OGH 6Ob130/03s

OGH6Ob130/03s11.9.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G***** Gesellschaft mbH, ***** vertreten durch Dr. Adolf Concin und Dr. Heinrich Concin, Rechtsanwälte in Bludenz, gegen die beklagte Partei B***** B.V., ***** Niederlande, vertreten durch Dr. Thomas Frad, Rechtsanwalt in Wien, wegen 11,523.703,30 S (= 837.460,18 EUR), über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 30. Juni 2000, GZ 1 R 106/00y-19, womit über den Rekurs der beklagten Partei der Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 27. März 2000, GZ 8 Cg 196/99x-16, teilweise aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss des Rekursgerichtes wird dahin abgeändert, dass der Antrag der beklagten Partei, das Verfahren gemäß Art 21 EuGVÜ auszusetzen, bis die Zuständigkeit des Landgerichtes Dordrecht feststeht, abgewiesen wird.

Die beklagte Partei hat der klagenden Partei binnen 14 Tagen die Kosten des Zwischenstreits über die Aussetzung des Verfahrens zu ersetzen, nämlich die mit 2.563,28 EUR (darin 427,21 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung und die mit 1.916,58 EUR (darin 319,43 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsrekurses.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Die Klägerin (ein Unternehmen in Österreich) erzeugt und vertreibt Brieftaubenuhren, die bei der Sportausübung mit Flugtauben zur Registrierung der Ankunftszeiten Verwendung finden. Sie stand mit der Beklagten (einer Handelsgesellschaft in den Niederlanden) in Geschäftsbeziehung und lieferte ihr die Ware zum Verkauf in den Niederlanden.

Mit ihrer am 22. 9. 1999 beim Landesgericht Feldkirch eingebrachten, der Beklagten nicht vor dem 21. 12. 1999 zugestellten Klage begehrt die Klägerin den Kaufpreis von 11,523.703,30 ATS für die bis Juni 1999 erfolgten und in Rechnung gestellten Warenlieferungen. Trotz Anerkenntnisses und Zahlungsversprechen der Beklagten sei Zahlung nicht geleistet worden. Die Klägerin habe daher die Geschäftsbeziehung beendet.

Die in den Niederlanden ansässige Beklagte begehrt mit ihrer am 7. 9. 1999 beim Landgericht in Dordrecht eingebrachten Klage, die der österreichischen Beklagten am 2. 12. 1999 zugestellt worden war, Schadenersatz von 5,555.143,60 niederländischen Gulden. Die Klägerin habe die mehr als 40 Jahre bestehende Vertragsbeziehung rechtswidrig aufgelöst. Es hätte eine längere Kündigungsfrist eingehalten werden müssen. Die niederländische Vertragshändlerin habe Anspruch auf Ersatz verschiedener Investitionen zur Produkteinführung und auf Ersatz des Verdienstentgangs. Die Schadenersatzforderungen machten 5,668.790 Gulden aus. Für gelieferte Waren stünden der Vertragshändlerin 27.891 Gulden zu, für ausgeführte Tätigkeiten 219.281 Gulden. Vom Gesamtbetrag von 5,950.962 Gulden seien berechtigte Forderungen der Klägerin von 376.509 Gulden auf Grund getätigter Warenlieferungen abzuziehen. Die österreichische Klägerin wandte im niederländischen Verfahren (dort als Beklagte) ihre in Österreich eingeklagte Kaufpreisforderung nicht als Gegenforderung ein.

Im österreichischen Verfahren beantragte die niederländische Beklagte die Abweisung des Klagebegehrens, wandte ihre in den Niederlanden eingeklagte Forderung bis zur Höhe der Klageforderung als Gegenforderung compensando ein und erhob überdies einen auf eine außergerichtliche Aufrechnung gestützten Schuldtilgungseinwand, dem ein Teil des in den Niederlanden geltend gemachten Schadenersatzanspruchs zugrunde liegt. Sie stellte ferner den Antrag, das österreichische Verfahren gemäß Art 21 oder Art 22 des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ) wegen Streitanhängigkeit bzw wegen des rechtlichen Zusammenhangs auszusetzen.

Das Erstgericht wies den Antrag der Beklagten auf Aussetzung des Verfahrens nach Art 22 EuGVÜ ab (Punkt 1.) und unterbrach das Verfahren über die eingewendete Gegenforderung bis zur rechtskräftigen Beendigung des vor dem Landgericht Dordrecht anhängigen Verfahrens (Punkt 2.).

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Beklagten teilweise Folge und hob den erstinstanzlichen Beschluss, insofern damit implizit auch der Antrag der Beklagten auf Aussetzung des Verfahrens nach Art 21 Abs 1 EuGVÜ abgewiesen wurde, zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Soweit sich der Rekurs der Beklagten gegen die Abweisung des Aussetzungsantrags nach Art 22 EuGVÜ richtete, wies das Rekursgericht den Rekurs (rechtskräftig) zurück.

Es begründete die Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses über den Aussetzungsantrag nach Art 21 Abs 1 EuGVÜ im Wesentlichen damit, dass die Parteivorbringen noch ergänzungsbedürftig seien. Das Begehren der Klägerin auf Bezahlung bestellter und gelieferter Waren sei nicht abhängig von der Frage, ob zwischen den Parteien ein Vertragshändlervertrag oder ein Rahmenvertrag als Dauerschuldverhältnis abgeschlossen worden sei. Die in den Niederlanden eingeklagten Ansprüche der Beklagten wegen rechtswidriger Kündigung berührten die Frage der Warenlieferung grundsätzlich nicht, sondern nur in dem einen Punkt, dass die Beklagte eine schon erfolgte außergerichtliche Aufrechnung mit Ansprüchen aus der Vertragsauflösung gegen Kaufpreisforderungen der Klägerin behaupte. Bei diesem Schuldtilgungseinwand müsste auch das österreichische Gericht (sowohl nach österreichischem als auch nach niederländischem materiellen Sachrecht) die Frage der Auflösung des Vertragshändlervertrags prüfen, also denselben Verfahrensgegenstand, wie er im niederländischen Verfahren zu beurteilen sei. Zum Umfang der Anspruchsidentität müsste aber das Parteivorbringen noch ergänzt werden, weil nicht konkret und aufgeschlüsselt behauptet worden sei, mit welchen Forderungen gegen welche Forderungen aufgerechnet worden sein sollte.

Mit ihrem (zulässigen) Revisionsrekurs beantragt die Klägerin die Abänderung dahin, dass der Antrag der Beklagten auf Aussetzung des Verfahrens nach Art 21 EuGVÜ abgewiesen werde.

Die Beklagte beantragt mit ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben. Sie regt ein Ersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) um Vorabentscheidung insbesondere zu der Frage an, ob und in welchem Umfang eine außergerichtliche Aufrechnung zur "Streitanhängigkeit" im Sinne des § 21 EuGVÜ führen könne.

Der Oberste Gerichtshof hat nach Prüfung dieser Anregung und insbesondere im Hinblick auf schon vorliegende Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGHSlg 1987, 4861 "Gubisch/Palumbo" und Slg 1994 I, 5439 "Tatry/Maciej Rataj"), aus denen ein relativ weiter Streitgegenstandsbegriff ableitbar erschien, dem EuGH mit Beschluss vom 22. 2. 2001, AZ 6 Ob 295/00a, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Erstreckt sich der Begriff "derselbe Anspruch" im Art 21 EuGVÜ auch auf den Einwand des Beklagten, einen Teil der eingeklagten Forderung durch außergerichtliche Aufrechnung getilgt zu haben, wenn der nach den Behauptungen noch ungetilgte Teil dieser Gegenforderung Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen denselben Parteien aufgrund einer in einem anderen Vertragsstaat bereits früher eingebrachten Klage ist?

