OGH 10ObS374/02a

OGH10ObS374/02a26.11.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Rudolf Schallhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hilde S*****, vertreten durch Mag. Gerald Gerstacker, Rechtsanwalt in Mödling, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeiststraße 1, 1021 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegelderhöhung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Juli 2002, GZ 9 Rs 88/02f-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 11. Oktober 2001, GZ 4 Cgs 172/01f-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird, soweit sie Nichtigkeit geltend macht, zurückgewiesen.

Im Übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Revision wiederholt zunächst die Berufungsausführungen zum Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 9 ZPO, dass das Ersturteil keine überprüfbare Begründung für die Ablehnung der begehrten Pflegegeldstufe 6 enthalte. Das Berufungsgericht ist auf die behauptete Nichtigkeit eingagangen und hat sie verneint, sodass ihre ihr erfolgreiche Geltenmachung im Revisionsverfahren ausgeschlossen ist (SSV-NF 1/36 mwN uva; RIS Justiz RS0042925, RS0042981).

Rechtliche Beurteilung

Die in der angefochtenen Entscheidung enthaltene rechtliche Beurteilung der Sache ist zutreffend, weshalb es ausreicht, auf deren Richtigkeit hinzuweisen (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO). Den Revisionsausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:

Es ist unstrittig, dass bei der Klägerin der erforderliche Pflegebedarf nach § 4 Abs 2 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt (und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist). Strittig ist im Revisionsverfahren aufgrund der Revision der Klägerin nur noch die Frage, ob bei ihr ab 1. 3. 2001 die weiteren Voraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 6 vorliegen oder nicht.

Nach § 4 Abs 2 BPGG (idF der zum 1. 1. 1999 in Kraft getretenen Novelle zum BPGG) besteht Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 6 für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 leg cit durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn

1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaß- nahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder

2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit der Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist.

Diese gesetzlichen Neudefinitionen erfolgten in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes (RV 1186 BlgNR 20. GP 11). Während die Z 1 in § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG nF eine Ausweitung gegenüber der alten Rechtslage darstellt (SSV-NF 14/64 mwN), entspricht die Z 2 leg cit ("dauernde Anwesenheit ..., weil ... Eigen- oder Fremdgefährdung") trotz anderer Wortwahl dem Fall der "dauernden Beaufsichtigung oder einem gleichzuhaltenden Pflegeaufwand" nach der alten Rechtslage (SSV-NF 14/42 mwN; SSV-NF 14/64).

Die Voraussetzungen dafür liegen nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates dann vor, wenn die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen notwendig ist. Dies wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt (vgl RIS-Justiz RS0107442; RS0106362 mwN). Ob das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes besteht, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Feststellungen über die Bedürfnisse des Betroffenen im konkreten Fall zu beurteilen ist (SSV-NF 14/64 mwN).

Der erkennende Senat hat bereits in der Entscheidung SSV-NF 14/42 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien dargelegt, dass die BPGG-Novelle 1998 vom ausdrücklichen Bestreben getragen war, insbesondere Unklarheiten beim Begriff der "dauernden Beaufsichtigung" zu beseitigen und die Abgrenzungskriterien (wie schon erwähnt weitgehend in Anlehnung an die bisher hiezu ergangene Judikatur des Obersten Gerichtshofes) zur Klarstellung und aus Gründen der Rechtssicherheit deutlicher zu definieren. Demnach handelt es sich bei der dauernden Beaufsichtigung "auch um einen umgangssprachlichen Begriff, der in vielen Fällen von den pflegenden Angehörigen anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt interpretiert wird. Diese fühlen sich verständlicherweise verpflichtet, einen Pflegebedürftigen nicht alleine zu lassen, auch wenn ihm de facto keine unmittelbare Gefahr droht, das heißt keine Notwendigkeit der dauernden Beaufsichtigung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Die Pflegepersonen können daher die Einstufung in eine niedrigere Pflegegeldstufe oftmals nicht akzeptieren ...... Für die Zuordnung in die Stufe 6 sollen neben dem zeitlichen Ausmaß von mehr als durchschnittlich 180 Stunden pro Monat entweder zusätzliche unkoordinierbare Pflegemaßnahmen oder die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen Eigen- oder Fremdgefährdung notwendig sein. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen liegen dann vor, wenn ein im Vorhinein festgelegter Pflegeplan nicht eingehalten werden kann und auch regelmäßig während der Nachtstunden, dh nahezu jede Nacht, tatsächlich (unkoordinierbare) Betreuungsmaßnahmen erbracht werden müssen. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen sind etwa dann zu erbringen, wenn wegen einer Schlucklähmung regelmäßiges Absaugen oder Aufsetzen des Pflegebedürftigen erforderlich ist. Auch das Beruhigen oder Zurückbringen bei nächtlicher Verwirrtheit und Umtriebigkeit wird - im Sinne der Mobilitätshilfe im engeren Sinn - darunter zu verstehen sein. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im unmittelbaren Wohnbereich kann bei Menschen mit geistiger Behinderung oder einer psychischen Erkrankung dann notwendig sein, wenn die Gesundheit des Pflegebedürftigen selbst oder einer anderen Person gefährdet ist. Wenn jemand beispielsweise auf Grund der geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung zu tätlichen Angriffen gegenüber Dritten neigt, ist eine Pflegeperson zur Verhinderung dieser aggressiven Handlungen erforderlich; verbale Attacken sind darunter nicht zu verstehen. Beispiel für eine Eigengefährdung wäre etwa, wenn der geistig Behinderte oder psychisch Erkrankte wiederholt mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und durch die Pflegeperson daran gehindert werden muss. Eine dauernde Anwesenheit ist nur dann notwendig, wenn eine solche Gefahr wahrscheinlich ist. Die alleinige Möglichkeit einer derartigen Situation reicht nicht aus" (RV 1186 BlgNR 20. GP 11; SSV-NF 14/42 mwN).

