OGH 10ObS329/01g

OGH10ObS329/01g13.11.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Waltraud Bauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ulrike Legner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Florian M*****, geboren am *****, vertreten durch seine Mutter Elke M*****, beide *****, diese vertreten durch Mag. Gerhard Eigner, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Land Oberösterreich als Pflegegeldträger, 4010 Linz, Altstadt 30, vertreten durch Dr. Heinz Oppitz und Dr. Heinrich Neumayr, Rechtsanwälte in Linz, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Juli 2001, GZ 12 Rs 49/01i-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 8. November 2000, GZ 16 Cgs 187/00x-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die in ihrem Ausspruch über die Prozesskosten unberührt bleiben, werden in der Hauptsache dahin abgeändert, dass sie lauten:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei anstelle des bisher gewährten Pflegegeldes der Stufe 1 ab 1. 3. 2000 ein Pflegegeld der Stufe 2 von S 3.688 monatlich, unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder gemäß § 8 Abs 4 FamLAG 1967 von S 825, also ein solches von S 2.863 monatlich zu zahlen.

Das Mehrbegehren auf Leistung von Pflegegeld der Stufe 3 wird abgewiesen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagsvertreters die mit S 4.583,04 (darin S 763,74 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen vierzehn Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 9. Juli 1996 geborene Kläger bezieht seit 1. November 1997 vom beklagten Land auf Grund eines Bescheides vom 17. 2. 1998 Pflegegeld der Stufe 1 (unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von S 825 monatlich) in Höhe von S 1.175 monatlich.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 2. 5. 2000 wurde sein Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes mit der Begründung abgelehnt, dass der Pflegebedarf durchschnittlich nicht mehr als 75 Stunden monatlich betrage.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen, auf Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 3 gerichteten Klagebegehren insofern statt, als es die beklagte Partei verpflichtete, dem Kläger Pflegegeld der Stufe 2 im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 3. 2000 zu bezahlen. Das Mehrbegehren wurde abgewiesen. Es stellte fest, dass der Kläger mit einer Myelomeningozele (Fehlbildung des Rückenmarks und der Wirbelsäule) geboren wurde, welche gleich nach der Geburt geschlossen wurde. Danach folgten mehrere chirurgische Eingriffe. Die letzte Operation fand im Mai 1999 statt. Als Folge dieser Fehlbildung besteht eine Lähmungserscheinung der unteren Extremitäten sowie eine Blasen- und Mastdarmstörung mit laufender Harn- und Stuhlinkontinenz. Auf Grund seines Gesundheitszustandes benötigt der Kläger zumindest mehrmals wöchentlich die Betreuung durch andere Personen, um nicht der Verwahrlosung ausgesetzt zu sein. Während der Kläger beim An- und Auskleiden der Oberbekleidung mithelfen kann, ist er hinsichtlich der Unterbekleidung völlig auf die Hilfe anderer angewiesen. Bei der täglichen Körperpflege kann er jene Verrichtungen, die ein gesunder Vierjähriger schon selbständig ausführen kann (Putzen der Zähne, Waschen der Hände und des Gesichtes über Aufforderung), noch nicht eigenständig durchführen. Die Toilette kann der Kläger ebenfalls noch nicht eigenständig aufsuchen. Er benötigt sowohl zum Harnlassen als auch zum Stuhlabsetzen der Unterstützung einer zweiten Person. Der Kläger benötigt einmal täglich das Medikament Ditropan. Im Wohnbereich kann sich der Kläger nur durch Krabbeln oder Festhalten an Einrichtungsgegenständen einige Schritte selbständig bewegen. Bei Wegen außerhalb des Hauses benötigt er Unterstützung durch eine zweite Person. Dieser Gesundheitszustand besteht zumindest seit Februar 2000.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass der Pflegebedarf des Klägers unter Zugrundelegung der Bestimmungen der §§ 1 und 2 der Einstufungsverordnung zum Oö. PGG insgesamt 83 Stunden (10 Stunden für tägliche Körperpflege, 10 Stunden für An- und Auskleiden, 30 Stunden für die Verrichtung der Notdurft, 20 Stunden für die Reinigung bei Inkontinenz, 3 Stunden für die Medikamenteneinnahme und 10 Stunden für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn) betrage, sodass der Kläger Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge. Es verwies auf die Bestimmung des § 4 Abs 3 Oö. PGG, wonach bei der Beurteilung des Pflegebedarfes von Kindern nur jenes Ausmaß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen sei, welches über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgehe. Die beklagte Partei wende sich in ihren Berufungsausführungen nur dagegen, dass für die Verrichtung der Notdurft der zeitliche Mindestwert von 30 Stunden im Monat (§ 1 Abs 4 der EinstVO zum Oö. PGG) und nicht ein von der beklagten Partei lediglich mit 15 Stunden angemessener tatsächlicher Betreuungsaufwand berücksichtigt worden sei. Gemäß § 1 Abs 4 dieser Verordnung sei für die Verrichtung der Notdurft ein zeitlicher Mindestwert von täglich 4 mal 15 Minuten festgelegt. Abweichungen von diesem Richtwert seien nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand den Mindestwert erheblich überschreite. Nach der Rechtsprechung könne auch bei einer erheblichen Unterschreitung des betreffenden Mindestwertes die Anerkennung eines pauschalierten Mindestbedarfes etwa dann nicht mehr in Betracht kommen, wenn die einzelnen Verrichtungen lediglich einen Aufwand verursachen, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwertes liege. Solche Anhaltspunke einer erheblichen Unterschreitung des Mindestbedarfes im vorliegenden Fall seien jedoch nicht ersichtlich. Da der Kläger bei der Verrichtung der Notdurft gänzlich auf die Hilfe anderer Personen angewiesen sei, bestünden keine Bedenken, den dafür notwendigen Betreuungsaufwand mit 30 Stunden im Monat zu bewerten. Dem Kläger gebühre daher Pflegegeld der Stufe 2.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass auch das auf Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 2 gerichtete Klagebegehren abgewiesen werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Ergebnis teilweise berechtigt.

