OGH 10ObS61/00v

OGH10ObS61/00v23.5.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerd Swoboda (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Anna Cäcilia M*****, geboren am 18. April 1995, vertreten durch ihre Mutter und gesetzliche Vertreterin Mag. Margarete M*****, vertreten durch Dr. Gottfried Zandl und Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Land Wien, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 12, 1010 Wien, Schottenring 24, vertreten durch Dr. Wolfgang Völkl, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Dezember 1999, GZ 10 Rs 268/99a-65, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 9. Juli 1999, GZ 3 Cgs 225/96s-61, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Zuspruches von Pflegegeld der Stufe 4 in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Übrigen im Umfang des Differenzbetrages zwischen den Pflegegeldstufen 4 und 7 aufgehoben und die Sozialrechtssache insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 18. 4. 1995 geborene Klägerin weist seit ihrer Geburt eine spastische Tetraparese sowie eine schwerste geistige Behinderung auf und ist weder in somatischer, noch in intellektueller, emotionaler oder sozialer Hinsicht lebensaltertypisch gereift. Weiters liegt bei ihr eine medikamentös zu behandelnde Epilepsie vor und es sind sämtliche Sinnesorgane der Klägerin von Wahrnehmungsstörungen betroffen. Sie ist seit der Geburt auch blind.

Die Klägerin befindet sich auf einem Entwicklungsniveau I nach Fröhlich, was einem durchschnittlichen Entwicklungsalter von 3,3 Monaten und einem Entwicklungsquotienten von 8 entspricht. Der Klägerin ist schon aufgrund der Blindheit eine altersentsprechende zielgerichtete und vor allem koordinierte Bewegung nicht möglich. Aber auch unabhängig von der Blindheit ist die Klägerin aufgrund der Tetraspastik und der schweren geistigen Behinderung nicht in der Lage, dem Lebensalter entsprechende motorische Bewegungsschablonen zu erbringen. Die geistige Entwicklung der Klägerin ist stehengeblieben, ihr Gesamtzustand hat sich im Zeitraum von April 1997 bis Februar 1999 verschlechtert.

Einem gesunden Kind ist etwa ab dem 4. oder 5. Lebensmonat ein Greifen nach einem in einem Abstand von etwa 35 cm vor den Augen befindlichen Mobile möglich. Eine zielgerichtete Bewegung, die eine willentliche Steuerung erfordert und letztlich einem Zweck dient, kann von einem gesunden Kind vor dem 6. bis 8. Lebensmonat nicht erreicht werden. Die Klägerin war jedoch zu keinem Zeitpunkt ihres bisherigen Lebens und ungeachtet der bei ihr bestehenden Blindheit in der Lage, zielgerichtete Bewegungen wie vergleichbare gesunde Kinder im Hinblick auf ihr jeweiliges Lebensalter und Entwicklungsstadium vorzunehmen.

Aufgrund der bei der Klägerin vorliegenden Schädigungen im Bereich des Stirnlappens und im gesamten Gehirnbereich ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, dass der Klägerin eine komplexe Motorik möglich sein wird; allenfalls kann sie lernen, etwa einen Tastschalter zu bedienen. Mit einem Training hiezu kann sinnvoll nicht vor dem 7. Lebensjahr der Klägerin begonnen werden. Die Bedienung etwa eines Kippschalters wird der Klägerin nie möglich sein.

Durch die Blindheit muss die Klägerin nicht nur die Bewegung trainieren, sondern zusätzlich auch die Orientierung. Da sie nicht in der Lage ist, eine subcortikale Hirnleistung zu erbringen, kann sie zwischendurch eine vermeintlich zielgerichtete Bewegung zwar vornehmen, diese jedoch nicht wiederholen oder bewusst oder willentlich abrufen.

Die Klägerin benötigt eine die altersentsprechende Hilfe übersteigende Hilfe beim An- und Auskleiden, weil ihr eine Mithilfe nicht möglich ist. Ihrem Alter entsprechend müsste die Klägerin zumindest beim Ankleiden der Oberbekleidung mithelfen können. Das Toilettentraining sollte im Alter der Klägerin zumindest angebahnt sein, die Klägerin ist jedoch nicht in der Lage, Drangzustände überhaupt wahrzunehmen oder mitzuteilen. Sie benötigt zeitweise Einläufe, weil der Ernährungs- und Verdauungsvorgang nicht in der notwendigen vegetativen Form erfolgt. Dies ist bei gesunden Kindern nicht erforderlich.

