OGH 10ObS249/02v

OGH10ObS249/02v2.9.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm und die fachkundigen Laienrichter Dr. Jörg Krainhöfner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Raymond H*****, vertreten durch Dr. Walter Simma, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. März 2002, GZ 25 Rs 13/02a-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. Juli 2001, GZ 35 Cgs 38/01g-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 12. 1. 2001 lehnte die beklagte Partei den Antrag des am 20. 8. 1964 geborenen Klägers vom 18. 9. 2000 auf Gewährung der Invaliditätspension ab, weil der Kläger noch nie imstande gewesen sei, einer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewerteten Beschäftigung nachzugehen.

Dagegen erhob der Kläger Klage mit dem auf Gewährung der Invaliditätspension gerichteten Klagebegehren. Er leide an einem derartigen Nervenleiden, dass er nicht mehr in der Lage sei, mittelschwere oder leichte Arbeiten zu verrichten.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger leide seit seinem frühen Kindesalter an Debilität. Aufgrund dieses Leidens sei der Kläger nie in der Lage gewesen, auch nur einfache Tätigkeiten als Hilfsarbeiter zu den am allgemeinen Arbeitsmarkt gegebenen Arbeitsbedingungen zu verrichten. Die Arbeitsunfähigkeit des Klägers sei schon vor der erstmaligen Arbeitsaufnahme im Mai 1981 gegeben gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest:

Beim Kläger bestand schon vor dem Eintritt in das Erwerbsleben eine mittelgradige Intelligenzminderung mit zusätzlichen, ausgeprägteren Bewegungsstörungen einer athetoid-choreateformen Bewegungskomponente, Sprachstörung und Tic-Symptomatik. Der Kern der Beeinträchtigung besteht beim Kläger schon seit der Kindheit. Die maßgeblichen Behinderungen sind durchgehend und dauernd vorhanden. Er ist daher schon bei Eintreten in das Erwerbsleben nur in der Lage gewesen, in einem gewissen "geschützten Milieu", also auf einem "geschützten Arbeitsplatz" zu arbeiten. Am allgemeinen Arbeitsmarkt - mit den dabei geforderten üblichen Belastungen - konnte er nie ordnungsgemäß eingesetzt werden. Er hat sich bei allen verrichteten Tätigkeiten aber stets außerordentlich bemüht.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, die Gewährung einer Invaliditätspension sei ausgeschlossen, weil der Kläger nie erwerbsfähig im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG gewesen sei. Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen der gerügten Verfahrensmängel und übernahm die Feststellungen des Erstgerichts als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung. Rechtlich vertrat es die Auffassung, in das Versicherungsverhältnis mitgebrachte, im Wesentlichen unveränderte körperliche oder geistige Zustände führten bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt dieses Versicherungsfalls. Die Beeinträchtigungen des Klägers bestünden durchgehend und dauernd seit seiner Kindheit. Dieser Zustand sei in das Versicherungsverhältnis mitgebracht worden. Es spiele daher keine Rolle, inwieweit es im Jahr 2000 zu einer weiteren Verschlechterung des Zustands des Klägers gekommen sei. Feststellungen darüber, inwieweit der Kläger zum Stichtag arbeitsunfähig gewesen sei, habe es nicht bedurft.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt. Vorweg ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der beklagten Partei von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf deren Gesamtrechtsnachfolgerin "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Novelle BGBl I 2002/1). Nach Ansicht des Revisionswerbers komme es ausschließlich darauf an, ob er irgendwann vor dem 1. 8. 2000 an seinem konkreten Arbeitsplatz die "Entgelthälfte" eines körperlich und geistig gesunden Versicherten zu erzielen vermochte. Erbringe ein begünstigter Behinderter an einem geschützten Arbeitsplatz eine Arbeitsleistung, die der Hälfte der Produktivität einer Normalarbeitskraft in gleicher Beschäftigung entspreche, so sei gerade nicht davon auszugehen, dass seine Arbeitsfähigkeit schon bei Aufnahme der Beschäftigung unter dem Mindestmaß des § 255 Abs 3 ASVG gelegen gewesen sei. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter, der - wie der Kläger - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr in der Lage ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistiger gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat allgemein zur Voraussetzung, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit, die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreicht haben müsste, durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde (stRsp seit SSV-NF 1/33; 5/14 ua). Es kommt daher darauf an, ob die trotz der Behinderung zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde, wobei der körperliche und geistige Zustand des Versicherten bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis jenen bei Antragstellung gegenüberzustellen ist (SSV-NF 9/64; 11/47 mwN ua). Die Ursache für die Verschlechterung (Minderung) der Arbeitsfähigkeit muss der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten sein (SSV-NF 6/28 ua). Ein bereits vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nach ständiger Rechtsprechung bei Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen (SSV-NF 1/67; 4/60; 9/64 uva). Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bezweckt den Schutz des Versicherten vor den Auswirkungen einer körperlichen oder geistig bedingten Herabsetzung seiner Arbeitsfähigkeit (10 ObS 141/01k mwN). Dieser Versicherungsfall kann daher nur eintreten, wenn während der versicherten Tätigkeit Arbeitsfähigkeit bestanden hat (SSV-NF 2/87 ua). Wer daher trotz bestehender Behinderung, die ihn von vornherein vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde, Versicherungszeiten erwirbt, kann sich nach Eintritt der allgemeinen Voraussetzungen für eine Invaliditätspension oder Berufsunfähigkeitspension nicht darauf berufen, sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, sodass er nunmehr als invalid im Sinne des hier maßgebenden § 255 Abs 3 ASVG anzusehen sei (10 ObS 141/01k).

