Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 7. 1. 1911 geborene Klägerin bezieht von der beklagten Partei aufgrund des Urteils des Landesgerichts Feldkirch vom 12. 3. 1997, 33 Cgs 28/96m-22, seit 1. 10. 1995 Pflegegeld der Stufe 5. Seit 2. 1. 2001 lebt die Klägerin im Alters- und Pflegeheim S***** in F*****. Zuvor wurde sie in ihrem Privathaus von ihrem Sohn Erich M***** gepflegt.
Die Klägerin ist nicht mehr steh- und gehfähig und hält sich untertags im Rollstuhl auf. Die bereits früher bei der Klägerin bestandene Desorientiertheit ist nun noch ausgeprägter vorhanden. Eine sinnhafte Unterredung mit der Klägerin ist nicht mehr möglich. Sie wird in der Früh aus dem Bett in einen Rollstuhl gehoben, in dem sie sich tagsüber aufhält. Sie muss im Rollstuhl nicht angegurtet werden, und es besteht nicht die Gefahr, dass sie aus dem Rollstuhl fällt. Sie hält sich untertags entweder allein in ihrem Zimmer oder in den im Altersheim bestehenden Gruppen auf. In der Früh kann sie durchaus einige Zeit allein gelassen werden. Am Nachmittag und gegen Abend verschlechtert sich ihr Zustand regelmäßig. Das Pflegepersonal muss dann öfter nach ihr sehen.
In der Nacht ist die Klägerin überwiegend ruhig. Fallweise treten Verwirrtheits- und Unruhezustände auf, was ca ein- bis zweimal pro Woche der Fall ist. Sie nestelt in ihrem Bett und an der Windel herum. In diesen Zeiten wird eine regelmäßige, ein- bis zweistündige Nachschau gehalten. Eigen- und Fremdgefährdung besteht nicht, weil die Klägerin nicht mehr die Kraft hat, aus dem Bett zu steigen. Um ein Wundliegen zu vermeiden muss die Klägerin in der Nacht regelmäßig umgelagert werden. Generell genügen in der Nacht Routinekontrollen, und zwar auch dann, wenn die vorangeführten Verwirrtheits- und Unruhezustände auftreten.
Als die Klägerin noch von ihrem Sohn zu Hause gepflegt wurde, nächtigte dieser regelmäßig im Haus seiner Mutter in einem Nebenzimmer. Es kam fast jede Nacht vor, dass er zweimal, zumindest aber einmal aufstehen musste, um irgendeine Betreuungsverrichtung durchzuführen. Die Klägerin hatte in diesen Fällen entweder den Seniorenalarm gedrückt, worauf ihr Sohn telefonisch verständigt wurde, oder ihren Sohn gerufen. In diesen Fällen musste er ihr behilflich sein, sie auf den Leibstuhl zu setzen oder einen Tee zu kochen. Die Klägerin war jedenfalls in der Lage, ihren Sohn direkt zu rufen oder den Seniorenalarm auszulösen und dann mitzuteilen, was sie benötigte.
Zur täglichen Körperpflege kann die Klägerin kaum noch beitragen. Untertags ist sie mit Einlagen versorgt, erhält aber auch ein Toilettentraining. Dies bedeutet, dass sie in gewissen Abständen auf das WC gebracht wird. Funktioniert das Toilettentraining nicht, ist die Klägerin harn- und stuhlinkontinent. Sie kann sich auch nicht mehr allein an- und auskleiden. Die Medikamente müssen ihr gereicht werden.
Unter Berücksichtigung der jeweiligen Werte der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz beträgt der durchschnittliche monatliche Pflegebedarf der Klägerin 213 Stunden.
Mit Bescheid vom 17. 5. 2000 hat die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 15. 3. 2000 auf Erhöhung des Pflegegeldes (über die Stufe 5 hinaus) abgelehnt.
Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Bei der Klägerin reiche eine dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson aus. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson sei noch nicht notwendig und es sei die Pflege auch koordinierbar, weshalb die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 nicht vorlägen. Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei nicht Folge. Es sah die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht als gegeben an und führte in rechtlicher Hinsicht aus, dass die Feststellungen keinen Anhaltspunkt dafür böten, dass der Zustand der Klägerin die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich mache; dafür fehle nämlich die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung. Vor allem unter diesem Aspekt seien die Verwirrtheits- und Unruhezustände der Klägerin zu sehen, die zum einen durch regelmäßige Kontrollen bewältigbar und zum anderen keine Selbstgefährdung der Klägerin mit sich brächten. Auch Anhaltspunkte für eine zeitlich unkoordinierbare Pflege lägen nicht vor. Insbesondere erfülle das Erfordernis des regelmäßigen Umlagerns in der Nacht diese Qualifikation nicht. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsstattgebung. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Die von der Klägerin neuerlich gerügten, den Tatsachenbereich betreffenden Mängel des Verfahrens erster Instanz (Verletzung der Anleitungspflicht im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Stellung weiterer Beweisanträge) hat bereits das Berufungsgericht verneint, sodass diese in der Revision wiederholten Verfahrensmängel erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung - auch in Verfahren nach dem ASGG - im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg gerügt werden können (Kodek in Rechberger2 Rz 3 Abs 2 zu § 503 ZPO; SSV-NF 5/116, 7/74, 11/15 ua; RIS-Justiz RS0042963 [T45] und RS0043061). Die Prüfung, ob zur Gewinnung der erforderlichen Feststellungen noch weitere Beweise erforderlich sind, stellt einen vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbaren Akt der Beweiswürdigung dar (vgl RIS-Justiz RS0043414). Die Ausführungen der Mängelrüge sind daher als unzulässiger Versuch einer Bekämpfung der Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen anzusehen (10 ObS 409/98i; 10 ObS 3/99k). Die in der angefochtenen Entscheidung enthaltene rechtliche Beurteilung der Sache ist zutreffend (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO).
