OGH 6Ob183/04m

OGH6Ob183/04m21.10.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Emanuel R*****, in Obsorge der Mutter Daniela R*****, über den ordentlichen Revisionsrekurs des Unterhaltssachwalters Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie für den 14., 15. und 16. Bezirk, Gasgasse 8-10, 1150 Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 14. Mai 2004, GZ 43 R 262/04d-99, womit über den Rekurs des Vaters Herbert R*****, der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 31. März 2004, GZ 17 P 181/02y-94, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Vater war seit 1. 3. 2000 zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von 1.900 S für sein eheliches Kind verpflichtet. In diesem Ausmaß wurden dem Kind Unterhaltsvorschüsse bis 31. 8. 2002 gewährt. Die Unterhaltsverpflichtung wurde am 13. 3. 2002 ab 1. 1. 2001 auf 153 EUR monatlich erhöht. Die monatlichen Unterhaltsvorschüsse wurden für die Zeit vom 1. 10. 2001 bis 31. 8. 2002 auf diesen Betrag angehoben. Das nach der Scheidung der Ehe seiner Eltern in Obsorge der Mutter stehende Kind hatte nach der Aktenlage seinen Hauptwohnsitz in Wien. Am 24. 3. 2004 beantragte der Unterhaltssachwalter die Gewährung von monatlichen Unterhaltsvorschüssen gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Titelhöhe für die Zeit vom 1. 3. 2004 bis 28. 2. 2007.

Das Erstgericht bewillige die beantragten Vorschüsse und ging dabei von der Richtigkeit der Antragsangaben aus, dass eine Anfrage beim Sozialversicherungsträger über eine versicherungspflichtige Beschäftigung des Unterhaltsschuldners negativ ausgefallen sei und dass keine Eigenleistungen des Unterhaltsschulderns stattfänden.

Das Rekursgericht änderte über den Rekurs des Vaters diesen Beschluss dahin ab, dass der Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abgewiesen wurde. Es berücksichtigte dabei folgende im Rekurs des Vaters vorgebrachten Neuerungen, soweit sie in der vom Jugendwohlfahrtsträger aufgenommenen Niederschrift der Mutter bestätigt wurden:

Das jetzt fast 13 Jahre alte Kind hält sich seit Dezember 2002 in der Türkei auf, wo es auch zur Schule ging. Es lebte zunächst gemeinsam mit der Mutter und deren nunmehrigen Ehemann (dem Stiefvater des Kindes). Die Mutter kehrte im September 2003 nach Österreich zurück. Das Kind verblieb im Haushalt des Stiefvaters in der Türkei. Nach dem Vorbringen der Mutter sei es beabsichtigt, dass das Kind im Juni 2004 nach Österreich zurückkehrt, um die "Grundschule" zu beenden.

Ausgehend von diesem Sachverhalt führte das Rekursgericht in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen aus, dass der Unterhaltsschuldner in seinem Rekurs im Rahmen des § 15 UVG gegen die Bewilligung von Unterhaltsvorschüssen Einwendungen erheben könne. Gemäß § 2 Abs 1 UVG müssten minderjährige Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, damit Unterhaltsvorschüsse bewilligt werden könnten. Der gewöhnliche Aufenthalt setze die erkennbare Absicht voraus, an einem bestimmten Ort für einen längeren, aber nicht notwendigerweise ununterbrochenen Zeitraum seine Wohnung zu nehmen. Eine gewisse Aufenthaltsdauer an einem Ort bilde einen wichtigen Anhaltspunkt für die Annahme des gewöhnlichen Aufenthaltsorts. Da sich das Kind bereits seit dem Jahr 2002 durchgehend in der Türkei aufhalte, sei dort sein gewöhnlicher Aufenthalt begründet. Nach der sogenannten "Wanderarbeitnehmerverordnung" sei zwar das Erfordernis eines inländischen gewöhnlichen Aufenthalts in § 2 Abs 1 UVG gemeinschaftsrechtswidrig, weshalb die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes von Österreich in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft an der Berechtigung zum Bezug des Unterhaltsvorschusses nichts ändere. Hier sei es aber entscheidend, dass sich das Kind im "drittstaatlichen Ausland" aufhalte. In der Rekursbeantwortung sei inhaltlich zugestanden worden, dass es sich nicht um einen bloß vorübergehenden Aufenthalt handle.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob bzw unter welchen Voraussetzungen einem in der Türkei lebenden Kind mit österreichischer Staatsangehörigkeit Unterhaltsvorschüsse zustünden.

