Spruch:
Das Gesetz wurde verletzt
A im Strafverfahren AZ 8c EVr 2978/93 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien durch den Beschluss vom 5. März 2000, ON 47, womit die bedingte Entlassung des Martin W***** aus zwei Freiheitsstrafen für endgültig erklärt wurde,
1) infolge Beschlussfassung durch einen für diese Strafvollzugssache (18c BE 697/96) des Landesgerichtes für Strafsachen Wien unzuständigen Einzelrichter im Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 und 87 Abs 3 B-VG iVm § 32 GOG),
2) infolge Beschlussfassung vor Ablauf der (gemäß § 49 letzter Satz StGB zu berechnenden) Probezeit in der Bestimmung des § 48 Abs 3 StGB, und
3) infolge Anführung des Beginnes der Tilgungsfrist mit einem vor der bedingten Entlassung des Martin W***** aus der Freiheitsstrafe gelegenen Tag in der Bestimmung des § 2 Abs 1 TilgG iVm § 48 Abs 3 letzter Satz StGB.
B in der Strafvollzugssache 18c BE 697/96 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien
1) durch den Beschluss vom 24. November 2000, ON 43, auf Widerruf der bedingten Entlassung des Martin W*****, und
2) durch den (diese Entscheidung bestätigenden) Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. März 2001, AZ 23 Bs 468/00 (ON 50), in dem im XX. Hauptstück der StPO verankerten Grundsatz der materiellen Rechtskraft.
Die in Punkt B 1 und 2 genannten Beschlüsse werden aufgehoben; der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der bedingten Entlassung (S 58, 123 in 18c BE 697/96 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien) wird abgewiesen.
Text
Gründe:
Martin W***** wurde mit Urteil eines Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 8. April 1993, GZ 8c EVr 2978/93-27, zu einer gemäß § 43 Abs 1 StGB für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten und mit Urteil eines anderen Einzelrichters desselben Gerichtes vom 29. Jänner 1996, GZ 4c EVr 198/96-24, zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Anlässlich dieses Schuldspruches wurde die im erstgenannten Urteil gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen. Mit Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 4. Juni 1996, GZ 9 BE 86/96-4, wurde Martin W***** aus diesen Freiheitsstrafen nach (in der Justizanstalt St. Pölten erfolgter) Verbüßung eines Teiles von 8 Monaten und 20 Tagen gemäß § 46 Abs 2 StGB mit Wirksamkeit zum 2. August 1996 bedingt entlassen und der Strafrest von 4 Monaten und 10 Tagen unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bei gleichzeitiger Bestellung eines Bewährungshelfers bedingt nachgesehen. Wegen des im Anschluss an die bedingte Entlassung erfolgten Vollzugs einer Verwaltungsstrafhaft wurde Martin W***** erst am 13. September 1996 auf freien Fuß gesetzt (S 33 18c BE 697/96). Mit Beschluss vom 8. August 1996 (ON 8) trat das Landesgericht St. Pölten diese Strafvollzugssache gemäß § 179 Abs 1 StVG an das Landesgericht für Strafsachen Wien als zuständiges Wohnsitzgericht des Martin W***** ab, wo das Verfahren unter dem AZ 18c BE 697/96 fortgeführt wurde.
Mit Beschluss vom 5. Mai 2000, GZ 8c EVr 2978/93-47, sprach jener Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, der im Erkenntnisverfahren unter diesem Aktenzeichen Martin W***** am 8. April 1993 schuldig erkannt hatte, aus, dass "die mit Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 4. Juni 1996, GZ 9 BE 86/96, angeordnete bedingte Entlassung des Martin W***** aus der mit dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, AZ 8c EVr 2978/93, (rechtskräftig 8. April 1993) verhängten Freiheitsstrafe für endgültig erklärt wird". Weiters setzte er darin den Beginn der Tilgungsfrist (§ 2 Tilgungsgesetz 1972) mit dem - schon vor dem Zeitpunkt der bedingten Entlassung aus der Strafhaft gelegenen - Tag der Beschlussfassung des Landesgerichtes St. Pölten auf bedingte Entlassung des Martin W***** aus der Freiheitsstrafe (= 4. Juni 1996) fest.