Die Revisionswerberin verweist zunächst zutreffend auf den auch in der hier maßgebenden Bestimmung des § 4 Abs 3 Oö. PGG idF LGBl 1999/8 enthaltenen Grundsatz, wonach bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht. Sie vermeint aber, dass die Vorinstanzen im konkreten Fall des Klägers diesen Grundsatz bei der Bemessung des zeitlichen Betreuungsaufwandes für die tägliche Körperpflege, die Hilfe beim An- und Auskleiden, die Medikamenteneinnahme, insbesondere aber für die Verrichtung der Notdurft und die Reinigung bei Inkontinenz nicht ausreichend berücksichtigt hätten. Der Pflegebedarf des Klägers übersteige jedenfalls nicht 75 Stunden im Monat.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

Zunächst kann gemäß § 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO auf die zutreffenden Rechtsausführungen des Berufungsgerichtes verwiesen werden. Ergänzend ist den Revisionsausführungen noch Folgendes entgegenzuhalten:

Der im § 1 Abs 3 EinstV zum Oö. PGG (im Folgenden: EinstV) für die Hilfe beim An- und Auskleiden vorgesehene und auf einen Tag bezogene Richtwert von 2 x 20 Minuten (20 Stunden monatlich) soll nach ständiger Rechtsprechung im Wesentlichen nur als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen und kann daher im Einzelfall auf das durchschnittlich erforderliche Zeitausmaß über-, aber auch unterschritten werden (SSV-NF 10/97 mwN ua; RIS-Justiz RS0053147). Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung ein gesundes 4 1/2jähriges Kind die Tätigkeit des An- und Auskleidens bereits weitgehend selbständig durchführen kann und insoweit nur eine gewisse Überwachung durch die Betreuungsperson notwendig ist, der Kläger hingegen beim An- und Ausziehen der Unterbekleidung fremder Hilfe bedarf und auch beim An- und Ausziehen der Oberbekleidung nur mithelfen kann (vgl dazu die Ausführungen der gerichtsärztlichen Sachverständigen im Gutachten ON 4), erscheint der durch die Vorinstanzen in diesem Bereich angenommene Betreuungsbedarf von 10 Stunden monatlich nicht überhöht. Dies gilt auch für den für die tägliche Körperpflege angenommenen Aufwand von ebenfalls 10 Stunden monatlich. Für diese Betreuungsverrichtung ist im § 1 Abs 4 EinstV ein auf einen Tag bezogener zeitlicher Mindestwert von 2 x 25 Minuten (= 25 Stunden monatlich) vorgesehen. Nach der Rechtsprechung ist bei einer erheblichen Unterschreitung des als Mindestwert vorgesehenen Zeitaufwandes nicht der Mindestwert sondern der tatsächliche Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsleistungen in Anschlag zu bringen (10 ObS 289/00y mwN ua; RIS-Justiz RS0109875). Berücksichtigt man, dass der Kläger nach den Feststellungen jene Verrichtungen, die ein gesundes vierjähriges Kind schon selbständig ausführen kann (zB Putzen der Zähne, Waschen der Hände und des Gesichtes über Aufforderung), behinderungsbedingt noch nicht eigenständig durchführen kann, erscheint die Berücksichtigung des