Mit seinem Revisionsrekurs beantragt der Unterhaltssachwalter erkennbar die Abänderung dahin, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt werde. Das Kind habe nur vorübergehend in der Türkei Aufenthalt genommen, sei aber nach wie vor mit einem Hauptwohnsitz in Wien aufrecht gemeldet. Ohne weitere Sachbegründung verweist der Revisionsrekurswerber für seinen Standpunkt auch noch auf das Assoziierungsabkommen der Türkei mit der Europäischen Union.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

I. Das Gesetz normiert im § 2 Abs 1 UVG als Anspruchsvoraussetzung für eine Vorschussgewährung den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Inland. Gegen die Ansicht des Rekursgerichts, dass hier nicht mehr von einer bloß zeitweiligen Abwesenheit des Kindes im Ausland ausgegangen werden könne, die den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unberührt ließe, führt der Rekurswerber keine Sachargumente ins Treffen. Auf die fehlende Abmeldung des Hauptwohnsitzes beim Meldeamt kommt es nicht an. Wohl wurde in der Entscheidung 6 Ob 318/99d der Studienaufenthalt eines Kindes während eines Schuljahrs einer High School in den USA als absehbar vorübergehender Auslandsaufenthalt zu Ausbildungszwecken gewertet, der den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Österreich nicht unterbreche (idS auch 7 Ob 9/02b). Mit einem solchen Sachverhalt lässt sich der vorliegende aber nicht vergleichen. Hier beträgt der Auslandsaufenthalt des Kindes zum Besuch der Grundschule schon mehr als ein Jahr. Der Grundschulbesuch lässt darüber hinaus darauf schließen, dass der Aufenthalt des Kindes im Ausland auf unabsehbar längere Zeit geplant war. Da der Revisionsrekurswerber hier gegen die angeführten Indizien aber nichts ausführt und den Aufenthaltsort des Kindes nur ohne Sachargumente als bloß zeitweilig qualifiziert, insbesondere hiefür auch keine beruflichen, familiären oder urlaubsbedingten Umstände ins Treffen führt, ist die Rechtsansicht des Rekursgerichtes über den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Ausland nicht zu beanstanden.

II. Damit stellt sich die im Rechtsmittel nur durch den Hinweis auf das Assoziationsabkommen der Türkei angeschnittene Rechtsfrage, ob die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 1 UVG (der Inlandsaufenthalt) mit dem Gemeinschaftsrecht im Einklang steht.

1. Mit der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern ("Wanderarbeitnehmerverordnung") soll die Freizügigkeit der Arbeitskräfte im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs zur Realisierung eines europäischen Arbeitsmarktes sichergestellt werden. Der europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seinen Entscheidungen C-85/99 - Offermanns, und C-255/99 - Anna Humer, klargestellt, dass Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen UVG Familienleistungen im Sinne des Art 4 Abs 1 lit h der "Wanderarbeitnehmerverordnung" seien und ausgeführt, dass eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 der Verordnung ist, in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung falle. Die Art 73 und 74 dieser Verordnung seien so auszulegen, dass ein minderjähriges Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohne und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer sei, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG habe. Im Gefolge dieser Judikatur des EuGH hat der Oberste Gerichtshof die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen trotz Fehlens des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in Österreich aus Gründen des Gemeinschaftsrechts für notwendig erachtet, wenn dieser Aufenthalt in einem Staat der EU gegeben war (1 Ob 289/01h: Griechenland; 7 Ob 39/02i: Deutschland; 7 Ob 40/02m: Frankreich). Der aus der Entscheidung Humer abgeleiteten "Exportverpflichtung" von Vorschüssen in Staaten des Aufenthaltsortes des Kindes lag jeweils auch zugrunde, dass das anspruchsberechtigte Kind - wie im vorliegenden Fall - österreichischer Staatsbürger war. Da es um die Sicherstellung von europäischen Grundfreiheiten im Bezug auf den europäischen Arbeitsmarkt geht, sind Unterhaltsvorschüsse grundsätzlich nur in die Staaten der EU bzw des EWR-Raums zu "exportieren", dies unter der Voraussetzung des zitierten Art 73 der Verordnung 1408/71 , dass sich der Unterhaltsschuldner als Wanderarbeiter in Österreich aufhält (Neumayr, Das Unterhaltsvorschussrecht nach den EuGH-Entscheidungen, ÖA 2002, 53). Diese Voraussetzung könnte hier erfüllt sein, wenn der unterhaltspflichtige Vater in Österreich beschäftigt oder arbeitslos sein sollte (und als Arbeitsloser auch Arbeitslosengeld bezieht). Nähere Feststellungen dazu sind allerdings entbehrlich, wenn der Aufenthalt des Kindes in der Türkei einer Unterhaltsvorschussgewährung in jedem Fall entgegen steht. Die Türkei ist kein Staat der europäischen Gemeinschaft, sodass sich die Frage stellt, ob sich aus dem Assoziationsabkommen eine Gleichstellung ableiten lässt. Die Frage ist zu verneinen:

