OGH 2Ob117/00w

OGH2Ob117/00w17.5.2000

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 29. November 1985 geborenen mj. Sarai Z*****, infolge Revisionsrekurses der Mutter Gudrun Maria Z*****, D-86169 Augsburg, ***** vertreten durch Günter Willisch und andere Rechtsanwälte in Augsburg, im Einvernehmen mit Dr. Hannes Pramer, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 19. Jänner 2000, GZ 43 R 1092/99b-16, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Döbling vom 3. November 1999, GZ 16 P 62/99y-7, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Antrag des Vaters, ihm die alleinige Obsorge für die Pflegebefohlene zu übertragen und sie der Mutter zu entziehen, abgewiesen wird.

Text

Begründung

Der Vater der unehelich geborenen Pflegebefohlenen stellte den Antrag, ihm die alleinige Obsorge für seine Tochter zu übertragen mit der Begründung, diese lebe seit Februar 1992 bei ihm in Österreich. Davor habe die Pflegebefohlene, die ebenso wie die Mutter deutsche Staatsangehörige sei, bei der Mutter in Deutschland gelebt. Nunmehr habe sie sich entschieden, bis zur Volljährigkeit bei ihm in Wien zu bleiben. Bis jetzt sei es ihm aufgrund fehlender Obsorgeberechtigung nicht möglich gewesen, die Pflegebefohlene in Österreich zu vertreten; nunmehr sei in Absprache mit der Mutter klar, dass die Pflegebefohlene dauernd hier in Wien leben werde und sei schon aus rein praktischen Gründen eine Obsorgeübertragung erforderlich.

Das Erstgericht gab diesem Antrag statt, wobei es folgenden Sachverhalt feststellte:

Die Pflegebefohlene lebt seit Februar 1992 beim Vater in Wien; sie verfügt in dessen Wohnung über ein eigenes Zimmer und wird vom Vater zusammen mit seiner nunmehrigen Ehegattin betreut. Die Übersiedlung der Pflegebefohlenen nach Wien erfolgte in Absprache mit der Mutter vor allem deswegen, weil diese eine längerdauernde Ausbildung begonnen hatte, die ihr eine weitere Versorgung der Pflegebefohlenen nicht mehr möglich machte.

Die Pflegebefohlene hält sich nunmehr schon über sieben Jahre in Österreich auf, sie fühlt sich beim Vater und seiner Frau wohl, sie verfügt über einen Freundeskreis in Wien und möchte jedenfalls ihre Schulzeit hier beenden.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Übertragung der Obsorge über die Pflegebefohlene an den Vater diene deren Wohl. Da sie sich weiterhin dauernd in Österreich aufhalten werde und ein dauernder oder regelmäßiger Kontakt zur bisher obsorgeberechtigten Mutter nur mehr schwer oder kaum mehr möglich sein werde, sei es jedenfalls erforderlich, dass sie an ihrem nunmehrigen Wohn- und Aufenthaltsort eine obsorgeberechtigte Person habe, die für sie entsprechende (rechtsgeschäftliche) Vertretungstätigkeit ausüben könne. Darüber hinaus wünsche sie selbst die Übertragung der Obsorge an den Vater.

Das von der Mutter angerufene Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig.