Pflegebedarfes für die tägliche Körperpflege von 10 Stunden monatlich entgegen der nicht näher begründeten Rechtsansicht der Revisionswerberin ebenfalls angemessen. Für das Einnehmen von Medikamenten sieht § 1 Abs 3 EinstV einen Richtwert von sechs Minuten täglich (= drei Stunden monatlich) vor. Eine Berücksichtigung dieses Betreuungsaufwandes ist gerechtfertigt, weil ein gesundes Kind im Gegensatz zum Kläger nicht regelmäßig Medikamente einnehmen muss.

Da der Kläger nach den Feststellungen bei der Verrichtung der Notdurft gänzlich auf die Hilfe einer Betreuungsperson angewiesen ist, während ein gesundes Kind im vergleichbaren Alter bereits alleine die Toilette aufsucht und diesbezüglich nur noch allenfalls Unterstützung für die Reinigung nach dem Stuhlgang benötigt, besteht nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichtes kein Anlass, den im § 1 Abs 4 EinstV dafür vorgesehenen zeitlichen Mindestwert von 4 x 15 Minuten täglich (= 30 Stunden monatlich) zu unterschreiten. Im Hinblick darauf, dass ein gesundes Kind im Alter des Klägers regelmäßig bereits sauber ist, beim Kläger hingegen behinderungsbedingt eine Harn- und Stuhlinkontinenz besteht und somit bei ihm eine entsprechende Windelversorgung und Reinigung durch die Betreuungsperson erforderlich ist, wurde von den Vorinstanzen ebenfalls zutreffend der in § 1 Abs 3 EinstV für die Reinigung bei inkontinenten Patienten vorgesehene Richtwert von 4 x 10 Minuten pro Tag (= 20 Stunden monatlich) berücksichtigt. Daraus folgt, dass unter Einbeziehung des auch in den Revisionsausführungen nicht bestrittenen Pflegebedarfes von 10 Stunden monatlich für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn der gesamte Pflegebedarf des Klägers 75 Stunden im Monat übersteigt, weshalb der Kläger nach § 4 Abs 2 Oö. PGG Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 hat.

Aus Anlass der gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge war jedoch im Rahmen einer allseitigen rechtlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils ohne Beschränkung auf die geltend gemachten Gründe zu berücksichtigen, dass im § 6 Oö. PGG Geldleistungen, die wegen Pflegebedürftigkeit nach anderen innerstaatlichen oder ausländischen Vorschriften gewährt werden, auf das Pflegegeld nach diesem Landesgesetz anzurechnen sind, wobei von der Erhöhung der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder gemäß § 8 Abs 4 FamLAG ein Betrag von 825 S monatlich abzurechnen ist. Diese Anrechnung war auch in dem ursprünglichen Zuerkennungsbescheid der beklagten Partei vom 17. 2. 1998 enthalten und war nunmehr auch in den Urteilsspruch aufzunehmen (vgl SSV-NF 13/141). Weiters war auch der ziffernmäßige Betrag der zuerkannten Pflegegeldstufe spruchmäßig auszuweisen (vgl SSV-NF 12/41).

Der Revision war demgemäß im aufgezeigten Umfang Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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