2. Das Assoziationsabkommen der EWG mit der Türkei (Abk. 64/733 vom 12. 9. 1963, ABl 1964, 3687) bezweckt die Vorbereitung eines späteren Beitritts der Türkei. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer soll schrittweise hergestellt werden (Fuchs, Europ Sozialrecht3, Assoziationsrecht Rz 25 f). Kernstück sind das im Art 9 des Abkommens vereinbarte Diskriminierungsverbot bzw das Gleichbehandlungsgebot. Zur sozialen Absicherung trifft das Abkommen selbst keine Regelungen, wohl aber der Assoziationsratsbeschluss Nr 3/80 vom 19. 9. 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und deren Familienangehörige. Dieser Beschluss knüpft an die wahrgenommene Freizügigkeit an, ohne türkischen Staatsangehörigen ein Recht auf Freizügigkeit zu verleihen. Der Ratsbeschluss 3/80 trifft der Verordnung 1408/71 vergleichbare Regelungen (Fuchs aaO Rz 44). Der EuGH anerkannte bereits die unmittelbare Anwendung des in Art 3 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 enthaltenen Diskriminierungsverbots, dem auch Familienleistungen unterliegen (EuGH vom 4. 5. 1999, Rs C-262/96 - Sürül). Das Diskriminierungsverbot und das Gleichbehandlungsgebot bewirken, dass türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen in gleicher Weise Anspruch auf Unterhaltsvorschuss wie Unionsbürger haben, sofern sie sich in einem Mitgliedstaat aufhalten. Der Assoziationsratsbeschluss normiert nur die Inländergleichstellung, enthält aber keine Vorschriften über den Export von sozialrechtlichen Leistungen in die Türkei, sodass aus dem Assoziationsabkommen und den Durchführungsvorschriften für die gemeinschaftsrechtliche Frage nichts zu gewinnen ist, ob EU-Bürger bzw ihre Familienangehörigen gestützt auf die Verordnung 1408/71 Ansprüche auf Familienleistungen auch dann mitnehmen, wenn sie sich in einem Drittstaat aufhalten. Mit dem schon angeführten Argument, dass die Verordnung nur die Freizügigkeit des europäischen Arbeitsmarktes auf den Territorien der EU-Mitgliedstaaten bzw des EWR-Raums sicherstellen will, gilt die Begünstigung in Form des "Exports" von Unterhaltsvorschüssen nur bei Wanderungen innerhalb der Gemeinschaft, nicht aber bei solchen in Drittstaaten, zu denen (noch) die Türkei gehört. Es kann weder aus der Verordnung 1408/71 noch aus der zitierten EuGH-Judikatur (insbesondere auch nicht aus der Entscheidung Humer) der Schluss gezogen werden, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet wäre, Familienleistungen wie den Unterhaltsvorschuss im Rahmen eines lückenlosen Systems für jeden nur denkbaren Fall des Entfalls von Unterhaltsleistungen zu gewähren (7 Ob 295/02m; 4 Ob 260/02t). Die Anspruchsvoraussetzung eines inländischen Aufenthalts des Kindes in § 2 Abs 1 UVG ist daher für die Fälle des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einem Drittstaat nicht gemeinschaftsrechtswidrig. Sie ist aber auch nicht - wie abschließend zu bemerken ist - verfassungswidrig aus dem Grund der Verletzung des Gleichbehandlungsgebots aller österreichischen unterhaltsberechtigten Kinder, wie dies der Verfassungsgerichtshof schon mit seinem Erkenntnis vom 15. 6. 2002, G 112/99, erkannte. Die Anknüpfung des § 2 Abs 1 UVG an einen inländischen Aufenthaltsort des Minderjährigen zur Gewährleistung eines rasch durchführbaren Verfahrens sowie zur Kontrolle von Missbräuchen fällt in den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.

Aus den dargelegten Gründen ist dem Revisionsrekurs nicht stattzugeben.

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