OGH 10ObS3/02t

OGH10ObS3/02t28.5.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Dr. Elmar Peterlunger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Albert Ullmer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Margit Z*****, vertreten durch Dr. Peter Rudeck und Dr. Gerhard Schlager, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. September 2001, GZ 8 Rs 232/01y-72, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 28. März 2001, GZ 4 Cgs 175/98y-66, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 16. 3. 1947 geborene Klägerin war Vorstandssekretärin und verdiente 16-mal jährlich monatlich mehr als 60.000 S brutto. Sie erlitt am 31. 7. 1997 einen Schlaganfall. Auf Grund ihres vom Erstgericht im Einzelnen festgestellten medizinischen Zustandsbilds ist die Klägerin nur noch in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen zu leisten. Die Fingerfertigkeit der rechten Hand ist nicht beeinträchtigt. Die linke Hand wird nicht eingesetzt. Die Schwäche im linken Armbereich ist funktionell bedingt und hält nur einen minimalen in diesem Zusammenhang vernachlässigenswerten organischen Restanteil. Es besteht auch keine Hirnleistungsschwäche und kein maßgeblich ausgeprägtes depressives Symptom. Die Handfunktion lässt derzeit in dem von der Klägerin gezeigten Zustand keine maßgebliche Hilfsfunktion zu. Die Klägerin kann den linken Arm bewegen, nur ist ihrer Angabe zufolge die linke Hand kraftlos. Damit ist die Klägerin in der Lage, Gegenstände mit dem linken Arm an den Thorax zu drücken bzw mit der linken Hand Gegenstände auf einer Unterlage festzuhalten. Das Zurücklegen der Anmarschwege ist gewährleistet. Die Klägerin ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Der Zustand bestand auch zum Zeitpunkt der Antragstellung.

Mit Bescheid vom 22. 7. 1998 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 7. 5. 1998 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab, weil die Klägerin nicht berufsunfähig sei.

In ihrer dagegen erhobenen Klage auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1. 6. 1998 machte die Klägerin geltend, dass sie aus gesundheitlichen Gründen (Stress, Depressionen, Schlafstörungen, eingeschränkte Bewegungsfähigkeit als Folgen des Schlaganfalls) nicht mehr in der Lage sei, einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen. Sie beziehe seit Oktober 1997 Pflegegeld der Stufe 1. Die Creditanstalt AG habe sei mit 31. 10. 1998 gekündigt. Schon seit 31. 8. 1997 stehe sie nicht in Arbeit. In der mündlichen Streitverhandlung am 28. 3. 2001 brachte sie vor, sie sei als Vorstandssekretärin tätig gewesen und habe 16-mal jährlich monatlich mehr als 60.000 S brutto verdient. Daher sei eine Verweisung in die "Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrags" nicht zulässig, handle es sich doch dabei um eine soziale Verschlechterung. Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, weil die Klägerin ihre bisherige Tätigkeit als Post- und Bankangestellte bzw eine ähnliche ihr zumutbare Beschäftigung ausüben könne. Das Erstgericht wies auch im zweiten Rechtsgang das Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs - zusammengefasst - wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 273 Abs 1 ASVG nicht erfüllt seien. Der Klägerin seien wohl Tätigkeiten als Sekretärin in der Beschäftigungsgruppe 3 nicht mehr zumutbar, weil das gegebene medizinische Leistungskalkül dabei überschritten werde. Zumutbar seien der Klägerin aber Tätigkeiten der Berufsgruppe 2 bis 3 des Kollektivvertrags für Handelsangestellte. Als Einsatzbereich kämen Dienstleistungszentren, wie etwa Informations- und Kundendienste, in Betracht. Die Berufsträger bedienten moderne Telefonanlagen mittels PC, es würden Kundeninformationen (etwa über die Produktverwendung) gegeben, Reklamationen etc im kaufmännischen Bereich entgegengenommen. Hiebei seien Arbeiten mit leichter körperlicher Belastung in grundsätzlich sitzender Haltung bei fallweise besonderem Zeitdruck zu verrichten. Die Einarmigkeit der Klägerin - die, wenn auch eingeschränkte, Verwendung des linken Arms als Hilfsarm sei möglich - könne ohne Störung des Arbeitsprozesses und unter Vermeidung erhöhter Anstrengung unter Zuhilfenahme einfacher rehabilitationstechnischer Hilfsmittel kompensiert werden. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts mit Ausnahme jener über die Anzahl der von der Klägerin erworbenen Versicherungsmonate und schloss sich auch dessen rechtlicher Beurteilung an. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinn einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrags berechtigt. Die Klägerin macht als Mangelhaftigkeit des (Berufungs-)Verfahrens geltend, dass das Erstgericht kein zusammenfassendes medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt habe. Eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO keiner Begründung. Die Revisionswerberin sei jedoch darauf hingewiesen, dass (angebliche) Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die - wie hier - in der Berufung nicht geltend gemacht wurden, nach ständiger Rechtsprechung - auch im Verfahren nach dem ASGG - nicht mehr mit Erfolg in der Revision gerügt werden können (10 ObS 251/99f; SZ 68/195 uva; Kodek in Rechberger, ZPO2 § 503 Rz 3 mwN). Im Übrigen enthält das Ersturteil nicht bloß Feststellungen über das für die einzelnen medizinischen Fachgebiete gültige Leistungskalkül, sondern ohnehin ein allgemeines Leistungskalkül; insofern ist die Entscheidungsgrundlage vollständig (vgl RZ 1990/33; 10 ObS 23/00f). Unbestritten ist, dass die Frage der Berufsunfähigkeit bei der Klägerin nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist. Danach gilt als berufsunfähig der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.

