OGH 7Ob123/00i

OGH7Ob123/00i29.5.2000

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon-Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller und Dr. Kuras als weitere Richter in der Pflegschaftssache mj Stephane D*****, Frederic D*****, und Valerie D*****, alle derzeit in ***** über den Revisionsrekurs des ehelichen Vaters Noel D*****, vertreten durch Dr. Eric Agstner, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Krems an der Donau als Rekursgericht vom 4. April 2000, GZ 2 R 31/00x-46, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Langenlois vom 21. Jänner 2000, GZ P 49/99h-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die drei Minderjährigen sind die ehelichen Kinder der österreichischen Staatsbürgerin Alexandra W***** und des belgischen Staatsbürger Noel D*****. Sie sind nach der Aktenlage österreichische Staatsbürger. Seit der Eheschließung wohnten die Eltern in Sardinien auf einem Landgut in Torre Salinas. Die Mutter war nach der Geburt der Kinder im Haushalt tätig und übernahm die Betreuung und Erziehung der Kinder, die zuletzt in Muravera die Schule bzw den Kindergarten besuchten. Die Kinder sind zweisprachig aufgewachsen und sprechen einwandfrei Deutsch. Im November 1998 beantragte die Mutter in Cagliari die gerichtliche Trennung vom Vater. Dieser zog Ende Jänner 1999 aus der Ehewohnung aus. Seit diesem Zeitpunkt leben die Eltern getrennt. Mit Beschluss des Zivilgerichtes Cagliari vom 2. 3. 1999 erging unter anderem die Verfügung, dass

1. die Eheleute getrennt und mit der Pflicht zur gegenseitigen Achtung leben;

2. dass die minderjährigen Kinder der Mutter anvertraut werden, welche für ihre Ausbildung und Erziehung verantwortlich ist und das alleinige Erziehungsrecht besitzt,

3. dass die Eltern Entscheidungen im Interesse der Kinder gemeinschaftlich treffen und dass der nichterziehungsberechtigte Elternteil für deren Ausbildung und Erziehung so weit wie möglich Sorge trage ...

6. dass die Familienwohnung dem erziehungsberechtigten Elternteil zugewiesen werde.

Der mj Stephane leidet seit Geburt an einer Fehlstellung der Füße, welche eine operative Behandlung erfordert. Er war und ist daher seit seiner Geburt in Wien in orthopädischer Behandlung. Am 21. 12. 1998 wurde im Orthopädischen Spital Speising festgestellt, dass eine operative Versetzung der Kniescheibe des linken Fußes erforderlich sei. Als Operationstermin wurde der 14. 6. 1999 fix festgesetzt. Am 9. 6. 1999 reiste die Mutter mit den drei Kindern nach Österreich, ohne den Vater konkret von dieser Abreise zu informieren. Aus Anlass dieser Rückkehr nach Österreich entschloss sich die Kindesmutter, endgültig hier zu bleiben, weil sie in Sardinien alleine und ohne Verwandte war, ihr die Aufnahme einer Berufstätigkeit wegen der Betreuung der Kinder, des abgelegenen Wohnortes und der fehlenden Italienischkenntnisse nicht möglich war und sie in Österreich Unterstützung im Rahmen ihrer Familie erhält. Sie wohnt nun seither mit ihren Kindern in Österreich, die hier die Schule besuchen.

Mit Beschluss des Zivilgerichtes Cagliari vom 6. 8. 1999 wurde die Verfügung vom 2. 3. 1999 dahin ersetzt, dass

1.) die mj Kinder dem Vater Noel *****D***** anvertraut werden, der für ihre Bildung und Ausbildung Sorge trägt und die alleinige Erziehungsgewalt besitzt,

2.) die sofortige Rückkehr der Kinder zum Wohnort verfügt, mit Ausnahme des Ältesten im Falle der unverzichtbaren Notwendigkeit einer anderweitig nicht durchführbaren medizinischen Behandlung,

3.) dass der Vater Entscheidungen im Interesse der Kinder gemeinschaftlich mit Frau W***** treffe und dass Letztere für deren Bildung und Ausbildung soweit möglich mit Sorge trage,

4.) dass der erziehungsberechtigte Elternteil die affektive Beziehung der Kinder zu dem anderen Teil durch dessen Ausübung des Rechts auf Kommunikation, Besuch und Beherbergung zulassen und fördere,

5.) in Erwartung des psychologischen Gutachtens Alexandra W***** ermächtigt wird, die mj Kinder zu treffen und mit ihnen zusammenzusein, dies im Einklang mit ihren Alltags- und schulischen Erfordernissen und zwar ...

6.) die Familienwohnung Noel ***** D***** als Erziehungsberechtigten zugewiesen wird.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters vom 22. 11. 1999 auf Rückführung der Kinder nach dem Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung lt. BGBl 1988/512 ab. Das Verbringen der Kinder durch die Mutter sei nicht widerrechtlich im Sinne des Art 3 des Übereinkommens gewesen, weil der Mutter zum Zeitpunkt der Fahrt nach Östereich (9. 6. 1999) die alleinige Obsorge zugestanden sei. Eine Befugnis des Vaters, den Aufenthaltsort der Kinder mitzubestimmen, sei der Entscheidung des Zivilgerichtes von Cagliari nicht explizit zu entnehmen. Später ergangene Entscheidungen vom 6. 8. 1999 bzw 2. 11. 1999 (die die Obsorge dem Vater übertragen hatten), könnten keine widerrechtliche Zurückhaltung begründen. Selbst für den Fall, dass ein widerrechtliches Zurückhalten im Sinne des Art 3 des Übereinkommens vorliege, sei der Mutter als widersetzender Teil der Nachweis im Sinn des Art 13 lit b gelungen, weil die Rückgabe der Kinder für diese mit einer schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens verbunden wäre.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Es trat zwar der Rechtsmeinung des Erstgerichtes, wonach das Verbringen der Kinder im konkreten Fall durch die Mutter nach Österreich zwar im Sinne der Entscheidung des Zivilgerichtes Cagliari vom 2. 3. 1999 unerlaubt gewesen, nicht aber im Sinn des Art 3 HKÜ widerrechtlich sei, nicht bei. Der Vater hätte zum Zeitpunkt der Verbringung die Befugnis gehabt, den Aufenthaltsort der Kinder mitzubestimmen. Die Vorgangsweise der Mutter stelle sich daher nicht nur im Sinn der Entscheidung als unerlaubt, sondern auch im Sinn des Art 3 HKÜ als widerrechtlich dar. Es entspreche aber nicht dem Kindeswohl, dem Antrag des Vaters auf Rückstellung der jüngeren Kinder stattzugeben. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Frage, inwieweit unter Beachtung materiell italienischen Rechtes im Zusammenhang mit der maßgeblichen Entscheidung des Zivilgerichtes Cagliari vom 2. 3. 1999 die Voraussetzungen des Art 3 HKÜ vorlägen oder nicht, keine Rechtsprechung bestehe, wobei insbesondere entscheidend sei, ob in der Verfügung des Punktes 3. der Entscheidung vom 2. 3. 1999, wonach die Eltern Entscheidungen im Interesse der Kinder gemeinschaftlich treffen müssten, in Verbindung mit Artikel 155 Abs 2 italZGB, demzufolge vorbehaltlich anderweitiger Festsetzung Entscheidungen von größerer Bedeutung von beiden Eltern gemeinsam zu treffen seien, die Einräumung eines Mitobsorgerechtes für den Vater zu erblicken sei. Es bestehe auch keine gesicherte Rechtsprechung, unter welchen Voraussetzungen sich ein Elternteil der Rückgabe des Kindes widersetzen dürfe.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichtes (§ 16 Abs 3 AußStrG) liegt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vor.

Vorweg sei erwähnt, dass, wie schon das Erstgericht zutreffend erkannt hat, maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung nach Art 3 leg cit jener der Verbringung der Kinder ist. Den nachträglichen Entscheidungen des Gerichtes in Cagliari vom 6. 8. und 2. 11. 1999 kommt daher bei der Beurteilung des vorliegenden Falles keine rechtserhebliche Bedeutung zu.

Von der im Zulassungsausspruch enthaltenen Beantwortung der Frage, ob dem Vater vom italienischen Pflegschaftsgericht ein Mitobsorgerecht eingeräumt wurde, hängt die Entscheidung nicht ab. Selbst wenn die Mutter die Kinder widerrechtlich im Sinn des Art 3 des Übereinkommens in Österreich zurückhält, wäre für den Rechtsstandpunkt des Vaters aus folgenden Gründen nichts gewonnen. Erklärtes Ziel des Übereinkommens ist es zwar, die internationale Zusammenarbeit bei Kindesentführungen zu verstärken, um das gestörte Sorgeverhältnis so rasch wie möglich wiederherzustellen. Es soll verhindert werden, dass jemand mehr oder weniger künstliche internationale Zuständigkeitsverbindungen schafft, um auf diesem Weg das anzuwendende Recht zu verfälschen und eine für ihn günstigere gerichtliche Entscheidung zu erlangen. Aus diesem Grund hat demnach der Wunsch Vorrang, die Wiederherstellung der durch den Entführer veränderten Situation zu garantieren. Das Übereinkommen lässt jedoch in Art 13 Abs 1 bestimmte Ausnahmen von der allgemeinen Verpflichtung der Staaten zu, die sofortige Rückgabe der widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kinder sicherzustellen. Nach dessen lit b ist die zuständige Behörde - ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1) - dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass das konkrete Kindeswohl den Vorzug vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden hat (6 Ob 294/99z, 4 Ob 2288/96s, 7 Ob 72/98h). Dass diese Gründe dann nicht berücksichtigt werden dürften, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt sind, besagt das Übereinkommen nicht. Es widerspräche vielmehr dem Übereinkommen, eine besondere Gefahrensituation, die die Rückgabe herbeiführen würde, bei der Entscheidung nicht zu berücksichtigen (7 Ob 596/93).

Der Umstand, dass seit der Verbringung der Kinder nach Österreich einige Zeit verstrichen ist und sich die Kinder mit ihrer Mutter am neuen Aufenthaltsort eingelebt haben und hier die Schule besuchen, ist daher nicht unbeachtlich, weil sie die Fragen des Kindeswohles betreffen. Nicht unberücksichtigt kann bleiben, dass sich der mj Stephane gegen eine Rückführung nach Italien ausgesprochen hat und auch die Trennung der Kinder das Kindeswohl schwer beeinträchtigen würde.

Ob das Kindeswohl im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist. Eine krasse Fehlbeurteilung der Vorinstanzen, dass der Mutter der Nachweis einer solchen Gefährdung im vorliegenden Fall gelungen ist, liegt nicht vor.

Der Revisionsrekurs ist deshalb mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 14 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.

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