OGH 8Ob64/04a

OGH8Ob64/04a16.7.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rohrer, Dr. Spenling und Dr. Kuras und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Lovrek als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Michelle Monika S*****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft L*****, im Verfahren über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 15. April 2004, GZ 1 R 125/04s-72, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Leibnitz vom 30. Jänner 2004, GZ 8 P 135/98w-66, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften über den vom Obersten Gerichtshof am 11. Juli 2002 zu 6 Ob 132/02h gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen.

Nach Einlangen der Vorabentscheidung wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt werden.

Text

Begründung

Die Minderjährige ist die außerehelich geborene Tochter des deutschen Staatsangehörigen Bernd B*****. Sie lebt im Inland im Haushalt der obsorgeberechtigten Mutter. Die Minderjährige und ihre Mutter sind österreichische Staatsbürgerinnen.

Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Wildon vom 27. 4. 2000 (ON 15) wurde der Kindesvater beginnend ab 1. 3. 2000 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von S 2.000 (145,35 EUR) verpflichtet. Mit Beschluss vom 27. 11. 2003 gewährte das nun für die Pflegschaftssache zuständige Bezirksgericht Leibnitz der Minderjährigen vom 1. 11. 2003 bis 31. 10. 2006 Unterhaltsvorschüsse in Titelhöhe.

Der Vater befindet sich seit 11. Dezember 2003 bis voraussichtlich 19. 12. 2006 in der Bundesrepublik Deutschland in Haft. Das Erstgericht fasste aus diesem Grund den Beschluss auf Einstellung der Unterhaltsvorschüsse.

Das Rekursgericht gab dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs der Minderjährigen nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs im Hinblick auf das vom Obersten Gerichtshof gestellte Vorabentscheidungsersuchen zu 6 Ob 132/02h zulässig sei. Rechtlich vertrat das Rekursgericht zusammengefasst die Auffassung, dass § 4 Z 3 UVG keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bewirke, weil diese Bestimmung an den Ort der Strafverbüßung und nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpfe und daher österreichische Unterhaltsschuldner in gleicher Weise treffe wie Unterhaltsschuldner einer anderen Staatsangehörigkeit. Mangle es aber an einer inländischen Norm, die die Gewährung eines Haftvorschusses auch dann auftrage, wenn die Haft über den Unterhaltspflichtigen nicht im Inland verhängt und vollstreckt worden sei, scheitere ein entsprechender Antrag daran, dass keine entsprechende nationale Anspruchsgrundlage bestehe. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen. Sie beantragt die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zur Frage, ob Art 12 EG iVm Art 3 der Verordnung EWG Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, so auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, die Gemeinschaftsbürger bei Bezug eines Unterhaltsvorschusses zu benachteiligen, wenn der unterhaltspflichtige Vater eine Strafhaft nicht in Österreich, sondern in einem anderen Land der Europäischen Gemeinschaft verbüße und daher das in Österreich lebende Kind eines österreichischen Staatsangehörigen dadurch diskriminiert werde, dass ihm ein Unterhaltsvorschuss deswegen nicht (mehr) gewährt werde, weil sein Vater eine verhängte Freiheitsstrafe nicht in Österreich, sondern in einem anderen Vertragsstaat verbüße. Die Minderjährige stellt überdies den Antrag, das Verfahren bis zur Einlangung der Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften auszusetzen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig.

Der Oberste Gerichtshof gewährte zunächst unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien Vorschüsse nach § 4 Z 3 UVG nur bei Freiheitsentzug im Inland (SZ 67/100; 2 Ob 112/97b; 4 Ob 260/02t; zuletzt 3 Ob 50/03d). Dabei wurde ausgesprochen, Ziel der Verordnung Nr 1408/71 sei es allein, dem Recht auf Freizügigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und sicherzustellen, dass die im nationalen Recht nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen unterschiedslos davon zur Auszahlung gelangten, in welchem Land der für die Leistung bezugsberechtigte Familienangehörige wohne. Mangle es aber an einer inländischen Norm, die die Gewährung eines Haftvorschusses auch dann auftrage, wenn die Haft über den Unterhaltspflichtigen nicht im Inland verhängt und vollstreckt worden sei, scheitere ein entsprechender Antrag nicht etwa alleine daran, dass der Unterhaltsschuldner oder seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, sondern daran, dass keine entsprechende nationale Anspruchsgrundlage bestehe. Eine planwidrige, durch Analogieschluss zu schließende Lücke sei nicht zu erkennen.

