalls die Begleitung einer Aufsichtsperson benötige.

Bei dem festgestellten Pflegebedarf handle es sich um den Aufwand, der im Sinn des § 4 Abs 3 NÖPGG über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen, nicht behinderten Kindern hinausgehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin keine Folge und änderte in teilweiser Stattgebung der Berufung der beklagten Partei das Ersturteil dahin ab, dass die beklagte Partei verpflichtet wurde, der Klägerin Pflegegeld der Stufe 3 in Höhe von EUR 413,50 monatlich unter Anrechnung der erhöhten Familienbeihilfe und der bisher geleisteten Zahlungen der Pflegegeldstufe 2 zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes wurde abgewiesen.

Nach Ansicht des Berufungsgerichtes betrage der monatliche Pflegebedarf der Klägerin nur 132,5 Stunden, da entgegen der Ansicht des Erstgerichtes die notwendige Hilfe beim Anlegen der A-Schiene (5 Stunden monatlich) und das im Zusammenhang mit dem Anlegen der orthopädischen Schuhe notwendige Dehnen und Bewegen der Knöchel (15 Stunden monatlich) keine pflegegeldrelevanten Leistungen darstellten. Es handle sich dabei vielmehr um therapeutische Verfahren, die der Erhaltung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes dienten und daher weder der Betreuung noch der Hilfe zuzurechnen seien. Das Anlegen der orthopädischen Schuhe könne hingegen im Sinne der Einstufungsverordnung der Betreuungsverrichtung "An- und Auskleiden" zugerechnet werden. Auch der Zeitaufwand für ein Motivationsgespräch (10 Stunden monatlich) sei nicht zu berücksichtigen. Hinsichtlich der übrigen im Berufungsverfahren noch strittigen Betreuungs- und Hilfsverrichtungen schloss sich das Berufungsgericht hingegen im Wesentlichen der Rechtsansicht des Erstgerichtes an.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei, weil das Berufungsgericht der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gefolgt sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung der angefochtenen Entscheidung dahin, dass der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 6 im gesetzlichen Ausmaß zuerkannt werde.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht teilweise von der (jüngeren) Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist. Sie ist auch zum Teil berechtigt.

Nach § 4 Abs 3 des hier anzuwendenden NÖPGG 1993, LGBl 1993/47 idF LGBl 1999/6, ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfes von Kindern und Jugendlichen nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht. Somit ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen auch nach dem NÖPGG ein Vergleich zwischen behinderten Minderjährigen mit gleichaltrigen nichtbehinderten Kindern bzw Jugendlichen anzustellen. Nur der bei behinderten Minderjährigen auftretende "pflegebedingte Mehraufwand" ist durch die Gewährung von Pflegegeld auszugleichen, während der altersbedingte Pflegeaufwand bei der Beurteilung des Pflegegeldanspruches auszuscheiden ist (vgl SSV-NF 16/23 mwN uva).

Bei der Klägerin besteht unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes ein unstrittiger Pflegebedarf in dem vom Berufungsgericht festgestellten Ausmaß von 132,5 Stunden monatlich. Strittig ist im Revisionsverfahren, ob darüber hinaus ein weiterer Pflegebedarf für die Einnahme von Medikamenten von drei Stunden monatlich, für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn von 10 Stunden monatlich, für den Mehraufwand für die Verrichtung der Notdurft bzw die Reinigung bei Inkontinenz von 10 Stunden monatlich, für das Dehnen und Bewegen der Knie- bzw Knöchelgelenke vor dem Anlegen der orthopädischen Schuhe von 15 Stunden monatlich und ein Pflegebedarf für Motivationsgespräche von 10 Stunden monatlich - insgesamt also ein Pflegebedarf von 180,5 Stunden monatlich - besteht. In der Revision wird dazu zusammengefasst der Standpunkt vertreten, dass der jeweils angegebene Pflegebedarf für die genannten Verrichtungen zu berücksichtigen sei und die Klägerin wegen Selbstgefährdung nicht alleine gelassen werden könne, sodass ihr Pflegegeld der Stufe 6 gebühre.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