Den Revisionsausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:
Nach § 4 Abs 2 BPGG (idF der zum 1. 1. 1999 in Kraft getretenen Novelle zum BPGG) besteht Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 6 für Personen, deren Pflegebedarf nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn
1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder
2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit der Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist.
Diese gesetzlichen Neudefinitionen erfolgten in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes (RV 1186 BlgNR 20.GP 11). Während die Z 1 in § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG nF eine Ausweitung gegenüber der alten Rechtslage darstellt (SSV-NF 14/64 mwN), entspricht die Z 2 ("dauernde Anwesenheit ..., weil die Wahrscheinlichkeit der Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist") trotz anderer Wortwahl dem Fall der "dauernden Beaufsichtigung oder einem gleichzuhaltenden Pflegeaufwand" nach der alten Rechtslage (SSV-NF 14/42 mwN; SSV-NF 14/64).
Die Voraussetzungen dafür liegen nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes dann vor, wenn die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen notwendig ist. Dies wird vor allem erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt (vgl RIS-Justiz RS0107442; RS0106362). Ob das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleich zu achtenden Pflegeaufwandes besteht, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Feststellungen über die Bedürfnisse des Betroffenen im konkreten Fall zu beurteilen ist (SSV-NF 14/64 mwN).
Der erkennende Senat hat bereits in der Entscheidung SSV-NF 14/42 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien dargelegt, dass die BPGG-Novelle 1998 vom ausdrücklichen Bestreben getragen war, insbesondere Unklarheiten beim Begriff der "dauernden Beaufsichtigung" zu beseitigen und die Abgrenzungskriterien zur Klarstellung und aus Gründen der Rechtssicherheit deutlicher zu definieren. Demnach handelt es sich bei der dauernden Beaufsichtigung "auch um einen umgangssprachlichen Begriff, der in vielen Fällen von den pflegenden Angehörigen anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt interpretiert wird. Diese fühlen sich verständlicherweise verpflichtet, einen Pflegebedürftigen nicht alleine zu lassen, auch wenn ihm de facto keine unmittelbare Gefahr droht, das heißt keine Notwendigkeit der dauernden Beaufsichtigung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Die Pflegepersonen können daher die Einstufung in eine niedrigere Pflegegeldstufe oftmals nicht akzeptieren...... Für die Zuordnung in die Stufe 6 sollen neben dem zeitlichen Ausmaß von mehr als durchschnittlich 180 Stunden pro Monat entweder zusätzliche unkoordinierbare Pflegemaßnahmen oder die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen Eigen- oder Fremdgefährdung notwendig sein. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen liegen dann vor, wenn ein im Vorhinein festgelegter Pflegeplan nicht eingehalten werden kann und auch regelmäßig während der Nachtstunden, dh nahezu jede Nacht, tatsächlich (unkoordinierbare) Betreuungsmaßnahmen erbracht werden müssen. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen sind etwa dann zu erbringen, wenn wegen einer Schlucklähmung regelmäßiges Absaugen oder Aufsetzen des Pflegebedürftigen erforderlich ist. Auch das Beruhigen oder Zurückbringen bei nächtlicher Verwirrtheit und Umtriebigkeit wird - im Sinne der Mobilitätshilfe im engeren Sinn - darunter zu verstehen sein. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im unmittelbaren Wohnbereich kann bei Menschen mit geistiger Behinderung oder einer psychischen Erkrankung dann notwendig sein, wenn die Gesundheit des Pflegebedürftigen selbst oder einer anderen Person gefährdet ist. Wenn jemand beispielsweise auf Grund der geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung zu tätlichen Angriffen gegenüber Dritten neigt, ist eine Pflegeperson zur Verhinderung dieser aggressiven Handlungen erforderlich; verbale Attacken sind darunter nicht zu verstehen. Beispiel für eine Eigengefährdung wäre etwa, wenn der geistig Behinderte oder psychisch Erkrankte wiederholt mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und durch die Pflegeperson daran gehindert werden muss. Eine dauernde Anwesenheit ist nur dann notwendig, wenn eine solche Gefahr wahrscheinlich ist. Die alleinige Möglichkeit einer derartigen Situation reicht nicht aus." (RV 1186 BlgNR 20. GP 11; SSV-NF 14/42, 10 ObS 80/01i = ARD 5285/12/2002, je mwN).
Im Sinne dieser Grundsätze sind bei der Klägerin die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 5 auch nach neuem Recht nicht erfüllt. Das Verfahren ergab keine Anhaltspunkte für das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen wären. Den Feststellungen ist im Gegensatz zu dem in der Revision vertretenen Standpunkt nicht zu entnehmen, dass die Klägerin immer wieder während des Tages und der Nacht aufgrund von Verwirrtheitszuständen beruhigt oder "zurückgebracht" werden müsste. Das Erfordernis des Umlagerns während der Nacht ist nicht unkoordinierbar. Nach den Verfahrensergebnissen ist aber auch nicht davon auszugehen, dass die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen einer wahrscheinlichen Eigengefährdung (oder Fremdgefährdung) erforderlich ist. Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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