Bei der Pensionsversicherung der Angestellten handelt es sich um eine Berufsgruppenversicherung, deren Leistungen bereits einsetzen, wenn der (die) Versicherte infolge seines (ihres) körperlichen und/oder geistigen Zustandes einen Beruf seiner (ihrer) Berufsgruppe nicht mehr ausüben kann. Dabei ist in der Regel von jenem Angestelltenberuf auszugehen, den der (die) Versicherte zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimmt das Verweisungsfeld, d.s. alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (SSV-NF 2/92; 7/51 und 61; 8/45; 9/21; 12/15 und 123 jeweils mwN ua). Innerhalb seiner (ihrer) Berufsgruppe darf der (die) Versicherte nicht auf Berufe verwiesen werden, die für ihn (sie) einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden (SSV-NF 7/57; 12/123). Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten ist für die Zuordnung zu einer bestimmten Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe die Art der ausgeübten Beschäftigung, nicht aber die vom Arbeitgeber vorgenommene Einreihung oder das ausbezahlte Gehalt entscheidend (SSV-NF 6/53 mwN; 7/57; 9/21; 12/123).

Als letzten, nicht nur vorübergehend ausgeübten Beruf der Klägerin legten die Vorinstanzen ihre Tätigkeit als "Vorstandssekretärin" zu Grunde. Als unbestritten kann davon ausgegangen werden, dass die Klägerin diese Tätigkeit bei der C***** ausübte. Das Verweisungsfeld eines (einer) Bankangestellten ist nicht auf den Bankenbereich beschränkt, sondern durchaus auf Angestelltentätigkeiten auch außerhalb dieses Bereichs zu erstrecken (SSV-NF 12/15 mwN). Die Feststellung, dass die Klägerin als "Vorstandssekretärin" beschäftigt war, reicht für die Beurteilung, welchen Beruf sie im Sinn der obigen Ausführungen zuletzt ausgeübt hat, nicht aus. Der Kollektivvertrag für Angestellte der Banken und Bankiers führt "Vorstandssekretäre" bzw "Vorstandssekretärinnen" nicht ausdrücklich in einer der Tätigkeitsgruppen I bis VI an. "Sekretäre" sind zB im Kollektivvertrag für die Handelsangestellten als Angestellte mit selbständiger Tätigkeit im Büro- und Rechnungswesen in die Beschäftigungsgruppe 4 eingereiht, wenn es sich um Sekretäre des Betriebsinhabers oder der mit der Führung des Betriebs betrauten Angestellten handelt. Angestellte im Büro- und Rechnungswesen, die Sekretariatstätigkeiten mit Dispositions- und/oder Anweisungstätigkeit selbständig und verantwortlich ausführen, werden im genannten Kollektivvertrag der Beschäftigungsgruppe 5 (Angestellte mit Dispositions- und/oder Anweisungstätigkeiten, die schwierige Arbeiten selbständig und verantwortlich ausführen oder Angestellte, die Tätigkeiten, wofür Spezialkenntnisse und praktische Erfahrung erforderlich sind, selbständig und verantwortlich ausführen) zugerechnet. Das Berufsbild einer "Vorstandssekretärin" ist nicht notorisch, ist doch davon auszugehen, dass sich die Berufsausübung nicht weitgehend unter den Augen der Öffentlichkeit abspielt (vgl SSV-NF 12/123).

Es wird daher mit den Parteien zu erörtern und, soweit dies nicht zugestanden wird, nach amtswegiger Aufnahme sämtlicher notwendig erscheinender Beweise (§ 87 Abs 1 und 3 ASGG) festzustellen sein, welche Tätigkeiten die Klägerin in welchem Aufgabengebiet als "Vorstandssekretärin" tatsächlich zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübt hat (vgl SSV-NF 12/123). Auch der Sachverständige für Berufskunde ging in seinem Gutachten nicht von einer konkreten Tätigkeit der Klägerin aus, sondern vom abstrakten Berufsbild einer in die Beschäftigungsgruppe 3 des Kollektivvertrags für Handelsangestellte eingestuften Sekretärin aus. Es werden genaue Feststellungen zu treffen sein, die eine Einordnung der Klägerin in eine der Tätigkeitsgruppen des Kollektivvertrags für die Angestellten der Banken und Bankiers erlauben (SSV-NF 12/15 und 123). Erst danach wird zu prüfen sein, ob die Verweisung der Klägerin auf einen in Frage kommenden (anderen) Beruf ihrer Berufsgruppe zulässig ist. Für die Frage der Verweisbarkeit der Klägerin auf Angestelltenberufe außerhalb des Bankenbereichs wird auch zu prüfen sein, welche Einstufung nach den für die Verweisungsberufe in Frage kommenden Kollektivverträgen die Einstufung der Tätigkeit der Klägerin nach dem für ihre bisherige Tätigkeit maßgeblichen Kollektivvertrag entspricht.

Richtig gingen die Vorinstanzen in diesem Zusammenhang erkennbar davon aus, dass die Verweisung eines Angestellten einer bestimmten Berufsgruppe des Kollektivvertrags auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Gruppe in der Regel mit keinem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden ist (SSV-NF 12/123 mwN). Gewisse Einbußen an Entlohnung und sozialem Prestige muss ein Versicherter hinnehmen (SSV-NF 5/34 mwN und 12/123). Der soziale Abstieg ist unzumutbar, wenn die Verweisungstätigkeit in den Augen der Umwelt ein wesentlich geringeres Ansehen genießt (SSV-NF 9/29; 12/123 ua). Da sohin für die abschließende Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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