Im Zeitpunkt der Beschlussfassung vom 5. Mai 2000 war die im Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 4. Juni 1996 bestimmte dreijährige Probezeit noch nicht abgelaufen, weil Martin W***** nach der für den 2. August 1996 angeordneten bedingten Entlassung innerhalb der Probezeit nicht nur die oben erwähnte Verwaltungsstrafhaft, sondern auch noch zwei weitere vom Landesgericht für Strafsachen Wien in den Verfahren AZ 8c Vr 3151/97 und 8c Vr 13402/92 verhängte Freiheitsstrafe bzw -strafteile von 10 Monaten und 14 Monaten verbüßt hat. Darüber hinaus wurde Martin W***** mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24. März 2000, GZ 8b Vr 10597/99-40, auch noch zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, wobei sich Martin W***** (vor der Beschlussfassung vom 5. Mai 2000) in diesem Strafverfahren in der Zeit vom 10. Dezember 1999, 11,50 Uhr bis 15,00 Uhr sowie vom 21. Jänner 2000 bis 12. April 2000 in Verwahrungs-, Untersuchungs- und Strafhaft befunden hat (vgl die Punkte 4, 7 und 9 der vom Einzelrichter noch vor der Beschlussfassung vom 5. Mai 2000 beigeschafften Strafregisterauskunft ON 46 in 8c EVr 2978/93 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien sowie den - eine detaillierte Auflistung der Haftzeiten enthaltenden - Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. März 2001, AZ 23 Bs 468/00 = GZ 18c BE 697/96-50 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien). In Unkenntnis des vom (unzuständigen) Einzelrichter am 5. Mai 2000 gefassten Beschlusses auf Endgültigerklärung der bedingten Entlassung des Martin W***** widerrief der (zuständige) Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 24. November 2000, GZ 18c BE 679/96-43, die bedingte Entlassung des Martin W***** aus den oben zitierten beiden Freiheitsstrafen und ordnete den Vollzug des noch unverbüßt aushaftenden Strafrestes von vier Monaten und zehn Tagen an. Der Beschwerde des Martin W***** gegen diesen Beschluss gab das (über die Beschlussfassung vom 5. Mai 2000 gleichfalls nicht in Kenntnis gesetzte) Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 30. März 2001, AZ 23 Bs 468/00 (= ON 50 in AZ 18c BE 697/96) nicht Folge. Der voraussichtliche Strafantritttermin zum Vollzug des widerrufenen Strafrestes ist der 31. März 2002 (GZ 18c BE 697/96-51).
Die bezeichneten Beschlüsse der Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 5. Mai und 24. November 2000 sowie die Rechtsmittelbelehrung des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. März 2001 verletzen, wie der Generalprokurator in seiner deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, das Gesetz in mehrfacher Hinsicht.
Rechtliche Beurteilung
Für die Entscheidung, ob die vom Landesgericht St. Pölten angeordnete bedingte Entlassung des Martin W***** aus der Strafhaft endgültig geworden ist, war auf Grund der Bestellung eines Bewährungshelfers für den in Wien wohnhaften bedingt entlassenen Strafgefangenen zwar örtlich (§ 179 Abs 1 StVG) und sachlich (§ 16 Abs 1 erster Satz StVG) das Landesgericht für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht und funtionell (§ 16 Abs 1 letzter Satz StVG) ein Einzelrichter dieses Gerichtshofes zuständig. Der bezügliche Beschluss vom 5. Mai 2000, GZ 8c EVr 2978/93-47, wurde aber nicht vom hiefür in der Strafvollzugssache Martin W***** (18c BE 697/96) nach der Geschäftsverteilung zuständigen, sondern von dem im vorausgegangenen Erkenntnisverfahren 8c EVr 2978/93 tätig gewordenen Einzelrichter gefasst. Durch diesen Verstoß gegen die Geschäftsverteilung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wurde das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt, das in der Bundesverfassung durch Art 83 Abs 2 ("Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden") und Art 87 Abs 3 (Grundsatz der festen richterlichen Geschäftsverteilung) garantiert wird und in Ansehung der Richter des Gerichtshofes erster Instanz einfachgesetzlich durch § 32 GOG geregelt ist (vgl EvBl 1973/213; JBl 1987, 396).
Der Beschluss vom 5. Mai 2000 wurde aber nicht nur vom nach der Geschäftsverteilung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien unzuständigen Einzelrichter gefasst, sondern darin die bedingte Entlassung des Martin W***** gesetzwidrig (vgl 14 Os 37, 38/91; 11 Os 67/96 ua) auch noch vor Ablauf der dem Genannten im Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 4. Juni 1996 gesetzten, durch mehrere behördlich angeordnete Anhaltungen verlängerten dreijährigen Probezeit für endgültig erklärt. Gemäß § 49 letzter Satz StGB wären in die dreijährige Probezeit nämlich jene Zeiträume nicht einzurechnen gewesen, die Martin W***** im Anschluss an seine bedingte Entlassung (bis zum 13. September 1996) in Verwaltungsstrafhaft und sodann (mit Unterbrechungen) ab dem 27. März 1997 in den oben zitierten Verfahren in Verwahrungs-, Untersuchungs- und Strafhaft (gerichtlicher Haftzeitraum insgesamt 26 Monate und 22 Tage) zugebracht hat.
