OGH 4Ob17/03h

OGH4Ob17/03h29.4.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Kodek als Vorsitzenden und durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Griß und Dr. Schenk sowie der Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Jakob S*****, geboren am *****, vertreten durch die Mutter Tanja S*****, diese vertreten durch Mag. Mathias Kapferer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Zuteilung der Obsorge, infolge Revisionsrekurses des Bundeslandes Tirol als Jugendwohlfahrtsträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck, Innsbruck, Boznerplatz 4, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 7. November 2002, GZ 52 R 113/02b-103, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 16. September 2002, GZ 2 P 101/99x-98, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird in seinem abändernden Teil dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts (Abweisung des Antrags der Mutter, die pflegschaftsgerichtliche Verfügung der Unterbringung des mj Jakob bei der Pflegefamilie aufzuheben = Punkt 3 des erstgerichtlichen Beschlusses) wiederhergestellt wird; im Übrigen wird der Beschluss (ersatzlose Aufhebung der Punkte 1 und 2 des erstgerichlichen Beschlusses) bestätigt.

Text

Begründung

Der am ***** geborene Jakob S***** ist das außerehelich geborene Kind der Tanja S*****, geboren am *****, und des Ömer Y*****, geboren am *****. Bei der Mutter besteht eine angeborene Hirnleistungsschwäche an der Grenze zur leichten geistigen Behinderung (IQ 81). Sie besuchte nach vier Jahren Volksschule und vier Jahren Allgemeine Sonderschule zwei Mal eine einjährige Handelsschule und arbeitete dann als angelernte Schneiderin. Seit Juni 1999 befindet sie sich auf einem geschützten Arbeitsplatz beim Stadtmagistrat Innsbruck, wo sie zunächst Hilfsarbeiten (Botengänge, Aktenscannen uä) erledigte und dann in den Bereich des städtischen Kindergartens wechselte. Jakob wuchs bis Mai 1999 (Einlieferung in die Kinderklinik) bei seiner Mutter auf, die mit dem Vater des Kindes nicht zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr gab es keinen Hinweis auf eine unzureichende Versorgung des Säuglings durch seine Mutter. Diese ging mit ihrem Sohn regelmäßig zum Arzt und ließ termingerecht die notwendigen Untersuchungen und Impfungen vornehmen. Anzeichen von Misshandlungen oder Vernachlässigung waren nicht festzustellen. Nach Kennenlernen ihres (auch noch heutigen) Lebensgefährten, der als Elektriker im EDV-Bereich der Universität Innsbruck beschäftigt ist, zog die Mutter mit ihrem Sohn zu diesem. Nach Streitigkeiten mit dem Lebensgefährten kam sie vorübergehend mit ihrem Sohn bei ihren Eltern unter und übersiedelte schließlich am 1. 3. 1999 mit Jakob vorübergehend ins Frauenhaus, wo sie in einer ungünstigen Wohnsituation (in einem Durchgangszimmer) untergebracht war. Am 1. 5. 1999 bezog die Mutter mit ihrem Sohn eine Stadtwohnung. Da im Juni 1999 die Karenzzeit der Mutter zu Ende ging und sie ihre Arbeit im Stadtmagistrat Innsbruck wieder aufnahm, gab sie Jakob ab 3. 5. 1999 in eine Krabbelstube, wo er ganztags betreut wurde. Schon während des Aufenthalts der Mutter im Frauenhaus gab es von dieser Seite Beschwerden gegenüber dem Jugendamt, dass die Mutter ihr Kind nicht ordentlich versorge. Nachdem man in der Krabbelstube am 19. 5. 1999 mehrere blaue Flecken an Jakobs Oberschenkel entdeckt hatte, wurde das Kind noch am selben Tag auf Intervention des Stadtjugendamtes stationär in die Kinderklinik aufgenommen. Die behandelnden Ärzte stellten ua folgende Diagnose: Verdacht auf Vernachlässigung bei generell leicht reduziertem Pflegezustand; auffälliges Hämatom am rechten Oberschenkel; Windeldermatitis. Eine Kindesmisshandlung konnte ärztlicherseits nicht mit Sicherheit bestätigt werden. Die psychomotorische Entwicklung, insbesondere die Sprachentwicklung des Kindes, wurde als unauffällig bezeichnet, bemerkenswert war für die Ärzte jedoch das unsichere Bindungsverhalten von Jakob, der mehrere weibliche Bezugspersonen als Mutter bezeichnete (ON 1 AS 17). Am 4. 6. 1999 beantragte das Stadtjugendamt Innsbruck gemäß § 215 ABGB die Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes in der Kinderklinik und sodann an einem geeigneten Pflegeplatz sowie gemäß § 176a ABGB die Entziehung der Obsorge der Kindesmutter und Übertragung an das Stadtjugendamt (ON 1). Nach seiner Entlassung aus der Kinderklinik wurde Jakob ab 30. 6. 1999 vom Stadtjugendamt bei einer Pflegefamilie in M***** untergebracht, wo er sich seit damals befindet. Nach der Absicht des Referats für Jugendwohlfahrt der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck sollte es sich bei der Unterbringung des Kindes bei der Pflegefamilie zunächst nur um eine kurzzeitige Krisenunterbringung handeln; die zuständige Sozialarbeiterin des Stadtjugendamtes Innsbruck stellte hingegen der Pflegefamilie von Anfang an einen Dauerpflegeplatz in Aussicht.

