OGH 2Ob51/04w

OGH2Ob51/04w18.3.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Sarah H*****, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien als Unterhaltssachwalter über den Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 29. Juli 2003, GZ 42 R 466/03w-45, womit infolge Rekurses der Pflegebefohlenen der Beschluss des Bezirksgerichtes Favoriten vom 23. Mai 2003, GZ 8 P 16/00t-41, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichtes wird im Umfang seiner Anfechtung, sohin der Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen für die Zeit vom 1. 7. 2003 bis 30. 6. 2006 aufgehoben. Zugleich wird auch der Beschluss des Erstgerichtes in diesem Umfang aufgehoben und diesem eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die Pflegebefohlene und ihre Eltern sind österreichische Staatsangehörige, die Obsorge steht der Mutter zu. Das Erstgericht stellte die der Pflegebefohlenen bis 30. 6. 2003 gewährten Unterhaltsvorschüsse von EUR 290,-- mit Ablauf des 31. 5. 2003 gemäß § 7 UVG ein und wies den Antrag auf Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen ab, weil über Mitteilung des besonderen Sachwalters feststehe, dass die Pflegebefohlene im Mai 2003 nach Deutschland übersiedelt sei. Gemäß § 2 Abs 1 UVG hätten nur minderjährige Kinder mit einem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland Anspruch auf Vorschüsse. Da sich die Pflegebefohlene nicht mehr im Inland befinde, seien die bisher gewährten Unterhaltsvorschüsse einzustellen und der weitere Antrag des Kindes abzuweisen.

Das von der Pflegebefohlenen angerufene Rekursgericht hob den Punkt 1 des erstgerichtlichen Beschlusses (Einstellung der Unterhaltsvorschüsse) ersatzlos auf und änderte im Übrigen die angefochtene Entscheidung dahin ab, dass die Unterhaltsvorschüsse für die Zeit vom 1. 7. 2003 bis 30. 6. 2006 nach §§ 3, 4 Z 1, 18 UVG in der monatlichen Höhe von EUR 290,-- weitergewährt werden. Die Pauschalgebühr wurde mit EUR 145,-- festgesetzt und die formularmäßige Durchführung dem Erstgericht vorbehalten. Das Rekursgericht sprach zunächst aus, gegen diesen Beschluss sei der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes wies das Rekursgericht darauf hin, dass ein minderjähriges Kind auch dann Anspruch auf eine Familienleistung, wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG habe, wenn es zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen, als den die Leistung erbringenden Mitgliedsstaat wohne und dessen anderer, zur Unterhaltszahlung verpflichteter Elternteil, in dem die Leistung zu erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer sei. Die in § 2 Abs 1 UVG normierte Voraussetzung des gewöhnlichen Inlandsaufenthaltes sei in Ansehung jener Kinder, die in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wohnten, gemeinschaftswidrig. Es sei daher § 2 Abs 1 UVG (nach der Aktenlage sei der Vater der Pflegebefohlenen Arbeitnehmer bzw Anspruchsberechtigter aus der Arbeitslosenversicherung bzw Notstandshilfebezieher und sei das Kind gemeinsam mit seiner Mutter von Österreich in einen anderen Mitgliedsstaat, nämlich Deutschland, übersiedelt) nicht anzuwenden. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes nach Deutschland stelle daher keinen Einstellungsgrund nach § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG dar, sodass sich an der Berechtigung zum Bezug des Unterhaltsvorschusses nach den Bestimmungen des UVG nichts ändere.

Nach § 18 Abs 1 Z 2 UVG habe das Gericht die Vorschüsse für längstens drei weitere Jahre zu gewähren, wenn keine Bedenken dagegen bestünden, dass die Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse, ausgenommen die des § 3 Z 2 UVG weitergegeben seien. Die Weitergewährung von Titelunterhaltsvorschüssen sei an weniger strengere Voraussetzungen geknüpft, als die Gewährung aufgrund eines Erstantrags. Neue Versagungsgründe seien jedoch auch bei der Weitergewährungsentscheidung uneingeschränkt von Amts wegen zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall sei es wenig wahrscheinlich, dass die laufenden Unterhaltsbeiträge künftig im Wege freiwilliger Zahlungen oder der Exekution vom Unterhaltsschuldner eingingen, weshalb Unterhaltsvorschüsse weiter zu gewähren seien.

Aufgrund des Abänderungsantrages des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien änderte das Rekursgericht seinen Ausspruch über die Unzulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses dahin ab, dass dieser zulässig sei. Es begründete dies damit, dass aus Art 75 und Art 76 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates 371 R 1408 (Wanderarbeitnehmerverordnung) abzuleiten sei, dass im Falle des Zusammentreffens von Ansprüchen in mehreren Mitgliedsstaaten der Anspruch im Wohnsitzsstaat des Kindes vorgehe und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates gegebenenfalls geschuldete Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrages "ausgesetzt" werden. Daraus folge die zu klärende Rechtsfrage, ob dies auch für den Fall der Weitergewährung gemäß § 18 UVG gelte, weshalb dem Antrag auf Zulassung des Revisionsrekurses stattzugeben sei.