Ein Beschluss, mit dem eine bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe für endgültig erklärt wird, setzt voraus, dass die bedingte Entlassung nicht widerrufen wurde. Darüber kann aber erst nach Ablauf der (verlängerten) Probezeit entschieden werden. Dass die Probezeit der bedingten Entlassung auf Grund von behördlich angeordneten Anhaltungen Martin W*****s noch nicht abgelaufen war, wäre für den Einzelrichter - ebenso wie für den die endgültige Entlassung Martin W*****s beantragenden Staatsanwalt (S 218 in 8c EVr 2978/93) - schon durch Einsicht in die ihm vorliegende Strafregisterauskunft ON 46 aus den dort aufscheinenden Vollzugsdaten der dg Verfahren 8c Vr 3151/97 und 8c Vr 13402/92 erkennbar gewesen. Rechtsirrig ist auch die im Beschluss vom 5. Mai 2000 erfolgte Erwähnung des Beginns der Tilgungsfrist mit 4. Juni 1996 (= Datum der Beschlussfassung des Landesgerichtes St. Pölten auf bedingte Entlassung des Martin W*****). Denn in Ansehung von Verurteilungen zu Freiheitsstrafen beginnt die Tilgungsfrist, sobald die Strafe vollzogen ist, als vollzogen gilt, nachgesehen worden ist oder nicht mehr vollzogen werden darf (§ 2 Abs 1 TilgG), wobei im Fall der Endgültigerklärung einer bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe die Tilgungsfrist ab der bedingten Entlassung (hier: 2. August 1996) zu berechnen ist (§ 48 Abs 3, letzter Satz StGB). Wenngleich der Beschluss vom 5. Mai 2000 von einem nach der Geschäftsverteilung des Gerichtshofes unzuständigen Richter gefasst wurde, gereicht er Martin W***** im Ergebnis sogar zum Vorteil, weil noch vor Ablauf der (gemäß § 49 letzter Satz StGB verlängerten) Probezeit die bedingte Entlassung für endgültig erklärt und ein um fast zwei Monate verfrühter Beginn der Tilgungsfrist erwähnt wurde. Da aus dem Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten auf bedingte Entlassung Martin W*****s für den Einzelrichter bei Beschlussfassung vom 5. Mai 2000 hervorging, dass der Strafgefangene aus dem Vollzug von zwei Freiheitsstrafen entlassen worden war (§ 46 Abs 4 StGB), ist - ungeachtet der Erwähnung nur einer einzigen Strafe bei Endgültigerklärung der bedingten Entlassung - zugunsten des Martin W***** davon auszugehen, dass sich letzterer Beschluss auf den gesamten Strafrest aus den Verurteilungen vom 8. April 1993, GZ 8c EVr 2978/93-27, und vom 29. Jänner 1996, GZ 4c EVr 198/96-24, bezieht.
Ein Feststellungsbeschluss (auch des unzuständigen Gerichtes) über die Endgültigkeit einer bedingten Entlassung erwächst aber, wenn er - wie vorliegend - unbekämpft bleibt, in materieller Rechtskraft. Dementsprechend verletzen der hiemit unvereinbare, zeitlich nachfolgende Beschluss des (nach der Geschäftsverteilung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zuständigen) Einzelrichters vom 24. November 2000, ON 43 (mit dem die bedingte Entlassung des Martin W***** aus einer Freiheitsstrafe widerrufen und der Vollzug der Reststrafe angeordnet wurde), und der Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. März 2001, AZ 23 Bs 468/00, ON 50 (mit dem der Beschwerde des Martin W***** gegen den vorgenannten Beschluss nicht Folge gegeben wurde), das Gesetz in dem aus dem XX. Hauptstück der Strafprozessordnung hervorgehenden Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen ("ne bis in idem", vgl 15 Os 143/95, 11 Os 102/98 ua). Diese Gesetzesverletzung gereicht Martin W***** zum Nachteil.
Demgemäß war der Entscheidung hinsichtlich der beiden letztgenannten Beschlüsse konkrete Wirkung zu verleihen, während es im Übrigen mit der Feststellung der Gesetzesverletzungen sein Bewenden haben konnte.
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