Ein psychologisches Gutachten Dr. P***** vom August 1999 (ON 8) zeichnet von der Mutter das Bild einer intellektuell unterentwickelten und retardierten, unreifen Persönlichkeit, die mehr vom Wunsch nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung als der Verfolgung weiterreichender Ziele bestimmt werde. Ihre Urteilsfähigkeit sei unterentwickelt; es falle ihr schwer, komplexe Situationen in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Es komme gehäuft zu Verlust des Realitätsbezugs und teilweiser Selbstüberschätzung; Wahrnehmung der Realität und objektive Gegebenheiten klafften auseinander. Der Gutachter verneinte zum damaligen Zeitpunkt die Erziehungsfähigkeit der Mutter und befürchtete bei einer Rückführung des Kindes zu ihr eine Gefährdung von dessen gesundheitlicher und seelischer Entwicklung. Er vertrat jedoch später die Meinung, sollte sich ein Wochenend-Besuchsrecht des Kindes bei seiner Mutter bewähren, könne man eine Rückführung des Kindes zur Mutter diskutieren (ON 24 S 4).

Eine Pädagogin, die die Mutter im Rahmen der privaten Fraueninitiative "D*****" unterstützt, vertrat im Dezember 1999 die Ansicht, die Mutter wäre mit adäquater Begleitung und Betreuung durchaus in der Lage, ihr Kind zu erziehen; wäre die Mutter von Beginn an unterstützt worden, wäre es nie zur derzeitigen Situation gekommen (ON 34 S 2). Nachdem sich die Mutter vorerst gegen eine Fremdunterbringung ihres Kindes aussprach und die sofortige Rückkehr ihres Kindes zu ihr beantragte (ON 23), erklärte sie sich im Dezember 1999 damit einverstanden, dass ihr Kind bei der Pflegefamilie bleibt, weil ihr klar sei, dass seine Rückführung derzeit nicht möglich sei; zugleich beantragte sie die Ausweitung ihres Besuchsrechts (ON 39).

