Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Dem am 9. 2. 1937 geborenen Kläger wurde mit 1. 5. 1989 eine Berufsunfähigkeitspension zuerkannt. Seit 1993 bezieht er von der beklagten Partei ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3. Bei ihm besteht nach Meningiom-Operation 1970 und Hirnblutung eine vollständige Lähmung des linken Armes und des linken Beines. Er ist nicht als Rollstuhlfahrer zu bezeichnen, weil der Rollstuhl von ihm nicht selbständig bedient, sondern nur zum Sitzen und zum Transport verwendet wird. Der Kläger benötigt Hilfe bei der täglichen Körperpflege, bei der Zubereitung von Mahlzeiten, beim An- und Auskleiden, bei der Beischaffung von Bedarfsgütern, bei der Wohnungsreinigung, bei der Wäschepflege und bei der Heizung. Weiters bedarf er der Mobilitätshilfe im engeren und im weiteren Sinn. Sein monatlicher Pflegebedarf beträgt daher insgesamt 170 Stunden. Die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson ist nicht erforderlich.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1. 8. 1999 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 von monatlich S 8.535,-- zu zahlen und wies das Mehrbegehren auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes ab. Der durchschnittliche Pflegeaufwand von 170 Stunden monatlich rechtfertige nach § 4 Abs 2 BPGG ein Pflegegeld der Stufe 4.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und billigte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes. Die vom Kläger gewünschte Einstufung in die Stufe 5 als Rollstuhlfahrer mit einem "deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten" nach § 4a Abs 3 BPGG idF der Novelle BGBl I 1998/111 scheitere daran, dass diese diagnosebezogene Einstufung nur mehr bei ganz bestimmten taxativ aufgezählten Diagnosen in Betracht komme. Beim Kläger liege keine der dort aufgezählten Krankheiten vor. Daher komme es nicht darauf an, ob er zur selbständigen Lebensführung auf den aktiven Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sei. Die sachliche Rechtfertigung der Einschränkung der diagnosebezogenen Einstufung auf bestimmte Krankheiten ergebe sich aus dem im Wesentlichen gleichartigen Pflegebedarf dieser Behindertengruppe.
Gegen den abweisenden Teil dieses Urteils richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache. Er beantragt die Abänderung im Sinne eines Zuspruches von Pflegegeld in Höhe der Stufe 5, hilfsweise die Aufhebung und Zurückverweisung.
Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
1. Der durchschnittliche Pflegebedarf des Klägers wurde von den Vorinstanzen zutreffend mit 170 Stunden monatlich ermittelt. Zu Unrecht beansprucht er unter Hinweis auf seine Unfähigkeit zum Zerkleinern von Mahlzeiten wegen der praktischen Einarmigkeit weitere 30 Stunden für das Einnehmen von Mahlzeiten nach § 1 Abs 4 EinstV, weil nach seiner Auffassung das Zerkleinern von Speisen funktionell zur Einnahme und nicht zur Zubereitung von Mahlzeiten gehöre. Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, zählt das mundgerechte Vorbereiten von Speisen, wie etwa das Anrichten einer vorgeschnittenen Nahrung, zur Zubereitung und nicht zum Einnehmen von Mahlzeiten im Sinne des § 1 Abs 4 EinstV (SSV-NF 8/82, 9/47; 10 ObS 383/98s; ebenso Pfeil, BPGG, 87). Diese Auslegung beruht vor allem auch darauf, dass der Verordnungsgeber für das Einnehmen von Mahlzeiten einen Mindestwert von täglich einer Stunde angenommen hat, während etwa das Vorschneiden von gekochtem oder gebratenem Fleisch nur ganz wenige Minuten in Anspruch nehmen kann. Wenn eine vorgeschnittene oder auch eine breiige Nahrung selbständig eingenommen werden kann, besteht kein gesonderter Pflegebedarf für das Einnehmen von Mahlzeiten (so auch § 5 der Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG, SozSi 1999, 360, Amtl. Verlautbarung Nr 41). Die Revision liefert keine Argumente, die den Senat zu einem Abgehen von seiner ständigen Rechtsprechung veranlassen könnten.