Infolge der fehlenden eigenständigen Bewegungsfähigkeit der Klägerin ist die tägliche Körperpflege ausschließlich durch dritte Personen durchzuführen. Es müssen insbesondere Aufliegestellen bei der Klägerin besonders gesäubert werden; dies gilt ebenso für die Inkontinenzpflege. Die Klägerin ist im Gegensatz zu altersentsprechenden gesunden Kindern ausschließlich in der Lage, breiige Kost zu sich zu nehmen. Sie ist im Gegensatz zu einem gesunden dreijährigen Kind nicht in der Lage, mit dem Löffel vorgeschnittenes Essen zu sich zu nehmen. Sie kann lediglich breiige Nahrung in einem die übliche Essenszeit hinaus weit überschreitenden Maß zu sich nehmen. Notdurftpflege ist bei der Klägerin infolge der etwa seit dem 18. Lebensmonat über ein altersentsprechendes Ausmaß hinaus gegebenen Stuhl- und Harninkontinenz notwendig.

Bereits ab dem 12. Lebensmonat der Klägerin war ein über das altersentsprechende Ausmaß hinaus erfolgter Pflegeaufwand bei der Körperpflege und zur Vermeidung von Wundliegen gegeben, damit Sekundärerkrankungen vermieden werden konnten. Die Klägerin muss zur Vermeidung von Wundliegen gelagert werden und in regelmäßigen Abständen umgelegt werden. Zum Einschlafen benötigt sie eine bestimmte Seitenlage, die Bauchlage kann die Klägerin aufgrund ihrer Behinderungen nicht einnehmen. Sie leidet unter Durchblutungsstörungen im gesamten Körper, weshalb zur Gewährleistung einer regelmäßigen und ausreichenden Durchblutung eine Frottage der Extremitäten notwendig ist.

Der Klägerin wurde mit Bescheid der beklagten Partei vom 15. 11. 1996 ab 1. 6. 1996 ein Pflegegeld der Stufe 2 und ab dem 1. 11. 1996 ein Pflegegeld der Stufe 3 gewährt.

Die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, begehrt Pflegegeld der Stufe 7 ab 1. 6. 1996.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit Urteil vom 24. 4. 1998 (erster Rechtsgang) statt. Es gelangte in seiner rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die Klägerin blind im Sinn des § 7 Abs 1 Z 2 WrEinstV (aF) sei. Damit sei vom Vorliegen eines Pflegebedarfes von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich auszugehen. Da der Klägerin vor allem aufgrund ihrer seit Geburt bestehenden Blindheit zielgerichtete und koordinierte Bewegungen nicht möglich seien, stehe ihr gemäß § 4 Abs 2 WPGG Pflegegeld der Stufe 7 zu.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass es die beklagte Partei mit Teilurteil schuldig erkannte, der Klägerin ab dem 1. 6. 1996 ein Pflegegeld der Stufe 4 im Ausmaß von S 8.535 monatlich zu bezahlen. Dieses vom Berufungsgericht erlassene Teilurteil erwuchs in Rechtskraft. Im Umfang des Differenzbetrages zwischen den Pflegegeldstufen 4 und 7 hob das Berufungsgericht das Ersturteil auf und verwies insoweit die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Nach seinen Rechtsausführungen sei gemäß § 7 Abs 1 Z 2 WrEinstV (aF) ohne weitere Prüfung nach § 4 WPGG für Personen, die blind sind, ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich anzunehmen. Als blind gelte, wer nichts oder nur so wenig sehe, dass er sich in einer ihm nicht ganz vertrauten Umgebung allein nicht zurechtfinden könne. Dies sei jedenfalls bei Personen der Fall, die die Fähigkeit des Formensehens verloren haben (§ 7 Abs 3 WrEinstV aF). Bei der Beurteilung der Frage, ob Blindheit im Sinn des § 7 WrEinstV vorliege, handle es sich um eine rechtliche Beurteilung, welche anhand bestimmter, im Beweisverfahren abzuklärender und in den Tatsachenfeststellungen klarzulegender Umstände zu erfolgen habe. Die hiefür erforderlichen Tatsachengrundlagen seien vom Erstgericht ausreichend erhoben worden. Da die in der Einstufungsverordnung verlangten Kriterien der Blindheit erfüllt seien, sei bei der Klägerin ein diagnosebezogener Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden monatlich anzunehmen. Die Klägerin habe daher jedenfalls Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4. Ob der Klägerin noch zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung möglich seien, könne nach den vom Erstgericht im ersten Rechtsgang getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden, weil die Vornahme zielgerichteter Bewegungen mit der Blindheit, für die ein pauschalierter Pflegeaufwand angenommen werde, nicht in Zusammenhang gebracht werden dürfe. Es komme daher allein darauf an, ob die Klägerin aufgrund ihrer sonstigen geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen an der Vornahme zielgerichteter Bewegungen gehindert sei.