Mit - in Rechtskraft erwachsenem - Beschluss vom 21. 2. 2000 (ON 45) wies das Erstgericht den Antrag des Stadtjugendamts Innsbruck, der Mutter die Obsorge zur Gänze zu entziehen und dem Antragsteller zu übertragen, ab; die Mutter wurde angewiesen, ihr Kind bis auf weiteres in Pflege und Erziehung bei der Pflegefamilie zu belassen; ihr Antrag auf unverzügliche Übergabe des Kindes in ihre Obhut wurde abgewiesen und ihr ein Besuchsrecht im Ausmaß von drei Stunden alle vierzehn Tage eingeräumt. Das Erstgericht vertrat die Auffassung, der Mutter seien weder seitens des Stadtjugendamts noch seitens des Frauenhauses Alternativen zur Fremdunterbringung ihres Kindes, etwa eine ambulante Betreuung, geboten worden. Das Kindeswohl sei durch eine Obsorgeausübung der Mutter nicht gefährdet. Die Mutter habe sich mit einer Fremdunterbringung einverstanden erklärt, arbeite mit den zuständigen Behörden zusammen und nehme jede ihr gebotene Hilfe auch an. Der Antrag auf Entziehung der Obsorge sei deshalb nicht berechtigt.

Ende Dezember 2000 beantragte die Mutter (die weiterhin von der Fraueninitiative "D*****" unterstützt wird: ON 54 S 2) die Ausdehnung ihres Besuchsrechts, damit sich ihr Sohn wieder mehr an sie gewöhne; langfristig strebe sie die Wiederaufnahme ihres Kindes in ihren Haushalt an (ON 50). Im April 2002 (ON 84) widerrief die Mutter ihre Einwilligung zur Unterbringung ihres Sohnes bei einer Pflegefamilie und beantragte die Aufhebung der entsprechenden pflegschaftsgerichtlichen Verfügung.

Ein Gutachten des Kinderpsychologen Dr. K***** vom Oktober 2001 (ON 70) samt Ergänzungen vom April 2002 (ON 85) und Juli 2002 (ON 88) bietet folgendes Bild: Jakob wachse bei seinen Pflegeeltern zusammen mit deren drei eigenen Kindern (im Alter zwischen 8 und 18 Jahren) und einem vierzehnjährigen Adoptivkind auf. Er sei kognitiv gut entwickelt, selbstbewusst und habe sich zu einem stabilen, "unproblematischen" Kind entwickelt, das über ein hohes Maß an aktiven Bewältigungsstrategien und Ausdauer verfüge. Die Mutter habe einen Nachreifungsprozess durchgemacht, ihre soziale Situation habe sich merklich stabilisiert. Sie komme mit ihren derzeitigen Lebensaufgaben gut zurecht und sei fähig, mit ihrem Sohn positiv umzugehen; es könne ihr nicht jede Erziehungskompetenz abgesprochen werden. Als Folge des bereits über zwei Jahre andauernden Pflegeverhältnisses hätten sich zwischen dem Kind und seinen Pflegeeltern existentielle Bindungen entsprechend einem Eltern-Kind-Verhältnis entwickelt; die Pflegeeltern seien für Jakob zu seinen "faktischen Eltern", die anderen Kinder der Familie zu seinen "psychologischen Geschwistern" geworden. Jakob finde bei den Pflegeeltern Sicherheit und Geborgenheit, was sich auch daran zeige, dass er sich in der Übergabesituation anlässlich des Besuchsrechts an seine leibliche Mutter problemlos von den Pflegeeltern habe trennen können. Die Pflegeeltern seien die Hauptbindungspersonen Jakobs; ein Abbruch dieser Beziehung durch Rückführung des Minderjährigen zu seiner leiblichen Mutter würde seine kindliche Entwicklung gefährden und ihm die Basis für seine Orientierung entziehen. Ein Kind im Alter von rund eineinhalb Jahren (dem Zeitpunkt der Trennung Jakobs von seiner Mutter) sei nur für höchstens ein paar Monate in der Lage, an seinen früheren Bindungen festzuhalten. In dem seit damals vergangenen Zeitraum von etwa drei Jahren habe Jakob eine existentielle Bindung zu seinen Pflegeeltern entwickelt, und aus bindungstheoretischer Sicht gäbe es nun kein Argument mehr, diese Bindung zu trennen: Ein solches Lebensereignis wirke normalerweise destrukturierend, löse Irritation, Angst und Verwirrung aus und könne zu massiven Verhaltensauffälligkeiten führen. Die Mutter verfüge nicht über ausreichende Kompetenzen und Bewältigungsstrategien, einer solchen komplexen Situation kindgerecht entgegensteuern zu können. Sie könne vielleicht unter "normalen" Voraussetzungen - gekoppelt mit ambulanten Erziehungshilfen - die Mindesterfordernisse erzieherischer Anforderungen erfüllen, wäre aber auf Grund der Summe der konkreten Problembereiche mit der Erziehung überfordert. So wie sich die Situation momentan darstelle, habe Jakob derzeit nur "Plusfaktoren" auf seiner Seite: Auf der einen Seite habe er eine geordnete und stabile Situation bei seinen Pflegeeltern, an die er gefühlsmäßig gebunden sei und bei denen er auch einen positiven Entwicklungsverlauf nehme; auf der anderen Seite habe er eine Mutter, die auf Grund der gegebenen Rahmenbedingungen mit ihm nicht überfordert sei. Er könne die Mutter deshalb auch positiv besetzen und das gemeinsame Zusammensein mit ihr im Rahmen des ausgeübten Besuchsrechts (derzeit 6 Stunden alle 14 Tage) wie in einer Art "Feriensituation" genießen. Mit zunehmendem Alter des Kindes wäre sicherlich eine Ausweitung der Besuchsregelung angezeigt. Bei einer Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie würde man die bestehenden "Plusfaktoren" allerdings aufgeben.