2. Die Berücksichtigung eines "außergewöhnlichen Pflegeaufwandes", worunter nach § 6 EinstV das Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson zu verstehen ist, hat zur Voraussetzung, dass der Pflegebedarf nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt (§ 4 Abs 2 BPGG). Dies ist beim Kläger, dessen Pflegeaufwand 170 Stunden ausmacht, nicht der Fall. Die Auffassung des Revisionswerbers, ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand iS des § 6 EinstV sei unabhängig von der Stundenzahl des sonstigen Pflegebedarfes maßgeblich, steht im Gegensatz zur Gesetzeslage.
3. Zu prüfen ist nunmehr, ob der Kläger nach § 4a Abs 1 und 3 BPGG eingestuft werden kann. Während das BPGG und die EinstV grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes ausgehen, das heißt von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe, wurden für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf - insoweit diagnosebezogen - Mindesteinstufungen zunächst im Verordnungsweg vorgenommen (SSV-NF 11/103 mwN ua). Die EinstV (aF) sah solche Mindesteinstufungen für hochgradig Sehbehinderte, Blinde und Taubblinde (§ 7) sowie für Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind (§ 8), vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senates (vgl SSV-NF 10/131 ua) waren dem § 8 EinstV nicht nur Personen zu unterstellen, die mit Hilfe ihres Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern konnten und dadurch in die Lage versetzt wurden, Verrichtungen wie sie in §§ 1 und 2 EinstV vorgesehen sind (weitgehend) eigenständig vorzunehmen ("aktive Rollstuhlfahrer"), sondern auch solche Personen, für die der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft wurde, um sie durch andere Menschen fortzubewegen ("passive Rollstuhlfahrer") Diese Einbeziehung der sogenannten "passiven Rollstuhlfahrer" in die diagnosebezogene Einstufung stieß im Schrifttum auf Kritik (vgl Pfeil, DRdA 1997, 388; Rudda, SozSi 1997, 603 ff).
Der Gesetzgeber hat im Zuge der BPGG-Novelle BGBl I 1998/111 die Mindesteinstufung der Rollstuhlfahrer neu geregelt. Während nach dem zur Begutachtung versandten Erstentwurf die Einstufung der Rollstuhlfahrer nur noch anhand der medizinisch eindeutigen Diagnose der kompletten Querschnittlähmung und den Funktionsausfällen und des damit verbundenen weitgehend gleichartigen Pflegebedarfs erfolgen sollte, wurde dieser Personenkreis in der Regierungsvorlage dahingehend erweitert, dass bei Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und auf Grund einer Querschnittlähmung, einer beidseitigen Beinamputation, einer Muskeldystrophie, einer Encephalitis disseminata oder einer Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles oder eines technisch adaptierten Rollstuhles angewiesen sind, mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen ist. Nach den EB zur RV 1186 BlgNR 20. GP, 12 sollen in das BPGG auch Personen Aufnahme finden, die nicht pflegebedürftig im klassischen Sinn sind. Damit soll auch den besonderen pflegerelevanten Bedürfnissen der hochgradig sehbehinderten, blinden und taubblinden Personen und jener Gruppe von schwer behinderten Menschen, die zur selbständigen Lebensführung auf den aktiven Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, Rechnung getragen werden. In Hinkunft soll anhand der medizinisch eindeutigen Diagnose und den damit verbundenen Funktionsausfällen der weitgehend gleichartige Pflegebedarf in Form einer Mindesteinstufung berücksichtigt werden. Diese Neufassung dient der präzisen Umschreibung des Personenkreises, da bisher eine sehr breite Palette von Auslegungsmöglichkeiten bestanden und damit zu Problemen in der Einstufung geführt hat. Die Mindesteinstufung soll nicht nur auf das Hilfsmittel Rollstuhl abgestellt, sondern mit dem Vorliegen bestimmter Diagnosen verknüpft werden. So kann sichergestellt werden, dass bei der Mindesteinstufung jener Personenkreis an behinderten Menschen erfasst wird, der zur selbstbestimmten Lebensführung auf den aktiven Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist. Der Rollstuhl dient dieser Personengruppe zur Überwindung der Mobilitätseinschränkung und wird völlig selbständig allenfalls unter Nutzung technischer Adaptierungen (wie etwa einem elektrischen