OGH 10ObS168/02g

OGH10ObS168/02g28.5.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Dr. Elmar Peterlunger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Albert Ullmer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Stefan F*****, vertreten durch Dr. Charlotte Lindenberger, Rechtsanwältin in Steyr, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. November 2001, GZ 11 Rs 324/01y-64, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Steyr als Arbeits- und Sozialgericht vom 11. Juni 2001, GZ 30 Cgs 51/00s-56, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 2. 4. 1974 geborene Kläger besuchte nach Absolvierung von 4 Klassen Volksschule und 4 Klassen Hauptschule im Schuljahr 1989/90 die HTL, Studienrichtung Kunststofftechnik, konnte die Klasse aber nicht positiv abschließen. Die Schuljahre 1990/91 und 1991/92 verbrachte er im Aufbaugymnasium Horn, weil er Priester werden wollte. Er konnte sich aber in die Klassengemeinschaft nicht integrieren und verließ schließlich die Schule.

Vom 11. 7. bis 7. 8. 1991 arbeitete der Kläger beim Postamt Grünburg, wo er allerdings nur bedingt einsetzbar war. Es mangelte ihm im Wesentlichen an der erforderlichen Arbeitsgeschwindigkeit, wobei er sich nach seinen eigenen Angaben wesentlich mit Meditation beschäftigte und damit meditative Schritte setzte. Andererseits war eine traurige Stimmungslage gegeben, weil sein Pate schon über ein Jahr nicht mit ihm gesprochen hatte. Vom 9. 8. bis 1. 9. 1991 war der Kläger bei einem unentgeltlichen Auslandshilfeeinsatz des österreichischen Bauordens in Griechenland tätig. Vom 1. 7. bis 31. 7. 1992 war er bei der Quelle AG in Linz beschäftigt. Im Dezember 1992 traten beim Kläger spezifische Leibgefühlsstörungen ("Genitalsymptome") auf, die als sehr spezifisches und charakteristisches Symptom einer beginnenden schizophrenen Erkrankung zu sehen sind. Ab diesem Zeitpunkt sind grobe psychopathologische Auffälligkeiten auf psychotischer Basis aufgetreten, die nicht mehr bloß entwicklungsbedingt oder postpubertär zu erklären waren. In den Schuljahren 1992/93 und 1993/94 besuchte der Kläger das Realgymnasium in Kirchdorf an der Krems. Eine Wiederholung der nicht abgeschlossenen Klasse im Schuljahr 1993/94 wurde ihm allerdings von der Schule nicht bewilligt. Vom 4. 11. 1997 bis 5. 3. 1999 besuchte der Kläger wiederum das Aufbaugymnasium Horn.

In den Jahren 1994 bis 2000 war der Kläger immer einige Tage bei verschiedenen Unternehmen tätig. Während seines Schulbesuchs in Kirchdorf an der Krems arbeitete der Kläger zeitweise in einem Landwirtschaftsbetrieb. Ende 1995 absolvierte der Kläger für 1 ½ Monate ein Arbeitstraining.