In der mündlichen Gutachtensergänzung vom 11. 9. 2002 (ON 95) äußerte der Sachverständige auf die Frage einer begleiteten Rückführung des Kindes die Befürchtung, die Mutter werde bei auftretenden Schwierigkeiten mit dem Kind die Begleitung oder Unterstützung des Jugendamtes nicht annehmen, weil dies für sie bedeuten würde, ein Scheitern oder Versagen zugeben zu müssen. Um nicht den Verdacht dieses Scheiterns zu erwecken, würde die Mutter vermutlich nach außen hin versuchen, immer eine heile Situation darzustellen. Jakob sei ein stabiles, selbstsicheres, fröhliches und neurosefreies Kind, wie man es bei Kindern mit ähnlicher Geschichte selten finde. Es sei nach drei Jahren einfach zu spät, die stabile Situation bei den Pflegeeltern wieder aufzulösen; solches würde dem Kind die notwendige Stabilität nehmen und es zerrissen machen. Die derzeit bestehende Besuchsregelung zwischen den Pflegeeltern und der Kindesmutter funktioniere sehr gut. Für das Kind sei es für seine Entwicklung ganz wichtig, störungsfreie Kontakte zu seiner Mutter zu haben.

Das Erstgericht entzog mit dem angefochtenen Beschluss der Mutter die Obsorge für ihren Sohn (Punkt 1), übertrug die Obsorge dem Jugendwohlfahrtsträger (Punkt 2) und wies den Antrag der Mutter auf Aufhebung der pflegschaftsgerichtlichen Verfügung der Unterbringung des Sohnes in einer Pflegefamilie ab (Punkt 3). Die Obsorge sei zu entziehen, wenn solches infolge des Verhaltens des Obsorgeberechtigten zum Wohl des Kindes dringend geboten sei. Dabei sei ein strenger Maßstab anzulegen; eine derartige Maßnahme sei nur durch die sichere Prognose gerechtfertigt, dass das Kindeswohl künftig ernsthaft gefährdet sei. Im vorliegenden Fall wolle sich die leibliche Mutter wieder um ihr Kind kümmern, und die Voraussetzungen für das Wohl des Kindes wären bei ihr annähernd gleich wie bei den Pflegeeltern. Es komme aber nicht nur auf die Situation der Mutter, sondern entscheidend auf die Vor- und Nachteile einer Veränderung für das Kind an, wobei besonders dessen Entwicklungsmöglichkeiten und Neigungen sowie auch die Dauer des Pflegeverhältnisses zu berücksichtigen seien. Jakob sei bereits mit eineinhalb Jahren zu Pflegeeltern gekommen und habe dort schon doppelt so viel Zeit verbracht wie bei seiner leiblichen Mutter. Er sei gefühlsmäßig an seine Pflegeeltern gebunden, werde von ihnen liebevoll betreut, sei in deren Familie integriert und fühle sich dort wohl. Es wäre für ihn schwer, sich von seiner Pflegefamilie zu trennen und wieder in die Familie seiner Mutter einzugliedern. Allein aus dem Gesichtspunkt der Kontinuität der Erziehung sei sein Verbleib bei den Pflegeeltern eher zu seinem Wohl als eine Trennung von ihnen, weil letzteres seine Entwicklung gefährden würde.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluss in seinen Aussprüchen zu den Punkten 1 und 2 ersatzlos auf und änderte ihn in seinem Ausspruch zu Punkt 3 dahin ab, dass es die pflegschaftsgerichtliche Verfügung im Beschluss vom 21. 2. 