Der 6. Senat ließ Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung erkennen. Er legte daher am 11. Juli 2002 dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß § 234 EG zu 6 Ob 132/02h folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

"Ist Art 12 EG iVm Art 3 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, so auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die Gemeinschaftsbürger bei Bezug eines Unterhaltsvorschusses benachteiligt, wenn der unterhaltspflichtige Vater eine Strafhaft in seinem Heimatstaat (und nicht in Österreich) verbüßt und wird daher das in Österreich lebende Kind eines deutschen Staatsangehörigen dadurch diskriminiert, dass ihm ein Unterhaltsvorschuss deshalb nicht gewährt wird, weil sein Vater eine in Österreich verhängte Freiheitsstrafe in seinem Heimatstaat (und nicht in Österreich) verbüßt?"

Zu diesem Vorabentscheidungsersuchen (C-302/02 ) liegen bereits die Schlussanträge der Generalanwältin vom 25. Mai 2004 vor: Die Generalanwältin vertritt die Auffassung (Rz 40), dass, soweit sich das Vorabentscheidungsersuchen auf die Verordnung Nr 1408/71 beziehe, davon auszugehen sei, dass Art 3 einer nationalen Regelung nicht entgegenstehe, die unterhaltsberechtigte Gemeinschaftsbürger vom Bezug eines Unterhaltsvorschusses ausschließe, wenn der unterhaltspflichtige Vater eine Haftstrafe nicht in dem Staat verbüße, in dem er vor der Verhaftung beschäftigt gewesen sei, sondern in seinem Heimatstaat. Der notwendige grenzüberschreitende Bezug wird von der Generalanwältin bereits im Hinblick darauf bejaht, dass sich Vater und Kind in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten befinden (Rz 28 der Schlussanträge). Allerdings vertritt die Generalanwältin die Auffassung, dass nicht österreichisches, sondern deutsches Recht anzuwenden ist, wenn auf der Grundlage der Verordnung Nr 1408/71 Familienleistungen beansprucht werden, die in der Person des Vaters begründet sind (Rz 39).

Die Schlussanträge beschäftigen sich über Anregung der Kommission überdies mit der im Vorabentscheidungsersuchen des 6. Senat nicht angesprochenen Frage eines allfälligen Verstoßes der Regelung des § 4 Z 3 UVG gegen Art 7 Abs 2 der Verordnung Nr 1612/68, wonach ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedsstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießt. Die Generalanwältin geht davon aus, dass Art 12 EG iVm Art 7 Abs 2 der Verordnung Nr 1612/68 einer Regelung entgegensteht, die das Kind eines unterhaltspflichtigen Wanderarbeitnehmers (dazu im Detail Rz 58) vom Bezug eines Unterhaltsvorschusses ausschließt, wenn dieser eine Haftstrafe nicht in dem diese Leistung gewährenden Staat, sondern in seinem Heimatstaat verbüßt, vorausgesetzt, dass dieses Kind in dem diese Leistung gewährenden Staat dem allgemeinen Unterricht, einer Lehrlings- oder Berufsausbildung folgt und dass dieses Kind mit seinen Eltern oder einem Elternteil in dem diese Leistung gewährenden Mitgliedsstaat in der Zeit lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte (Rz 69). Im hier zu beurteilenden Fall ist ebenfalls wesentlich, ob die Voraussetzungen für die Gewährung eines Haftvorschusses nach § 4 Z 3 UVG vorliegen. Der Umstand, dass hier nicht die unmittelbare Gewährung des Vorschusses, sondern die Einstellung der Vorschüsse (§ 20 UVG) zu prüfen ist, ändert nichts, zumal die Einstellung der der Minderjährigen gewährten Unterhaltsvorschüsse voraussetzt, dass die Voraussetzung für die Gewährung des Vorschusses nach § 4 Z 3 UVG weggefallen ist (§ 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG). Der Unterschied zu dem dem Vorabentscheidungsersuchen des 6. Senates zugrundeliegenden Sachverhalt besteht lediglich darin, dass hier Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der unterhaltspflichtige Vater in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und diese auch dort verbüßt. Der 2. Senat des Obersten Gerichtshofes (2 Ob 130/03m) unterbrach in einem vergleichbaren Fall das Verfahren bis zur Entscheidung über das zu 6 Ob 132/02h gestellte Vorabentscheidungsersuchen. Die im Vorabentscheidungsersuchen angestellten Überlegungen seien auch auf den Fall zu übertragen, dass die Haftverhängung im Ausland erfolgt sei.