Antrieb) gehandhabt. Damit wird dieser Gruppe die selbstbestimmte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, die Integration bei der Ausbildung und Berufsausübung usw erleichtert. Als Abgrenzungskriterien werden die Ausfallserscheinungen bei bestimmten Krankheits- und Behinderungsmustern herangezogen. Die im Regelfall typischen Pflegemaßnahmen, die grundsätzlich auch bei der funktionellen Beurteilung des Pflegebedarfes relevant sind, werden dem Mobilitätsbedarf dieser Gruppen entsprechend berücksichtigt. Eine Mindesteinstufung in Stufe 3 ist dann gerechtfertigt, wenn auf Grund der angeführten Diagnosen eine derart schwere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit vorliegt, dass der Pflegebedürftige zur Fortbewegung innerhalb und außerhalb der Wohnung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist. Ausgehend von dieser "ratio legis" kann der Auffassung, wonach der Gesetzgeber Personen, die nicht eine der in § 4a Abs 1 BPGG ausdrücklich angeführten, jedoch ihrem Inhalt nach durchaus vergleichbare und in ihren Auswirkungen gleichzusetzende Diagnosen aufweisen, von der Mindesteinstufung ausschließen wollte, nicht gefolgt werden. Auch eine taxative Aufzählung schließt das Vorliegen einer teleologischen oder unechten Lücke, bei welcher der Normzweck in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz die Erstreckung der Rechtsfolgenanordnung einer gesetzlichen Norm auf den gesetzlich nicht unmittelbar geregelten Fall fordert, nicht unter allen Umständen aus. Analogie ist vielmehr bei einer taxativen Aufzählung möglich und geboten, wenn der nicht besonders angeführte Fall alle motivierenden Merkmale der geregelten Fälle enthält und das Prinzip der Norm auch in einem ihrem Tatbestand ähnlichen Fall Beachtung fordert (WBl 1993, 327; SZ 60/172 mwN ua; vgl Bydlinski in Rummel, ABGB2 Rz 2 zu § 7). Dieses Auslegungsergebnis steht auch im Einklang mit dem Auslegungsgrundsatz, dass Gesetze im Zweifel verfassungskonform auszulegen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes muss der Gesetzgeber an gleiche Tatbestände gleiche Rechtsfolgen knüpfen. Nur dann, wenn gesetzliche Differenzierungen aus entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen ableitbar sind, entspricht das Gesetz dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz (Mayer, B-VG2 465 f mwN). Eine sehr weitgehende Einschränkung der medizinischen Diagnosen, die zu einer Mindesteinstufung nach § 4a Abs 1 BPGG führen, könnte daher zu einer sachlichen Ungleichbehandlung gegenüber anderen behinderten Personen mit ähnlichen Diagnosen und gleichen damit verbundenen Funktionsausfällen führen. Die Aufzählung der Diagnosen in § 4a Abs 1 BPGG ist daher, wie der Senat in der E vom 23. 5. 2000, 10 ObS 110/00z, ausführlich dargelegt hat, analogiefähig.
4. Wenngleich daher den Einwänden des Revisionswerbers gegen eine starre Handhabung der taxativen Aufzählung im § 4a Abs 1 BPGG und der daraus erwachsenden verfassungsrechtlichen Problematik grundsätzlich zu folgen ist, kann doch seiner Auffassung, auch solche Personen seien "überwiegend auf den Gebrauch des Rollstuhles angewiesen", die zwar einen Rollstuhl nicht selbst bedienen und bewegen können, sondern dabei auf die Hilfe Dritter angewiesen sind, im Lichte der obigen Darlegungen nicht beigestimmt werden. Eine solche Auffassung würde abermals die sogenannten "passiven Rollstuhlfahrer" in den Personenkreis des § 4a Abs 1 BPGG einbeziehen und damit der erklärten Absicht des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Dass der Kläger aber durch selbständigen Gebrauch eines Rollstuhls zu einer eigenständigen, selbstbestimmten Lebensführung in der Lage wäre, wird in der Revision nicht behauptet. Eine Einstufung nach § 4a Abs 1 und 3 BPGG kommt nicht in Betracht, weil der Kläger wieder nur als "passiver Rollstuhlfahrer" zu bezeichnen wäre, dessen Pflegebedarf aber - im Sinne der von den Vorinstanzen getroffenen Entscheidungen - funktionsbezogen nach § 4 BPGG zu ermitteln ist.
Auf Grund dieser Erwägungen musste der Revision ein Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an den Kläger nach Billigkeit liegen nicht vor und wurden auch nicht geltend gemacht.
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