Im Sinne dieser Grundsätze sind bei der Klägerin die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 5 auch nach neuem Recht nicht erfüllt; war doch insoweit von folgenden Feststellungen auszugehen:

Die am 17. 8. 1911 geborene Klägerin befindet sich in Pflege und Betreuung des Pensionistenheimes E*****, wo ihr ein Einbettzimmer zur Verfügung steht.

Bei der Klägerin besteht ein Altersherz mit teilweiser Dekompensation, Lungenüberblähung und es liegen beginnende Gefäßverkalkungen vor. Ihr Allgemeinzustand ist reduziert, es besteht jeweils ein Zustand nach Schlaganfall, Bruch des rechten Unterschenkels und Amputation der rechten Kleinzehe, ein Plattenkarzinom, eine periphere arterielle Verschlusskrankheit, Immobilität sowie unwillkürlicher Harn- und Stuhlverlust. Die Klägerin kann breiige Kost selbständig einnehmen, ist (jedoch) bei Vorliegen einer Stuhl- und Harninkontinenz zu allen übrigen Tätigkeiten und Verrichtungen des täglichen Lebens nicht in der Lage und bedarf der Fremdhilfe.

Infolge der Immobilität, ihrer allgemeinen Schwäche und wegen schlechter Durchblutung der beiden unteren Extremitäten muss die Klägerin immer wieder (um)gelagert werden. Sie leidet an Obstipationen (= Stuhlverstopfungen), die auch infolge der verabreichten Schmerzpflaster auftreten.

Die Klägerin ist derzeit aber noch geistig in der Lage, fremde Hilfe anzufordern, (nämlich) eine Alarmglocke zu betätigen. Ihr Zustand muss in zeitlichen Abständen von zwei bis drei Stunden kontrolliert werden, das gilt sowohl für den Tag als auch für die Nacht. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson neben dem Krankenbett ist nicht erforderlich.

Die Klägerin trägt Windeln. Infolge Sicherung durch ein Steckgitter ist ein Herausfallen der Klägerin aus dem Krankenbett unmöglich. Von diesen Feststellungen entfernen sich die Revisionsausführungen, die als "unrichtige rechtliche Beurteilung" rügen, das Erstgericht habe "sämtliche Feststellungen" über das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind, unterlassen, und geltend machen, auch aus den getroffenen Feststellungen hätte die rechtliche Schlussfolgerung gezogen werden müssen, dass der Klägerin Pflegegeld der Stufe 6 zuzuerkennen sei. Sie stellen daher den unzulässigen Versuch einer Bekämpfung der Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen dar. Der in der Rechtsrüge erhobene Vorwurf des rechtlichen Feststellungsmangels (dass das Erstgericht infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung erforderliche Feststellungen nicht getroffen und notwendige Beweise nicht aufgenommen habe [Kodek aaO Rz 4 zu § 496 ZPO]) kann nämlich nicht erfolgreich erhoben werden, wenn zu einem bestimmten Thema - wie hier - ohnehin Feststellungen getroffen wurden, diese den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers aber zuwiderlaufen (10 ObS 355/01f mwN).

Das Verfahren hat somit keine Anhaltspunkte für das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen ergeben und es ist nach den Verfahrensergebnissen auch nicht davon auszugehen, dass die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen einer wahrscheinlichen Eigengefährdung (oder Fremdgefährdung) erforderlich ist. Der Umstand, dass die Klägerin bettlägrig ist, für Lagewechsel fremder Hilfe bedarf und eine Stuhl- und Harninkontinenz besteht, rechtfertigt nicht die Annahme des Erfordernisses zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen und damit der Notwendigkeit der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson, weil die Klägerin in der Lage ist, bei Bedarf mit Hilfe einer Rufvorrichtung (Alarmglocke) eine Betreuungsperson herbeizurufen und das (regelmäßige) Umbetten der Klägerin gegen Wundliegen nicht unkoordinierbar ist (SSV-NF 14/42, 14/64 mwN uva).

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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