2002 (ON 45), wonach die Mutter den Minderjährigen bis auf weiteres in Pflege und Erziehung der Pflegeeltern zu belassen habe, aufhob; es sprach aus, dass der Beschluss erst nach Eintritt der Rechtskraft zu vollziehen sei und der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil eine einzige höchstgerichtliche Entscheidung zu einem vergleichbaren Sachverhalt ("Verwirkung" der Elternrechte durch freiwillige Unterbringung des Kinds auf einem Pflegeplatz) vorliege, von der das Rekursgericht auch teilweise abgewichen sei. Auszugehen sei davon, dass der Mutter, die mit einer Fremdunterbringung ihres Kinds zunächst einverstanden gewesen sei, die Obsorge bisher - auch in Teilbereichen - nicht entzogen worden sei. Die Entziehung der Obsorge komme nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs dann in Frage, wenn die elterlichen Pflichten objektiv nicht erfüllt oder subjektiv grob vernachlässigt würden oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Kindeswohl gefährdeten. Eine Pflichtverletzung liege insbesondere auch darin, dass wichtigen Veränderungen nicht Rechnung getragen werde. Elternrechte hätten im Spannungsverhältnis mit dem Kindeswohl zurückzutreten. Ein das Kindeswohl gefährdendes Verhalten liege nach der Entscheidung 5 Ob 542, 543/91 dann vor, wenn die Mutter das freiwillig auf einem Pflegeplatz untergebrachte Kind trotz der damit verbundenen ernstlichen Gefährdung der weiteren gedeihlichen Entwicklung zu sich zurückbringen wolle, sofern nicht zuvor behutsam ein Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Kind aufgebaut werde. Im hier vorliegenden Fall bestehe nun eine Beziehung des - bereits kurz nach seiner Geburt bei Pflegeeltern untergebrachten - Kindes zu seiner leiblichen Mutter im Rahmen des regelmäßig ausgeübten Besuchsrechts. Es sei nicht ersichtlich, durch welche weiteren vertrauensbildenden Maßnahmen die Mutter eine Gefährdung des Kindeswohls im Rahmen der Rückführung zu ihr hintanhalten könne. Auch könne die wenig flexible Haltung der Pflegeeltern, die eine schrittweise und möglichst schonende Rückführung des Kindes erschwerten, der leiblichen Mutter nicht zum Nachteil gereichen. Es sei voraussehbar, dass das Kind mit zunehmendem Alter immer größere Orientierungsprobleme zwischen den Pflegeeltern und seiner leiblichen Mutter haben werde. Auf Dauer gesehen werde das Kindeswohl durch Aufrechterhaltung der - sich künftig noch verstärkenden - Ambivalenz zwischen beiden Arten von Elternteilen nicht befördert, sondern beeinträchtigt. Es entspreche der Erfahrung, dass bei getrennt von ihren leiblichen Eltern aufwachsenden Kindern die Herkunftsfrage und die Frage, weshalb insbesondere die Mutter die persönliche Pflege und Erziehung nicht habe wahrnehmen können oder wollen, von oft traumatischer Natur sei. Wenngleich die Rückführung zur Mutter für das Kind mit der schmerzhaften Aufgabe von gewachsenen Beziehungen zu den Pflegeeltern verbunden sei, werde dem Kindeswohl damit auf Dauer mehr entsprochen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers ist zulässig und teilweise berechtigt.