Gegen den Teil des Beschlusses des Rekursgerichtes, mit dem die Titelunterhaltsvorschüsse für die Zeit vom 1. 7. 2003 bis 30. 6. 2006 weitergewährt wurden, richtet sich der Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss dahin abzuändern, dass der Antrag auf Weitergewährung der Vorschüsse abgewiesen werde.

Die Pflegebefohlene hat Revisionsrekursbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht aufgezeigten Grund zulässig, er ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Der Präsident des Oberlandesgerichtes macht in seinem Rechtsmittel geltend, dass im Falle des Zusammentreffens von Ansprüchen in mehreren Mitgliedsstaaten der EU der Anspruch im Wohnsitzstaat des Unterhaltsberechtigten (hier: Deutschland) vorgehe und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates gegebenenfalls geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrages "ausgesetzt" werden. Dies müsse auch für den Fall der Weitergewährung gemäß § 18 UVG gelten. Ob und inwieweit eine Differenzzahlung zu gewähren sein könnte, sei derzeit nicht zu beurteilen.

Hiezu wurde erwogen:

Unstrittig ist, dass im vorliegenden Fall trotz der Verlegung des Wohnsitzes der Pflegebefohlenen nach Deutschland grundsätzlich die Voraussetzungen für die Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen gegeben sind.

Aus den in den Art 75 und 76 der VO 1408/71 enthaltenen Koordinierungsregeln ist aber abzuleiten, dass im Falle des Zusammentreffens von Ansprüchen in mehreren Mitgliedsstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes vorgeht und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaats gegebenenfalls geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrages "ausgesetzt werden" (9 Ob 157/02g = ÖA 2003, 118). Für den Fall, dass sowohl in dem an sich für die Leistung zuständigen Staat ("Staat 1") als auch im Wohnsitzstaat des Kindes ("Staat 2") ein Anspruch auf eine Familienleistung besteht, geht der Anspruch auf die Leistung im Staat 2 insofern vor, als der Anspruch aus dem Staat 1 bis zur Höhe des Anspruches im Staat 2 ruht. Dem Kind kommt also insgesamt jeweils der höhere Betrag zu. Ist die Leistung im Staat 2 niedriger als im Staat 1, hat der Staat 2 "seine" Leistung zu erbringen und hat der Staat 1 die Differenz zwischen der Leistung aus dem Staat 2 und der im Staat 1 vorgesehenen (höheren) Leistung. Maßgeblich ist nicht, ob tatsächlich ein Antrag auf eine Familienleistung gestellt wurde, sondern ob ein Anspruch auf eine solche besteht (Neumayr, Das Unterhaltsvorschussrecht nach den EuGH-Entscheidungen, ÖA 2002, 53 [54 f]).

In dem Umfang, in dem der Pflegebefohlenen im vorliegenden Fall ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss in Deutschland zusteht, besteht ein solcher nicht in Österreich. Dies wäre auch bei einer Weitergewährung nach § 18 UVG zu berücksichtigen, weil auch bei dieser zu prüfen ist, ob die Gewährungsgrundlagen noch gegeben sind (Knoll, Komm u UVG, § 18 Rz 6).

Im vorliegenden Fall lässt sich aber noch nicht abschließend beurteilen, ob der Pflegebefohlenen in Deutschland ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss zusteht. Aus einem vom Vertreter der Pflegebefohlenen vorgelegten Schreiben der Stadt Marl, Jugendamt, ergibt sich nämlich, dass "der Antrag nicht weiter bearbeitet werden konnte, da das Kind nicht zu dem berechtigten Kreis zählt". Aus dem Schreiben ist aber nicht eindeutig abzuleiten, weshalb die Pflegebefohlene nicht zu dem berechtigten Kreis nach § 1 dUVG gehört. Der Grund könnte (im Hinblick auf den geänderten Familiennamen der Mutter) darin liegen, dass diese in der Zwischenzeit geheiratet hat. Einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss oder -ausfallleistung nach dem dUVG hat nämlich nur, wer

1. das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,

2. im Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten dauernd getrennt lebt und

3. nicht oder nicht regelmäßig

a) Unterhalt von dem anderen Elternteil oder

b) wenn dieser oder ein Stiefelternteil gestorben ist, Waisenbezüge mindestens in der in § 2 Abs 1 und 2 bezeichneten Höhe erhält.

Der Verlust des Anspruchs auf Unterhaltsvorschussleistungen bei Heirat des betreuenden Elternteils mit einem Dritten verstößt auch nicht gegen das (deutsche) Grundgesetz (Diederichsen in Palandt63 BGB Einf v § 1601 Rz 44 mwN).

Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren zu prüfen haben, ob (und allenfalls in welchem Umfang) der Pflegebefohlenen in Deutschland ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss zusteht.

Die Entscheidung der Vorinstanzen waren somit im Umfang der Anfechtung aufzuheben.

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