Beim Kläger liegt eine psychotische Störung vor, deren akuter Beginn mit den stationären Aufenthalten ab dem Jahr 1995 dokumentiert ist. Ab diesem Zeitpunkt ist eine Arbeitsfähigkeit des Klägers unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes keinesfalls gegeben, weil er nicht einordenbar und äußerst gering belastbar ist. Tatsächlich hat die schizophrene Erkrankung des Klägers mit dem Auftreten der Genitalsymptome im Dezember 1992 begonnen. Schon ab diesem Zeitpunkt war seine Arbeitsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen nicht mehr gegeben. Für den Zeitraum davor, insbesondere als der Kläger im Jahr 1991 als Briefträger beim Postamt Grünburg beschäftigt war, kann weder festgestellt werden, dass seine Arbeitsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht gegeben war noch dass sie gegeben war. Auch kann nicht festgestellt werden, dass er im Zeitraum vor Dezember 1992 die Hälfte der Produktivität einer Normalarbeitskraft in gleicher Beschäftigung erbringen konnte. Mit Bescheid vom 23. 2. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 15. 12. 1999 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass er nie imstande gewesen sei, einer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewertbaren Beschäftigung nachzugehen. Seine Leiden hätten bereits vor Arbeitsaufnahme bestanden. Ein bereits vor Eintritt in das Berufsleben eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im Wesentlichen unveränderter Zustand könne nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der Invalidität führen.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage im Hinblick darauf ab, dass der Kläger zwar derzeit als invalid anzusehen sei, aber ein Herabsinken seiner Arbeitsfähigkeit nicht von einem solchen Niveau festgestellt werden könne, auf dem er wenigstens die Hälfte der Produktivität einer Normalarbeitskraft in gleicher Beschäftigung erreicht hätte. Die mangelnde Feststellbarkeit dieser halben Produktivität des Klägers falle letztlich in die Beweislast des Klägers und müsse im Ergebnis zu seinen Lasten ausschlagen. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und führte in rechtlicher Hinsicht aus, dass auch in Sozialrechtssachen die allgemeinen Grundsätze über die Verteilung der Beweislast gelten. Derjenige, der ein Recht für sich in Anspruch nehme, habe die rechtsbegründenden Tatsachen hiefür zu beweisen. Lediglich im Bereich der Unfallversicherung werde diese Beweislastregelung durch Elemente des Anscheinsbeweises gemildert. Der Pensionswerber sei nicht nur für das derzeitige Vorliegen seiner verminderten Arbeitsfähigkeit, sondern auch für das Herabsinken bzw die Verminderung derselben in der Weise materiell beweisbelastet, dass er nunmehr diverse Anforderungen nicht mehr erfüllen könne, die er früher noch erfüllen habe können.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils. Hilfsweise wird ein Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts ist zutreffend (§ 510 Abs 3 ZPO). Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat zur Voraussetzung, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit, durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde (SZ 61/187 = SSV-NF 2/87 uva). Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann deshalb bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen (SSV-NF 1/67, 2/60 uva). Die klagende Partei hält in der Revision den Standpunkt aufrecht, dass im Hinblick auf die für vergleichbare Fälle typische Beweisnotstandssituation die Regeln des Anscheinsbeweises anzuwenden seien und eine "Verschiebung der Beweislast" zuzulassen sei. Abgesehen vom hier nicht relevanten Fall des § 87 Abs 4 ASGG gelten auch in Sozialrechtssachen die allgemeinen Grundsätze über die Verteilung der Beweislast (RIS-Justiz RS0086050; SSV-NF 10/133, SSV-NF 14/20 ua). Nach diesen allgemeinen Regeln schlägt es zum Nachteil desjenigen aus, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, wenn die rechtsbegründenden Tatsachen hiefür nicht erwiesen sind (10 ObS 75/99y). Zu den rechtsbegründenden Tatsachen gehört im konkreten Fall auch das bereits angesprochene, in § 255 Abs 1 und § 273 Abs 1 ASVG explizit normierte, aber ganz allgemein für die Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit geltende Erfordernis des "Herabsinkens" der Arbeitsfähigkeit. Diesbezüglich trifft die Beweislast daher den Kläger (vgl SSV-NF 11/47). Zwecks Schaffung einer Beweiserleichterung für denjenigen, der die anspruchsbegründenden Tatsachen zu beweisen hat, lässt die Rechtsprechung in bestimmten Fällen einen Anscheinsbeweis zu. Der Hauptanwendungsbereich liegt im Schadenersatzbereich und - davon abgeleitet - in Verfahren über sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche aus Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten. Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RIS-Justiz RS0040266 uva; Harrer in Schwimann, ABGB VII2, § 1296 Rz 2). Steht ein typischer Geschehensablauf fest, der nach der Lebenserfahrung auf einen bestimmten Kausalzusammenhang hinweist, gelten diese Tatbestandsvoraussetzungen auch im Einzelfall aufgrund ersten Anscheins als erwiesen. Die Entkräftung des Anscheinsbeweises geschieht durch den Beweis, dass der typische formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern dass die ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes besteht. Der Anscheinsbeweis ist somit nur dann zulässig, wenn eine typische formelhafte Verknüpfung zwischen der tatsächlichen bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement besteht. Er darf daher nicht dazu dienen, Lücken der Beweisfüllung durch bloße Vermutungen auszufüllen (RIS-Justiz RS0040287 ua). Der bloße Verdacht eines bestimmten Ablaufs, der auch andere Verursachungsmöglichkeiten offen lässt, erlaubt die Anwendung des Anscheinsbeweises nicht (Harrer in Schwimann aaO Rz 2). Einen Grundsatz, dass im Zweifel zu Gunsten des Versicherten zu entscheiden ist, gibt es nicht. Ob in einem bestimmten Fall ein Anscheinsbeweis zulässig ist, ob es sich also um einen Tatbestand mit typischem Geschehensablauf handelt, der eine Verschiebung von Beweisthema und Beweislast ermöglicht, ist eine Frage der Beweislast und damit eine Frage der rechtlichen Beurteilung, die im Revisionsverfahren überprüfbar ist (RIS-Justiz RS0022624 ua).

Die Revision zeigt nicht auf, welche typische formelhafte Verknüpfung zwischen einer tatsächlich vom Kläger bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement besteht. Eine Verknüpfung dieser Art ist auch nicht ohne weiteres erkennbar. Sie könnte nur darin bestehen, dass aus dem Umstand, dass der Kläger vor dem Dezember 1992 in Beschäftigungsverhältnissen stand, typischerweise darauf geschlossen werden müsste, dass er zur Verrichtung der dort geforderten Tätigkeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes imstande war. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass ein solcher typischer Zusammenhang nicht besteht. Auch den Feststellungen ist beispielsweise zu entnehmen, dass der Kläger bei seiner Beschäftigung beim Postamt Grünburg im Sommer 1991 nur bedingt einsatzfähig war. Der Anscheinsbeweis ist daher im vorliegenden Fall nicht zulässig.

Somit ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden in der Revision nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.

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