Das Erstgericht gab unter Zugrundelegung der bereits eingangs wiedergegebenen Feststellungen dem im zweiten Rechtsgang noch strittigen Klagebegehren mit Urteil vom 9. 7. 1999 statt. Bei der Klägerin liege im Hinblick auf die vom Erstgericht im zweiten Rechtsgang ergänzend getroffenen Feststellungen eine praktische Bewegungsunfähigkeit im Sinne der Pflegegeldstufe 7 nach dem WPGG vor, weil der Klägerin die Vornahme einer zielgerichteten Bewegung mit funktioneller Umsetzung auch unter Berücksichtigung altersadäquater Fähigkeiten gesunder Kinder nicht möglich sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das noch strittige Begehren der Klägerin im Umfang des Differenzbetrages zwischen den Pflegegeldstufen 4 und 7 abgewiesen werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Voranzustellen ist, dass aufgrund des rechtskräftigen Teilurteiles des Berufungsgerichtes vom 29. 10. 1998 davon auszugehen ist, dass die Klägerin als blind im Sinn des § 7 Abs 3 der WrEinstV aF anzusehen ist und ihr daher aufgrund dieser diagnosebezogenen Einstufung rechtskräftig ein Pflegegeld der Stufe 4 zugesprochen wurde. Es wird von der beklagten Partei auch nicht in Abrede gestellt, dass die Klägerin auch nach Inkrafttreten der Novelle zum WPGG LGBl 1999/44 aufgrund dieser diagnosebezogenen Einstufung weiterhin Pflegegeld der Stufe 4 gebührt (§ 4a Abs 5 WPGG iVm § 35 Abs 5 WPGG idF LGBl 1999/44).

Strittig ist somit im zweiten Rechtsgang nur noch die Frage, ob der Klägerin aufgrund funktionsbezogener Einstufung ein höheres Pflegegeld, insbesondere das von ihr begehrte Pflegegeld der Stufe 7, gebührt.

Die beklagte Partei wendet sich in ihren Revisionsausführungen vor allem gegen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, wonach der gemäß § 7 der WrEinstV aF für blinde Personen anzunehmende diagnosebezogene Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich für den gemäß § 4 Abs 2 WPGG zur Einreihung in die Pflegegeldstufe 7 erforderlichen funktionsbezogenen Pflegeaufwand von ebenfalls durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich heranzuziehen sei. Aus der Bestimmung des § 4a Abs 5 und 7 iVm § 4 WPGG idF LGBl 1999/44 ergebe sich, dass der Pflegebedarf für eine Person, die neben der Blindheit noch unter weiteren Behinderungen leide, in Bezug auf diese anderen Behinderungen von der Blindheit getrennt zu betrachten sei und ohne Bedachtnahme auf die Blindheit funktionsbezogen zu prüfen sei. Es sei somit ausschließlich der aufgrund anderer Behinderungen als der Blindheit erforderliche Pflegebedarf konkret festzustellen und nur wenn sich aufgrund anderer Behinderungen als der Blindheit ein höherer Pflegeaufwand als 180 Stunden monatlich ergebe, komme der Zuspruch eines die Stufe 4 übersteigenden Pflegegeldes in Frage. Durch die Vorgangsweise der Vorinstanzen sei der vom Gesetz festgelegte Pflegebedarf unzulässigerweise doppelt angerechnet worden.

Diesen Ausführungen kommt weitgehend Berechtigung zu.