Die Beurteilung, ob Invalidität im Sinn des § 255 ASVG vorliegt, ist eine Rechtsfrage (SSV-NF 10/14 uva). Diese Frage kann aber aufgrund der Feststellungen der Vorinstanzen nicht abschließend beantwortet werden. Zu ihrer Verneinung reicht nämlich die als Schlussfolgerung aus den diagnostizierten Behinderungen des Klägers getroffene Feststellung nicht aus, der Kläger sei schon bei Eintritt in das Erwerbsleben nur in der Lage gewesen, in einem gewissen "geschützten Milieu", also auf einem geschützten Arbeitsplatz zu arbeiten und sei am allgemeinen Arbeitsmarkt - mit den dabei geforderten üblichen Belastungen - nie "ordnungsgemäß" einsetzbar gewesen, fehlt doch für diese in ihrem Kern rechtliche Schlussfolgerung die notwendige Feststellung des bei Eintritt in das Erwerbsleben gegebenen (medizinischen) Leistungskalküls des Klägers und jede Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der Kläger nach dem Inhalt des der Klagebeantwortung beigelegten Versicherungsverlaufs offensichtlich als vollzeitbeschäftigter Dienstnehmer vom Mai 1981 bis Juni 2000 221 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG erworben hat. Dieser Umstand scheint dafür zu sprechen, dass der Kläger in der Lage war, eine verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen.

Die entscheidungswesentliche Frage, ob die Arbeitsfähigkeit des Klägers bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis - wenn auch nur geringfügig - über der Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden Vergleichsperson gelegen war und dann unter diese Grenze herabgesunken ist (10 ObS 282/02x), kann daher erst nach Vorliegen von Feststellungen, die diesen Vergleich ermöglichen, beurteilt werden. Dazu werden neben Feststellungen über das seinerzeitige Leistungskalkül des Klägers und über seinen körperlichen und geistigen Zustand bei Antragstellung auch nähere Feststellungen über das (die) Beschäftigungsverhältnis(se) des Klägers, insbesondere auch über die von ihm zu erbringenden und erbrachten Arbeitsleistungen und die Höhe seines Arbeitslohnes, aber auch über die Höhe des Entgelts erforderlich sein, das ein gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Weil somit nach dem Inhalt der Prozessakten dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen schon in erster Instanz weder erörtert noch festgestellt wurden, waren die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 510 Abs 1, 513 ZPO).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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