1. Zur Verabreichung von Medikamenten:

Dass es sich bei der Hilfe für das Einnehmen von Medikamenten um eine pflegegeldrelevante Betreuungsleistung handelt, zeigt schon der Umstand, dass § 1 Abs 3 EinstV zum NÖPGG dafür ausdrücklich einen Richtwert von sechs Minuten täglich (= drei Stunden monatlich) vorsieht. Nach den Feststellungen ist die Klägerin häufig obstipiert und es muss diesem Zustand mit regelmäßiger (zwei- bis dreimal) Gabe eines Medikamentes vorgebeugt werden. Eine Berücksichtigung dieses Betreuungsaufwandes ist gerechtfertigt, weil ein gesundes Kind im Gegensatz zur Klägerin nicht regelmäßig Medikamente einnehmen muss (SSV-NF 15/106; 15/130; 16/4 ua). In den Erläuternden Bemerkungen zur Einstufungsverordnung 1999 (zum BPGG) wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Zeitaufwand für die Einnahme von Medikamenten nicht im zeitlichen Aufwand für die Einnahme von Mahlzeiten inkludiert sei, sondern stets gesondert zu berücksichtigen sei, da die Medikamenteneinnahme sowohl zu den Mahlzeiten als auch zu exakt festgelegten Zeiten vor und nach der Essenseinnahme bzw in dazwischenliegenden Zeiträumen notwendig sein könne (vgl Fürstl-Grasser/Pallinger, Die neue Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz samt Erläuterungen, SozSi 1999, 282 ff [285]). In diesem Sinn liegt entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ein pflegededingter Mehraufwand vor, dessen zeitliches Ausmaß von drei Stunden monatlich auch in den Rechtsmittelausführungen nicht in Zweifel gezogen wird (vgl SSV-NF 15/106; 15/130; 16/4 ua; gegenteilig noch SSV-NF 12/13).

2. Zum Erfordernis der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn:

Zur Mobilitätshilfe im weiteren Sinn nach § 2 Abs 2 EinstV zählt die Begleitung des Pflegebedürftigen bei unbedingt erforderlichen Verrichtungen außer Haus, insbesondere auch die Begleitung zu krankheits- oder therapiebedingten Untersuchungen, Behandlungen und Kontrollen bei Ärzten oder Therapeuten (SSV-NF 8/79; 11/5; 16/4; 16/23 ua). Es trifft zwar zu, dass auch ein nichtbehindertes Kind im Alter der Klägerin noch einer Begleitung zum Arzt oder zur Therapie bedarf; entscheidend ist aber, dass das behinderte Kind krankheits- oder thrapiebedingt viel häufiger zu Untersuchungen, Behandlungen, Therapien und ärztlichen Kontrollen gebracht werden muss als ein nichtbehindertes Kind und daher insoweit ein pflegebedingter Mehraufwand besteht (SSV-NF 16/4; 16/23 ua; gegenteilig noch 10 ObS 66/01f), wobei nach den Feststellungen des Erstgerichtes neben der von einer Physiotherapeutin in der Wohnung der Klägerin praktizierten Bobaththerapie auch eine Hippotherapie durchgeführt wird, die notwendig außer Haus erfolgt. Es ist deshalb entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen bei der Bemessung des Pflegebedarfes auch der von der Klägerin dafür in Anschlag gebrachte Zeitaufwand von 10 Stunden monatlich zu berücksichtigen ist.

3. Zum Zeitaufwand für das Dehnen und Bewegen der Knie- und Knöchelgelenke vor dem Anlegen der Knieschienen und der orthopädischen Schuhe:

Es ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig, dass die für das Anlegen der orthopädischen Schuhe bei der Klägerin notwendige Hilfestellung eine pflegegeldrelevante Leistung im Zusammenhang mit der in § 1 Abs 3 EinstV genannten Betreuungsverrichtung "An- und Auskleiden" darstellt. Nach den Feststellungen ist es vor dem Anlegen der orthopädischen Schuhe notwendig, die Knie- bzw Knöchelgelenke der Klägerin durchzubewegen und zu dehnen, damit die Klägerin die Schuhe anlegen kann. Strittig ist nun im Revisionsverfahren die Frage, ob auch dieser im Zusammenhang mit dem Anlegen der orthopädischen Schuhe für das Dehnen und Bewegen der Füße und Knöchel erforderliche Zeitaufwand von unbestritten 15 Stunden monatlich als Pflegeaufwand zu qualifizieren ist.

Nach herrschender Rechtsprechung ist die Abgrenzung zwischen dem anzurechnenden Pflegeaufwand und den nicht im Rahmen der Pflegegeldgesetze zu ersetzenden medizinischen Behandlungen so vorzunehmen, dass ein Pflegeaufwand jedenfalls dann anzunehmen ist, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die ein - ansonsten - nicht behinderter Mensch gewöhnlich selbst vornehmen kann. Kann hingegen auch ein ansonsten völlig gesunder Mensch diese Verrichtung nicht ohne fremde Hilfe vornehmen, so unterscheidet sich der Anspruchswerber - trotz seiner Krankheit - diesbezüglich nicht von einem nicht behinderten Menschen, sodass er insoweit auch nicht den Schutz für Behinderte beim Pflegegeld beanspruchen kann (SSV-NF 13/76 mwN ua). Die Frage, ob in diesem Sinne eine Verrichtung systematisch der Pflege oder der Krankenbehandlung zuzuordnen ist, ist rein nach der "Art der Verrichtung" und unabhängig vom Alter der betroffenen Person zu beantworten (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld Rz 7).