Es führte aus, es komme im Hinblick auf die deutsche Staatsangehörigkeit der Pflegebefohlenen zur Anwendung der Bestimmung des Haager Minderjährigenschutzabkommens, BGBl 1975/446 (MSA). Gemäß Art 1 und 2 MSA seien die Maßnahmen zum Schutz der Person des Kindes nach österreichischem Recht zu treffen. Das kraft Gesetzes bestehende mütterliche Sorgerecht für ihr uneheliches Kind nach § 1705 BGB sei ein "gesetzliches Gewaltverhältnis" im Sinne des Art 3 MSA. In ein nach dem Heimatrecht des Kindes bestehendes gesetzliches Gewaltverhältnis könne nur eingegriffen werden, soweit das Heimatrecht dies zulasse. Nach § 1705 BGB stehe das nicht eheliche Kind, solange es minderjährig sei, unter der elterlichen Sorge der Mutter. Der Vater habe kein Sorgerecht, er erhalte die elterliche Sorge lediglich, wenn er die Mutter heirate, wenn das Kind für ehelich erklärt werde oder wenn er es adoptiere; sie könne ihm auch übertragen werden, wenn sie zuvor der Mutter gemäß § 1666 BGB wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen worden sei. Nach dieser Bestimmung werde sohin das Kindeswohl auch im Heimatstaat berücksichtigt. Das BGB lasse also die Konkretisierung der tatsächlichen Verhältnisse im Obsorgebereich zum Wohl des Kindes zu. Wenn es aber grundlegend um die Frage des Kindeswohles gehe, das selbst im Heimatstaat berücksichtigt werde, könne selbst ein gesetzliches Gewaltverhältnis im Sinne des Art 3 MSA verdrängt werden.

Aufgrund der örtlichen Nähe und des bereits sieben Jahre dauernden Aufenthaltes der Pflegebefohlenen sei eine Obsorgeübertragung an den Vater nötig. Ein gesetzlicher Vertreter, der in einem anderen Staat lebe, könne seine Vertretungsbefugnis nicht ohne Gefährdung des Kindeswohles ausüben, weil er aufgrund der räumlichen Distanz nicht imstande sei, bei Gefahr in Verzug zu handeln bzw allenfalls wichtigen Entscheidungen spontan seine Einwilligung zu erteilen. Eine Vollmacht könne die gesetzliche Vertretung nicht ersetzen und jederzeit widerrufen werden. Weiters sei ein regelmäßiger Telefonkontakt bzw Briefwechsel nicht ausreichend, um den dauernden Kontakt zur Mutter für die Obsorge herzustellen. Aufgrund der zwischenmenschlichen Beziehungen die die Pflegebefohlene in Österreich habe, sei es im Interesse des Kindes dringend geboten, die Obsorge an den Vater zu übertragen, um einer Gefährdung des Kindeswohles entgegenzuwirken.

Eine gemeinsame Obsorgeübertragung sei nicht möglich, weil die Voraussetzungen des § 167 ABGB nicht gegeben seien.

Den ordentlichen Revisionsrekurs erachtete das Rekursgericht für zulässig, weil die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhänge, der zur Wahrung der Rechtseinheit erhebliche Bedeutung zukomme, weil die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes diesbezüglich uneinheitlich sei.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass der Antrag des Vaters abgewiesen werde.

Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Die Mutter macht in ihrem Rechtsmittel geltend, in die nach deutschem Recht bestehende Personensorge könne lediglich unter bestimmten Voraussetzungen eingegriffen werden, nämlich wenn das Wohl des Kindes infolge missbräuchlicher Ausübung der elterlichen Sorge, Vernachlässigung des Kindes oder Versagen der Eltern konkret gefährdet sei. Derartige Voraussetzungen seien aber hier nicht gegeben. Das deutsche Heimatrecht der Pflegebefohlenen lasse einen Eingriff ohne Vorliegen der in § 1666 BGB genannten Voraussetzungen nicht zu, weshalb in dieses gesetzliche Gewaltverhältnis nicht eingegriffen werden könne. Eine Gefährdung des Kindeswohles sei nicht gegeben und könne der Vater aufgrund der ihm erteilten Vollmacht die erforderlichen Maßnahmen in Vertretung des Kindes auch treffen. Hilfsweise wird beantragt, den Eltern das gemeinsame Sorgerecht zu übertragen.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu wurde erwogen:

Das Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes Minderjähriger vom 5. 10. 1961, BGBl 1975/446 (MSA) ist sowohl in Deutschland als auch in Österreich in Kraft (s Schwimann, Internationales Privatrecht**2, 129; Mottl, Zulässigkeit und Umfang einer Besuchsrechtserweiterung nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen, IPRax 1993, 417 [418 FN 1]). Gemäß Art 1 MSA sind die Behörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3, dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Unter dem Begriff der Maßnahmen fallen ua alle Eingriffe in das elterliche Obsorgeverhältnis (8 Ob 106/98s = ZfRV 1998, 209 = EFSlg 87.914, 87.916, 87.919, 87.920 mwN; Schwimann, aaO, 130). Der gewöhnliche Aufenthalt der Pflegebefohlenen ist in Österreich ohne Zweifel gegeben.