2. Ist für die Prüfung der Frage, ob "derselbe Anspruch" anhängig gemacht wurde, nur das Vorbringen des Klägers in dem durch eine spätere Klage eingeleiteten Prozess maßgebend und sind daher die Einwendungen und Anträge des Beklagten unbeachtlich, insbesondere auch das Verteidigungsmittel der prozessualen Aufrechnungseinrede betreffend eine Forderung, die Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen denselben Parteien aufgrund einer in einem anderen Vertragsstaat bereits früher eingebrachten Klage ist?

3. Wird aufgrund einer auf Schadenersatz gerichteten Leistungsklage wegen rechtswidriger Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses bindend für einen Folgeprozess zwischen denselben Parteien auch über die Frage abgesprochen, ob ein solches Dauerschuldverhältnis überhaupt bestand?

Der EuGH beantwortete mit seinem Urteil vom 8. 5. 2003, C-111/01, die ersten beiden Fragen wie folgt: Art 21 EuGVÜ sei dahin auszulegen, "dass für die Frage, ob zwei Klagen, die zwischen denselben Parteien bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten anhängig gemacht werden, denselben Gegenstand haben, nur die Klageansprüche des jeweiligen Klägers und nicht auch die vom Beklagten erhobenen Einwendungen zu berücksichtigen sind". Auf die den Umfang der Bindungswirkung einer Vorentscheidung betreffende dritte Frage ging der EuGH in der Sache nicht ein (er hielt diese Frage für unzulässig).

Mit dem Urteil des EuGH ist der vorliegende Rekursgegenstand, der ausschließlich in der Frage der Aussetzung des Zivilverfahrens nach Art 21 EuGVÜ besteht, dahin entschieden, dass der von Amts wegen wahrzunehmende zwingende Unterbrechungsgrund nicht vorliegt. Für die Frage der Streitanhängigkeit sind ausschließlich die Angaben in den beiden Klagen maßgeblich. Dass die Parteien ihre unterschiedlichen Klagebegehren auf unterschiedliche Sachverhalte stützen, wurde schon im Ersuchen um Vorabentscheidung ausgeführt. Beim Gericht in den Niederlanden begehrt die dortige Klägerin Schadenersatz und Kostenersatz, gestützt auf die rechtswidrige Auflösung eines Vertragshändlervertrages durch die österreichische Klägerin. Diese begehrt im später anhängig gemachten Verfahren in Österreich die Bezahlung des Kaufpreises für die im Zeitraum vor Auflösung der Geschäftsbeziehung gelieferten Waren. Mangels Identität des Streitgegenstandes, die hier auch nicht nach der Judikaturlinie bejaht werden könnte, die unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungsharmonie von einem weiten Begriffsinhalt des Streitgegenstandes ausgeht (vgl dazu den im Vorabentscheidungsersuchen vom 22. 2. 2001, 6 Ob 295/00a (JBl 2001, 796; IPRAX 2002, 408 [Oberhammer 424]) gegebenen Überblick über die Lehre und die oberstgerichtliche Rechtsprechung zum Streitgegenstandsbegriff und seine Auswirkungen auf die Rechtskraft), liegt der Unterbrechungsgrund nach Art 21 EuGVÜ nicht vor. Dem Revisionsrekurs der Klägerin ist daher stattzugeben und der Aussetzungsantrag der Beklagten abzuweisen.

Die Klägerin ist in einem Zwischenverfahren über die Verfahrensunterbrechung durchgedrungen. Die Beklagte hat ihr daher gemäß den §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO die durch den Zwischenstreit verursachten Kosten zu ersetzen. Dies sind die Kosten für die Rekursbeantwortung zum Rekurs der Beklagten sowie die Kosten des erfolgreichen Revisionsrekurses. Im Verfahren erster Instanz sind durch den Zwischenstreit keine zusätzlichen Kosten entstanden. Die Schriftsätze der Klägerin und die Tagsatzung vom 11. 2. 2000 befassten sich jeweils auch mit der Hauptsache.

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