Beim Dehnen und Bewegen der Knie- und Knöchelgelenke handelt es sich um eine vom Betroffenen üblicherweise selbst ausgeführte Tätigkeit, sodass einer insoweit notwendigen Hilfestellung durch eine andere Person grundsätzlich Relevanz für die Ermittlung des Pflegebedarfes zuzubilligen ist. In diesem Zusammenhang ist nach Ansicht des erkennenden Senates darauf Bedacht zu nehmen, dass nach allgemeiner Auffassung unter die Mobilitätshilfe im engeren Sinn auch die notwendige Unterstützung beim Anlegen und Abnehmen von der Förderung der Mobilität dienenden Körperersatzstücken zählt (vgl Pfeil, BPGG 91; § 10 Abs 1 der Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeld- gesetzes - veröffentlicht in SozSi 1999, 360 ff; SSV-NF 11/5 ua). In den Erläuternden Bemerkungen zur Einstufungsverordnung 1999 (vgl Fürstl-Grasser/Pallinger aaO 285) wird darauf hingewiesen, dass unter der notwendigen Hilfe beim Anlegen und Abnehmen von Körperersatzstücken auch deren Reinigung und die spezielle Stumpfpflege, wie Stumpfbad und Bandagieren des Amputationsstumpfes vor dem Anlegen von Orthesen oder Prothesen, zu verstehen sei. Berücksichtigt man diese Erwägungen und den weiteren Umstand, dass das Dehnen und Bewegen der Füße und Knöchel zwingend vor dem Anlegen der orthopädischen Schuhe durchzuführen ist, dann ist nach Ansicht des erkennenden Senates mit den Revisionsausführungen davon auszugehen, dass auch dieser mit dem Anlegen der orthopädischen Schuhe in unmittelbarem Zusammenhang stehende Zeitaufwand von 15 Stunden monatlich bei der Berechnung des Pflegebedarfes zu berücksichtigen ist.

4. Zum Betreuungsaufwand für Reinigung bei Inkontinenz bzw Verrichtung der Notdurft:

Nach der maßgebenden Feststellung ist die Klägerin aufgrund der Querschnittssymptomatik harn- und stuhlinkontinent und muss daher ständig eine Windel tragen. Von den Vorinstanzen wurde hier zutreffend der in § 1 Abs 3 EinstV für die Reinigung bei inkontinenten Patienten vorgesehene Richtwert von viermal zehn Minuten pro Tag (= 20 Stunden monatlich) berücksichtigt. Die Feststellungen des Erstgerichtes sowie die übrigen Verfahrensergebnisse bieten keinen Anhaltspunkt dafür, dass bei der Klägerin ein höherer Betreuungsaufwand für die Reinigung bei Inkontinenz erforderlich wäre als der dafür vorgesehene Richtwert. Da die Klägerin nach den Ausführungen des Sachverständigen während der gesamten Zeit windelversorgt ist, können nur der für die Reinigung bei inkontinenten Patienten vorgesehene Zeitwert, nicht jedoch weitere Stunden als Zeitaufwand für die tatsächlich gar nicht mit einer Hilfsperson durchgeführte Verrichtung der Notdurft auf der Toilette angesetzt werden (SSV-NF 14/102; 13/17 ua).

Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass der Pflegebedarf der Klägerin jedenfalls 160,5 Stunden monatlich (132,5 Stunden laut Berufungsurteil, 3 Stunden für die Einnahme von Medikamenten, 10 Stunden für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn und 15 Stunden für das erforderliche Dehnen der Füße und Knöchel vor dem Anlegen der orthopädischen Schuhe) beträgt. Daraus folgt aber auch, dass der Pflegebedarf selbst bei einer Berücksichtigung eines in den Revisionsausführungen relevierten weiteren Pflegebedarfes von zehn Stunden monatlich für Motivationsgespräche und eines in den Revisionsausführungen nicht mehr ausdrücklich relevierten weiteren Pflegebedarfes von fünf Stunden monatlich für das Anlegen der A-Schiene durchschnittlich nicht mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Die Klägerin hat daher Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4. Ein darüber hinausgehender Pflegebedarf durch das Erfordernis einer dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson ist somit nicht zu berücksichtigen.

Es war daher in teilweiser Stattgebung der Revision der Klägerin im Ergebnis das Ersturteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Die Klägerin hat demnach Anspruch auf Ersatz der Prozesskosten für ihre erfolgreiche Berufungsbeantwortung und ihre teilweise erfolgreiche Revision.

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