Das Rekursgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Mutter erstmals mit dem angefochtenen Beschluss ON 98 die Obsorge entzogen worden ist, hat doch das Erstgericht zuvor in der Begründung seines Beschlusses ON 45 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Antrag auf Entziehung der Obsorge unberechtigt sei. Rechtsgrundlage der bisherigen Unterbringung des Kindes bei Pflegeeltern war daher die mit Zustimmung der Mutter erfolgte Übergabe des Kindes in fremde Pflege, wodurch infolge Ermächtigung der Pflegeeltern durch die Mutter als unmittelbare Erziehungsberechtigte ein Pflegeverhältnis iSd § 186 Abs 1 erster Fall ABGB idF vor dem KindRÄG 2001 zustande gekommen ist (vgl Stabentheiner in Rummel, ABGB³ § 186 Rz 1). Infolge Widerrufs der Zustimmung der Mutter zu dieser Fremdpflege ihres Kindes war sodann amtswegig (Stabentheiner aaO Rz 3) zu prüfen, ob die nach Beendigung der freiwilligen Fremdpflege grundsätzlich gebotene Rückführung des Kindes zur Mutter das Kindeswohl gefährde. Das Erstgericht hat eine solche Gefährdung angenommen und - diesem Standpunkt folgend - durch Übertragung der Obsorge auf den Jugendwohlfahrtsträger eine Verfügung nach § 176 Abs 1 ABGB getroffen, um auf diese Weise eine Unterbringung des Kindes bei Pflegeeltern auch gegen den Willen der Mutter zu ermöglichen. Weil nach dem angefochtenen Beschluss die Obsorge wieder der Mutter zukommt, ist der Jugendwohlfahrtsträger dadurch beschwert und zu einem Rechtsmittel legitimiert.

Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend (EFSlg 87.014; EFSlg 89.783; 4 Ob 186/01h); im Spannungsverhältnis zwischen Elternrechten und dem - richtig beurteilten - Kindeswohl haben erstere naturgemäß zurückzutreten (JBl 1996, 714 = EFSlg 81.134; EFSlg 89.783; 4 Ob 186/01h). Die Entziehung der Obsorge darf grundsätzlich nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs angeordnet werden (EFSlg 87.005; 10 Ob 25/00; 4 Ob 186/01h). Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls iSd § 176 ABGB ist nach den Gesetzesmaterialien nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, dass die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden. Eine Pflichtverletzung in diesem Sinne kann auch vorliegen, wenn die Eltern ihre Pflicht zu einvernehmlichem Vorgehen verletzen. Die Gefährdung des Kindeswohls kann daher auch schon darin liegen, dass wichtige Veränderungen eingetreten sind, die Eltern aber diesen Veränderungen nicht durch einvernehmliches Vorgehen Rechnung tragen (SZ 53/142 = EvBl 1981/82 = ÖA 1982, 36; EFSlg 54.020). Ein Wechsel der Pflege- und Erziehungsverhältnisse kann vorgenommen werden, wenn besonders wichtige Gründe im Interesse des Minderjährigen eine Änderung geboten erscheinen lassen (EFSlg 59.821).

Diese Änderung kann auch in der Aufhebung eines Pflegevertrags bestehen. Mit einem darauf gerichteten Begehren hatte sich der OGH in der Entscheidung 7 Ob 657/90 (= SZ 63/165) zu befassen. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte die Mutter das etwas mehr als 1-jährige Kind zu Pflegeeltern gegeben, bei denen es im Zeitpunkt der OGH-Entscheidung 7 Jahre gelebt hatte. Das Kind wurde von den Pflegeeltern liebevoll betreut und auch gefördert; am Vormittag besuchte es die Volksschule, am Nachmittag wurde es - da die Pflegemutter berufstätig war - in einem Kinderheim betreut. Die Mutter hatte in der Zwischenzeit geheiratet; sie hatte gemeinsam mit ihrem Ehemann einen Zubau zum Eigenheim errichtet, in dem dem Kind ein eigenes Zimmer zur Verfügung stehen sollte.