Die Bestimmungen des BPGG und der EinstV gehen - ebenso wie die hier anzuwendenden Bestimmungen des WPGG und der WrEinstV - grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes, das heißt von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe aus. Nach § 4 Abs 3 Z 4 BPGG aF bzw § 4 Abs 5 Z 4 WPGG aF können jedoch für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf - insoweit also "diagnosebezogen" - Mindesteinstufungen im Verordnungsweg vorgenommen werden (vgl SSV-NF 11/103 mwN ua). Nach § 7 Abs 1 Z 2 WrEinstV aF ist bei blinden Personen ohne weitere Prüfung nach § 4 des Wiener Pflegegeldgesetzes ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich anzunehmen, sodass einem blinden Pflegegeldwerber gemäß § 4 Abs 3 WPGG aF als Mindesteinstufung jedenfalls Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 gebührt.

Ungeachtet dieser abstrakten Pauschalierung hat auch bei Pflegebedürftigen, für die Mindesteinstufungen im Verordnungsweg vorgenommen wurden, die individuelle Situation Berücksichtigung zu finden und kann im Einzelfall - aufgrund einer funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes - zur Gewährung einer höheren Leistung führen (SSV-NF 10/131 mwN ua; RIS-Justiz RS0106384). Dieser Grundsatz ist im Rahmen der nunmehr in § 4a WPGG (idF LGBl 1999/44) bzw § 4a BPGG (idF BGBl I 1998/111) geregelten Mindesteinstufungen auch gesetzlich verankert worden. Nach Abs 7 dieser Bestimmungen ist der Pflegebedarf gemäß § 4, dh funktionsbezogen, festzustellen, wenn beim Pflegegeldwerber zusätzliche Behinderungen vorliegen. Ergibt diese Beurteilung eine höhere Einstufung, so gebührt das entsprechende (höhere) Pflegegeld. Die nunmehr in § 4a WPGG bzw BPGG enthaltenen diagnosebezogenen Mindesteinstufungen schließen somit - so wie nach der bisherigen Rechtslage - nicht aus, dass aufgrund der funktionsbezogenen Beurteilung ein höheres Pflegegeld zu leisten ist, wenn aufgrund weiterer Behinderungen die Voraussetzungen für eine höhere Einstufung gegeben sind. In den Gesetzesmaterialien (vgl RV 1186 BlgNR XX. GP, 13) ist ausdrücklich festgehalten, dass eine Addition der bei dieser funktionellen Beurteilung ermittelten Stundenwerte mit den der Mindesteinstufung zugrunde liegenden Zeitwerten nicht zulässig ist.