Da die zuständigen Behörden jeweils nach ihrem innerstaatlichen Recht zu entscheiden haben (Schwimann, aaO, 130; Mottl, aaO, 418) ist grundsätzlich österreichisches Recht anzuwenden. Allerdings ist nach Art 3 MSA ein Gewaltverhältnis, das nach dem innerstaatlichen Recht des Staates, dem der Minderjährige angehört, kraft Gesetzes besteht, in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. Ob ein Gewaltverhältnis besteht, ist nach den Sachnormen des Heimatrechtes zu beurteilen (Schwimann, aaO, 430; Mottl, aaO, 419). Nach dem hier maßgeblichen deutschen Recht steht gemäß § 1626a BGB die eheliche Sorge für ein nicht ehelich geborenes Kind den Eltern gemeinsam zu, wenn sie erklären, dass sie die Sorge gemeinsamen übernehmen wollen oder einander heiraten (Abs 1). Da dies hier nicht der Fall ist, hat die Mutter gemäß § 1626a Abs 2 BGB die elterliche Sorge. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um ein Gewaltverhältnis im Sinne des Art 3 MSA (Mottl, aaO, 419). Ein derartiges Gewaltverhältnis schließt die Zuständigkeit der Aufenthaltsbehörde nicht aus, setzt aber - abgesehen von der Not- bzw Eilzuständigkeit der Art 8 und 9 MSA - voraus, dass das Heimatrecht selbst Eingriffe gestattet (Mottl, aaO, 420). Dies ist hier der Fall, besteht doch gemäß § 1666 BGB die Möglichkeit, Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohles zu treffen. Zulässigkeit und Umfang des Eingriffes in ein Gewaltverhältnis sind allerdings nicht nach österreichischem, sondern nach dem deutschen Heimatrecht zu beurteilen (2 Ob 598/90 = IPRax 1993, 415 = ZfRV 1991, 40 = EFSlg 63.869; Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen und seine Anwendung in Österreich, JBl 1976, 233 [245]; ders, Internationales Privatrecht**2, 130; Mottl, aaO, 420 f). Gemäß § 1666 Abs 1 BGB hat im Falle der Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohles des Kindes oder seines Vermögens durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten das Gericht, wenn die Eltern nicht gewilligt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Gefährdet im Sinne dieser Bestimmung ist das Kindeswohl nur beim Bestehen einer gegenwärtigen oder zumindest nahe bevorstehenden Gefahr für die Kindesentwicklung, welche so ernst zu nehmen ist, dass sich bei einer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen läßt (Hinz in Münchener KommzBGB3, Rz 25 zu § 1666; vgl auch Strätz in Soergel, KommzBGB12, Rz 32 zu §§ 1666, 1666a). Eine derartige konkrete Gefahr, die eine erhebliche Schädigung des Kindeswohles mit ziemlicher Sicherheit voraussehen läßt, wurde vom Antragsteller weder behauptet noch ergibt es sich aus den Feststellungen. Es mögen wohl praktische Gründe dafür sprechen, dem Vater eine Vertretungsbefugnis der Minderjährigen einzuräumen, eine erhebliche Schädigung des Kindeswohles ist aber darin, dass der Mutter die Obsorge zusteht und diese nicht in Österreich lebt, nicht zu erblicken.

Da auch die Voraussetzungen der Art 8 bzw 9 MSA nicht gegeben sind, war dem Revisionsrekurs stattzugeben und der Antrag des Vaters abzuweisen.

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