Der Oberste Gerichtshof lehnte die von der Mutter begehrte Aufhebung des Pflegevertrags dennoch ab. Wörtlich führte der OGH aus: „Es genügt, dass die Aufhebung dem Wohl des Kindes entspricht. Unter dieser Voraussetzung wird daher auch die Aufhebung des Vertrags in Betracht kommen, wenn Pflegeeltern ihre Aufgabe zur vollen Zufriedenheit erfüllen. Als Grund für die Aufhebung des Vertrags kommt in Betracht, dass die leiblichen Eltern sich wieder um das Kind kümmern wollen und können und dass die Voraussetzungen für das Wohl des Kindes bei den Pflegeeltern und den leiblichen Eltern annähernd gleich sind. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Entwicklungsmöglichkeiten und die Neigungen des Kindes sowie die Dauer des Pflegeverhältnisses dann, wenn diese dazu beigetragen hat, das Kind gefühlsmäßig an seine Pflegeeltern zu binden und seinen leiblichen Eltern zu entfremden. Ein Kind, das in sehr jungem Alter zu Pflegeeltern gekommen ist und dort sehr lange betreut wurde, wird sich nur schwer von seinen Pflegeeltern trennen und in seine Herkunftsfamilie eingliedern. Die bisherige Lage des Kindes sowie die Vor- und Nachteile, die die Veränderung für das Kind bringen könnte, sind daher umfassend zu beachten." Die Grundrechte der Eltern nach der MRK stünden dieser Beurteilung nicht entgegen.

Werden diese Erwägungen auf den vorliegenden Fall übertragen, so kommt eine Aufhebung des Pflegevertrags nicht in Betracht:

Jakob ist seit 30. 6. 1999 - er war damals etwa 1 ½ Jahre alt - und damit seit fast 4 Jahren bei den Pflegeeltern untergebracht. Seine Pflegeeltern sind seine "faktischen Eltern" geworden; ihre Kinder (drei eigene Kinder im Alter zwischen 8 und 18 Jahren und ein Adoptivkind im Alter von 14 Jahren) sind seine "psychologischen Geschwister". Jakob findet bei seinen Pflegeeltern Sicherheit und Geborgenheit; er hat sich in jeder Hinsicht gut entwickelt. Nach dem Gutachten des Sachverständigen hat Jakob bei seinen Pflegeeltern eine geordnete und stabile Situation; er ist an sie gefühlsmäßig gebunden.

Jakobs Mutter hat zwar einen Nachreifungsprozess durchgemacht; ihre soziale Situation hat sich stabilisiert. Sie ist jedoch - wie ihre Stellungnahmen gegenüber dem Gericht und ihre Äußerungen gegenüber dem Sachverständigen zeigen - nicht bereit, eigene Fehler einzugestehen. Sie ist offenbar auch nicht in der Lage, die Belastungen und Schwierigkeiten zu sehen, die sich für Jakob ergeben, wenn er zu ihr zurück muss. So hat sie gemeint, sie sehe "kein Problem" darin, dass die Rückführung für Jakob einen sich wiederholenden Bindungsabbruch bedeuten würde (AS 525 ff).

Dass aber der Verlust der Pflegeeltern und seiner Geschwister Jakob schwer treffen würde, steht nach dem Gutachten des Sachverständigen fest. Die Pflegeeltern und seine Pflegegeschwister sind seine Famillie; dort fühlt er sich geborgen und aufgehoben. Diesen Verlust könnte seine Mutter selbst dann nicht wettmachen, wenn sie dazu in der Lage sein sollte.