Gleiches muss aber auch für die von den Vorinstanzen gewählte Vorgangsweise der Übernahme von der diagnosebezogenen Mindesteinstufung zugrunde liegenden Zeitwerten in die funktionsbezogene Beurteilung des für eine Einstufung in die Pflegegeldstufen 5 bis 7 erforderlichen Pflegebedarfes von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich gelten, weil auch eine solche Vorgangsweise der Unterschiedlichkeit dieser beiden Betrachtungsweisen (funktionsbezogen - diagnosebezogen) nicht gerecht wird. So kommt dem Umstand, dass die betroffene Person blind ist, bei der Frage, ob beispielsweise die Voraussetzungen der Pflegegeldstufe 7 erfüllt sind, in der Regel keine besondere Bedeutung zu. Die Verrichtungen, die die Pflege erfordern, sind nicht durch die Blindheit, sondern durch andere Umstände bedingt und es sind dem Betroffenen in der Regel Verrichtungen, die sonst wegen der Blindheit eine fremde Hilfe erfordern, schon wegen anderer Leidenszustände nicht möglich. Hinsichtlich des Pflegeaufwandes besteht dann, wenn Leidenszustände vorliegen, die im Sinne einer Einstufung in die Pflegegeldstufen 5 bis 7 zu prüfen sind, zwischen einer blinden und einer sehenden Person häufig kein wesentlicher Unterschied. Dass die von den Vorinstanzen gewählte Vorgangsweise offensichtlich auch nicht der Absicht des Gesetzgebers entspricht, zeigt nach Ansicht des erkennenden Senates neben den bereits dargelegten Erwägungen vor allem auch der Umstand, dass nach der nunmehrigen Regelung des § 4a Abs 5 WPGG bzw BPGG bei blinden Personen mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 4 (nunmehr durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich) anzunehmen ist, während Voraussetzung für eine Einstufung in die Pflegegeldstufen 5 bis 7 weiterhin unter anderem ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich ist. Es würde einen dem Gesetzgeber nicht zu unterstellenden Wertungswiderspruch darstellen, wenn bei blinden Personen nach der alten Rechtslage der aufgrund der diagnosebezogenen Einstufung anzunehmende Pflegebedarf dem für eine funktionsbezogene Einstufung in die Pflegegeldstufen 5 bis 7 erforderlichen Pflegebedarf entsprechen würde, während dies nach der neuen Rechtslage nicht mehr der Fall wäre. Aufgrund dieser Erwägungen gelangt der erkennende Senat abweichend von den Vorinstanzen zu dem Ergebnis, dass der bei der diagnosebezogenen Beurteilung für blinde Personen gemäß § 7 Abs 1 Z 2 WrEinstV aF festgelegte Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich nicht für die Beurteilung der Frage, ob der bei der funktionsbezogenen Beurteilung als Voraussetzung für eine Einstufung in eine höhere Pflegegeldstufe festgelegte Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich vorliegt, heranzuziehen ist; mit dieser Regelung wird vielmehr nur zum Ausdruck gebracht, dass blinden Personen Pflegegeld der Stufe 4 gebührt, wie dies auch nach der neuen Rechtslage im § 4a WPGG angeordnet ist. Der Klägerin gebührt daher nur dann ein höheres Pflegegeld als das ihr bereits rechtskräftig zuerkannte Pflegegeld der Stufe 4, wenn bei ihr aufgrund funktionsbezogener Beurteilung ein Pflegebedarf im Sinne der §§ 1 ff WrEinstV von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich besteht und auch die für eine Einstufung in die Pflegegeldstufen 5 bis 7 gemäß § 4 WPGG jeweils vorgesehenen weiteren Voraussetzungen erfüllt sind. Bei der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes ist gemäß § 4 Abs 1 WPGG im Rahmen einer Gesamtbeurteilung der aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung bestehende Pflegebedarf zu berücksichtigen und es ist daher bei der Klägerin entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin auch der aus der Blindheit resultierende Pflegebedarf zu berücksichtigen.

Soweit die Revisionswerberin gegen die von den Vorinstanzen vorgenommene Beurteilung unter Hinweis auf die erst jüngst ergangene Entscheidung des erkennenden Senates vom 30. 11. 1999, 10 ObS 121/99p, auch ins Treffen führt, dass eine diagnosebezogene Einstufung sowohl nach § 7 WrEinstV aF als auch nach § 4a Abs 4 bis 6 WPGG LGBl 1999/44, die Vollendung des dritten Lebensjahres voraussetze und es daher bei Kindern vor der Vollendung des dritten Lebensjahres sowohl nach den Bestimmungen des BPGG als auch nach denen des - hier anzuwendenden - WPGG immer nur auf die Feststellung des konkreten Pflegebedarfes ankomme, steht einer Berücksichtigung dieses Vorbringens, wie auch die Revisionswerberin selbst einräumt, die Rechtskraft des vom Berufungsgericht gefällten Teilurteils vom 29. 10. 1998 entgegen.

Zutreffend verweist die Revisionswerberin allerdings darauf, dass der Pflegebedarf zumindest bei Kindern (nach § 3 Abs 3 WrEinstV bei Personen zwischen dem dritten und fünfzehnten Lebensjahr, nach § 4 Abs 3 WPGG idF LGBl 1999/44 bei Kindern und Jugendlichen) insoweit nicht anzunehmen ist, als die notwendigen Verrichtungen auch von Personen, die sich auf der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Entwicklungsstufe befinden, nicht selbständig vorgenommen werden können und somit nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen, nicht behinderten Personen hinausgeht (10 ObS 121/99p; SSV-NF 10/96 mwN; RIS-Justiz RS0106555).

Die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen reichen aber nicht aus, um beurteilen zu können, in welchem Ausmaß der Pflegebedarf bei der Klägerin über jenen eines nicht behinderten gleichaltrigen Kindes hinausgeht und ob der Klägerin damit aufgrund der funktionsbezogenen Beurteilung ein höheres Pflegegeld als das bereits rechtskräftig zugesprochene Pflegegeld der Stufe 4 gebührt. Da es zur Abklärung dieser Feststellungsmängel einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, waren die Urteile der Vorinstanzen in dem noch strittigen Umfang aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte