OGH 10ObS233/01i

OGH10ObS233/01i4.9.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Schenk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Stattmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf H*****, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. April 2001, GZ 25 Rs 37/01d-76, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. Jänner 2001, GZ 48 Cgs 109/96g-70, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt lauten:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger auch über den 30. April 1996 hinaus die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß weiter zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.

Der beklagten Partei wird aufgetragen, dem Kläger ab 1. Mai 1996 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von S 10.000,-- monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils monatlich im Nachhinein am 1. des Folgemonats."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.058,88 (darin enthalten S 676,48 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger ist am 30. Mai 1946 geboren. Er hat nach dem Pflichtschulbesuch eine zweijährige landwirtschaftliche Fachschule besucht, wo er unter anderem auch das Unterrichtsfach "Metallbearbeitung" absolvierte. Danach arbeitete der Kläger vom 18. bis zum 20. Lebensjahr auf einem landwirtschaftlichen Gut in Niederösterreich als Praktikant, wo er hauptsächlich mit Traktor und Anhänger fuhr. Im Alter von 20 Jahren erwarb er die Führerscheine der Gruppen B und C, in weiterer Folge auch den Führerschein der Gruppe

E.

Von 1. Jänner 1972 an war der Kläger als LKW-Fahrer (auch im Baustellenverkehr), als Fahrer landwirtschaftlicher Fahrzeuge, als Klein-LKW-Fahrer, als Linienbusfahrer, als Reisebuslenker (auch im internationalen Reiseverkehr), als Lenker eines Hängerzuges bzw Sattelzuges, weiters als Vertreter und als Lagerarbeiter beschäftigt. Im Zeitraum von 1. Oktober 1979 bis 30. September 1994 war der Kläger 55 Monate als Kraftfahrer im nationalen Bereich und 23 Monate im internationalen Fernverkehr, weiters 43 Monate als Busfahrer, zum Teil im internationalen Fernverkehr tätig. In 11 Monaten übte er Tätigkeiten aus, die nichts mit denen eines Berufskraftfahrers zu tun haben. Dazu kommen noch Zeiten des Krankenstandes bzw der Arbeitslosigkeit.

Aufgrund einer Klage gegen den Bescheid der beklagten Partei vom 9. Juni 1994, mit dem der Antrag des Klägers auf Gewährung der Invaliditätspension abgelehnt worden war, wurden vom Landesgericht Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht im Verfahren 48 Cgs 201/94h Gutachten von Sachverständigen aus dem Bereich Unfallchirurgie sowie Neurologie und Psychiatrie eingeholt. Das Gutachten des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen wurde in der Streitverhandlung vom 19. Jänner 1995 erörtert. In einem in dieser Tagsatzung vom 19. Jänner 1995 abgeschlossenen Vergleich verpflichtete sich die beklagte Partei, dem Kläger beginnend mit 1. Oktober 1994 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Grundlage dafür war, dass der Kläger im wesentlichen als Folge einer schweren Kreissägenverletzung vom 28. September 1992 zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses (nach Erörterung des neurologisch-psychatrischen Gutachtens) als gänzlich arbeitsunfähig angesehen wurde, dies vor allem im Hinblick auf die zusätzlichen Schmerzzustände und die Kombination von Hyperästhesie und Hyperalgesie im Bereich der rechten Hand. Auch die motorischen Kraftleistungen des Klägers waren erheblich reduziert (dies vornehmlich im Versorgungsbereich des nervus medianus, aber auch des nervus ulnaris und radialis), sodass auch mit schmerzbedingten Krankenständen in vermehrtem Umfang gerechnet werden musste. Dieses Leistungskalkül, das auch schon per 27. Oktober 1993 vorlag - ließ für den Kläger auch die Durchführung leichter, tagfüllender Arbeiten nicht mehr zu. Zum damaligen Zeitpunkt ließ sich auch kaum erwarten, dass durch intensive physikalische Therapie oder durch Kuraufenthalte eine so weitgehende Besserung eintreten werde, dass mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit gerechnet werden hätte können.

Seit etwa Jahresbeginn 1995 waren dem Kläger wiederum leichte bis zur Hälfte mittelschwere Arbeiten in unregelmäßigem Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zumutbar, wobei jedoch nach ca 45 Minuten ein wenn auch kurzfristiger Haltungswechsel möglich sein sollte, um Zwangshaltungen zu vermeiden, wobei danach wieder die vorhergehende Haltung eingenommen werden konnte.

Bestimmte Verrichtungen wie ständiges Heben und Tragen von Lasten über 20 kg, ständiges Bücken und Treppensteigen, Arbeiten in ständig gebückter und vorgebeugter und hockender Haltung, dauernd auf überhöhten Plätzen wie Leitern und Gerüsten sowie dauernde Kälte-, Nässe- und Zugluftexposition sollten tunlichst vermieden werden. Der Anmarschweg zur Arbeitsstätte soll 2 km nicht wesentlich überschreiten. Seit damals ist der Kläger in der Lage, einen Fußmarsch zwischen 500 und 1000 m in einem Zuge zu bewältigen; er kann auch ein öffentliches Verkehrsmittel benützen. Krankenstände bis zu und über 7 Wochen jährlich waren mit hoher Wahrscheinlichkeit ab damals nicht mehr zu erwarten.

Mit Bescheid vom 20. 3. 1996 hat die beklagte Partei dem Kläger die Invaliditätspension mit Ablauf des Monats April 1996 entzogen.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Gewährung der Invaliditätspension auch über den 30. April 1996 hinaus gerichtete Klagebegehren im wesentlichen mit der Begründung ab, dass nicht nur im Gesundheitszustand, sondern auch in der Leistungsfähigkeit des Klägers eindeutig eine wesentliche Besserung gegenüber dem Zeitpunkt der Pensionsgewährung eingetreten sei. Während nämlich seinerzeit eine Arbeitsfähigkeit des Klägers rundweg verneint worden sei, sei diese nunmehr mit Einschränkungen gegeben. Zum Entziehungszeitpunkt April 1996 sei grundsätzlich die Arbeitsfähigkeit des Klägers zu bejahen gewesen. Da der Kläger keinen Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer genieße, sei seine Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Auf der Grundlage seiner Leistungsfähigkeit sei der Kläger ab dem Zeitpunkt der Pensionsentziehung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchaus wieder verweisbar; es seien ihm Tätigkeiten als Portier, Kassier und industrielle Tischarbeiten (Verpackungs- und Sortiertätigkeiten) möglich.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es konnte weder mangelhafte noch unvollständige noch unrichtige Feststellungen orten und billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, insbesondere auch betreffend den behaupteten Berufsschutz des Klägers. Keinesfalls liege eine bloße Einschätzungsdifferenz vor, sondern es habe sich das Leistungskalkül zum Positiven verändert.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG zulässige Revision ist berechtigt.

Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Der Leistungsentzug nach § 99 Abs 1 ASVG setzt eine wesentliche, entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus (Schrammel in ZAS 1990, 73 ff [79 f] und in Tomandl, SV-System 7. ErgLfg 181 f; SSV-NF 1/27, 1/43, 1/44, 2/43 ua), wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch ein Leistungsentzug sachlich gerechtfertigt (SSV-NF 12/99).

Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben (SSV-NF 1/27, 1/43, 1/44, 2/43, 2/96, 4/149, 5/5, 6/17, 7/2, 8/87 ua, RIS-Justiz RS0083841). Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungs- zuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (SSV-NF 7/2 = EvBl 1993/188; SSV-NF 12/99).

Im vorliegenden Fall war dem Kläger die zwischenzeitig entzogene Leistung mit Vergleich vom 19. Jänner 1995 zugestanden worden, wobei dem Vergleich zugrunde lag, dass der Kläger damals als gänzlich arbeitsunfähig angesehen wurde. Aufgrund des nunmehr durchgeführten Beweisverfahrens steht jedoch fest, dass der Kläger bereits seit etwa Jahresbeginn 1995 wiederum leichte und bis zur Hälfte mittelschwere Arbeiten - wenn auch mit gewissen Einschränkungen - verrichten kann. Diese Feststellung erlaubt nicht die Beurteilung, dass gegenüber dem Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses eine entscheidende Besserung der Leistungsfähigkeit des Klägers eingetreten ist. Lag der seinerzeitigen Annahme einer (gänzlichen) Arbeitsunfähigkeit des Klägers eine Fehleinschätzung zugrunde, kann dies nicht im Wege einer Entziehung der Leistung korrigiert werden, weil dem die Rechtswirksamkeit des Vergleiches entgegen steht.

Mangels maßgeblicher Änderung der Leistungsfähigkeit des Klägers gegenüber dem Gewährungszeitpunkt (19. Jänner 1995) besteht somit keine Möglichkeit einer Entziehung der ab dem 1. Oktober 1994 zeitlich unbefristet zugestandenen Invaliditätspension.

In Stattgebung der Revision war daher das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern, weshalb der beklagten Partei unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO auch die Erbringung einer vorläufigen Zahlung aufzutragen ist. Laut Anstaltsakt hatte die dem Kläger aufgrund des am 19. Jänner 1995 abgeschlossenen Vergleichs gewährte Invaliditätspension eine monatliche Höhe von rund S 10.000,--.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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