Dass sie dazu in der Lage wäre, wird vom Sachverständigen in Zweifel gezogen. Die Mutter ist bereits jetzt durch ihre Arbeit gefordert (laut Angabe ihres Lebensgefährten ist sie jedes Mal ziemlich müde, wenn sie von ihrer Arbeit nach Hause kommt: AS 539); sie hätte nunmehr ein in die Schule eintretendes Kind zu versorgen, das gleichzeitig den Schmerz der Trennung von seiner Familie zu bewältigen hätte. Besuche bei den Pflegeeltern könnten dies nicht ausgleichen; es ist vielmehr zu befürchten, dass sie dem Kind nur noch deutlicher machten, was es verloren hat. Verloren hätte es vor allem seine Pflegemutter, die offenbar nicht berufstätig ist und das Kind daher betreuen konnte und könnte.

Das schließt es aus, die Voraussetzungen für das Wohl des Kindes bei der Mutter annähernd gleich wie bei den Pflegeeltern zu bewerten. Eine derartige Einschätzung ist auch dem Beschluss des Erstgerichts nicht zu entnehmen. Das Erstgericht billigt der Mutter zwar zu, dass sich ihre Lebensumstände wesentlich gebessert haben und das Umfeld für die Erziehung eines Kindes durchaus adäquat wäre, es bewertet aber die Bedingungen für das Kindeswohl bei der Mutter und bei den Pflegeeltern an keiner Stelle als gleichwertig. Im Gegenteil; das Erstgericht stellt ausdrücklich fest, dass der Abbruch der Beziehung zu den Pflegeeltern die Entwicklung Jakobs so elementar gefährden würde, dass ihm die Basis für seine Orientierung entzogen würde.

Was nach der angefochtenen Entscheidung für die Rückführung des Kindes spricht, ist allein die Befürchtung, die Orientierungsprobleme Jakobs könnten bei seinem Verbleib in der Pflegefamilie zunehmend größer werden und zu Traumatisierungen führen; eine Auflösung dieser Ambivalenz werde daher mit zunehmenden Alter des Kindes immer schwieriger.

Damit würde aber dem Kind ein mit Sicherheit eintretender Nachteil (dass Jakob unter der Trennung von den Pflegeeltern litte, gesteht auch die angefochtene Entscheidung zu) zugefügt, um einen befürchteten Nachteil zu vermeiden. Das könnte - wenn überhaupt - nur dann gerechtfertigt sein, wenn der in jedem Fall eintretende Nachteil nur gering zu bewerten und mit dem befürchteten gravierenden Nachteil mit Sicherheit zu rechnen wäre. Davon kann jedoch nach dem festgestellten Sachverhalt keine Rede sein:

Jakob hat eine existentielle Bindung zu seinen Pflegeeltern entwickelt; nach den Ausführungen des Sachverständigen wirkt eine Trennung bei einer derartigen Bindung regelmäßig destrukturierend, sie löst Irritation, Angst und Verwirrung aus und kann zu massiven Verhaltensauffälligkeiten führen. Die befürchteten Orientierungsprobleme scheinen demgegenüber bewältigbar. Wenn klargestellt ist, dass Jakob bei den Pflegeeltern bleibt, so wird sich das Verhältnis der Pflegeeltern zu seiner Mutter entspannen. Jakob hat dann auf Dauer "zwei Mütter"; ein Zustand, mit dem er schon jetzt sehr gut zurecht kommt und der für ihn, wie der Sachverständige ausführt, nur Plusfaktoren aufweist.

Das schließt es aus, den Pflegevertrag aufzuheben, weil eine Rückführung des Kindes zu seiner Mutter mit der vom Gesetz aufgetragenen Beachtung des Kindeswohls unvereinbar wäre. Das Kindeswohl erfordert es allerdings derzeit nicht von Amts wegen, der Mutter die Obsorge zu entziehen und diese dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Das bloße Verlangen der Mutter, das Pflegeverhältnis aufzulösen und das Kind ihr zu übergeben, ist noch keine Gefährdung des Kindeswohls, die es rechtfertigte, ihr die Obsorge zu entziehen. Sollte die Mutter aber in Zukunft durch ihr Verhalten die gedeihliche Entwicklung des Kindes gefährden, so werden entsprechende Maßnahmen zu treffen sein.

Dem Revisionsrekurs war teilweise Folge zu geben.

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