Der 4. Senat (4 Ob 145/03g) vertrat eine gegenteilige Auffassung:

Eine mittelbare Diskriminierung komme dann nicht in Betracht, wenn die Haft über den Unterhaltspflichtigen nicht im Inland verhängt und vollstreckt werde. Diese Auffassung beruht auf der Auslegung des § 4 Z 3 UVG dahin, dass die Unterhaltsvorschussgewährung nach dieser Gesetzesstelle voraussetzt, dass auch die Verhängung der Haft im Inland zu erfolgen hat.

Die Gesetzesmaterialien zur UVG-Novelle 1980 (vgl dazu SZ 67/100; 2 Ob 112/97b; 4 Ob 260/02t) sprechen gegen diese Auslegung: Danach treffe den Staat schon nach dem Gesichtspunkt der - ihm letzten Endes ja obliegenden - Pflicht zur Unterhaltssicherung auch die Pflicht, entweder für eine entsprechende Entlohnung der im Strafvollzug arbeitenden Strafgefangenen oder dafür zu sorgen, dass sie auf andere Weise ihrer Unterhaltspflicht genügen können. Maßgeblich ist somit die Haftverbüßung im Inland, nicht aber die Haftverhängung. Auch § 4 Z 3 UVG spricht nur von einem länger als einen Monat dauernden Freiheitsentzug im Inland aufgrund einer Anordnung in einem strafgerichtlichen Verfahren. Eine Einschränkung dahin, dass auch die Anordnung in einem inländischen Strafverfahren ergehen muss, ist dem Gesetzestext nicht zu entnehmen. Gerade wenn man aufgrund des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen (BGBl Nr 524/1986) davon ausgeht, dass in einer nicht unwesentlichen Zahl von Fällen im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei verurteilte Personen nach ihrem Willen zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei (Regelfall Heimatstaat) überstellt werden (vgl Art 2 Abs 2 des Übereinkommens), ist denkbar, dass ein in einem Vertragsstaat des Übereinkommens verurteilter Österreicher zur Verbüßung der dort über ihn verhängten Strafhaft in das Inland überstellt wird. Folgt man der Auffassung, dass in diesem Fall die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses nach § 4 Z 3 UVG zu versagen wäre, weil die Haftverhängung nicht im Inland erfolgte, so widerspräche diese Auslegung dem klar erkennbaren Zweck des Gesetzgebers bei Schaffung des § 4 Z 3 durch die UVG-Novelle 1980.

Aus den dargestellten Überlegungen teilt der erkennende Senat die in 2 Ob 130/03m vertretene Auffassung. Die zu 6 Ob 132/00h gestellte Vorlagefrage ist daher auch für den hier zu beurteilenden Fall maßgeblich, weshalb es zweckmäßig und geboten ist, mit der Entscheidung bis zu jener des Europäischen Gerichtshofes über das gestellte Vorabentscheidungsersuchen zuzuwarten und das Verfahren zu unterbrechen. Dies ist sinnvoll, weil der Oberste Gerichtshof auch in Rechtssachen, in denen er nicht unmittelbar Anlassfallgericht ist, von einer allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes auszugehen und diese daher auch für andere Fälle als den unmittelbaren Anlassfall anzuwenden hat (RIS-Justiz RS0110583). Erst durch die über den Antrag des 6. Senates ergehende Vorabentscheidung wird sich erweisen, ob das Verfahren hier dahin ergänzungsbedürftig ist, dass geklärt werden muss, ob der Vater tatsächlich in Deutschland zur Verbüßung einer Haftstrafe verurteilt wurde; gegebenenfalls, ob der Vater während der Haft gegen Entgelt beschäftigt war und für ihn Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abgeführt wurden (vgl dazu Rz 27 der Schlussanträge der Generalanwältin).

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