OGH 1Ob81/00v

OGH1Ob81/00v28.4.2000

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ulrike B*****, vertreten durch Dr. Rudolf Riedl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Roman L*****, vertreten durch Dr. Maria-Christina Engelhardt, Rechtsanwältin in Wien, wegen S 1,441.005,-- sA, Bezahlung einer Rente (Streitwert S 222.600,- -) und Feststellung (Streitwert S 100.000,- -), infolge Revision der beklagten Partei (Revisionsstreitwert S 1,100.000,- -) gegen das Teil- und Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. November 1999, GZ 16 R 85/99h-64, womit das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 18. Februar 1999, GZ 5 Cg 11/97h-53, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung

I. den

Beschluss

gefasst:

Der Antrag der beklagten Partei, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über ihren Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens (AZ U 127/94 des Bezirksgerichts Poysdorf) zu unterbrechen, wird abgewiesen;

II. zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin und der Beklagte hielten sich am 13. 1. 1994 mit dem Rücken zueinander auf einem Bahnsteig auf. Als sich der Beklagte aus der Hocke aufrichtete, verlor er das Gleichgewicht, geriet in eine Rückwärtsbewegung und machte hiebei Armbewegungen. Dabei stieß er an den Kopf, das Genick oder beide Körperbereiche der Klägerin, die sofort benommen war. Sodann traten bei ihr Lähmungserscheinungen im rechten Arm und im rechten Bein sowie eine Gesichtslähmung auf. Die gesamte Halswirbelsäule war druckempfindlich und die gesamte rechte Körperseite wies eine deutliche Schwäche sowie eine herabgesetzte Sensibilität auf. Die Klägerin konnte auch nicht mehr verständlich sprechen. Diese Symptome traten anlagebedingt oder auf Grund von nicht näher feststellbaren Vorschädigungen auf; normalerweise hätte das Unfallgeschehen lediglich eine Schädelprellung und eine leichte Verstauchung der Halswirbelsäule mit geringen Schmerzen und ohne Dauerfolgen nach sich gezogen.

Der Beklagte wurde wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB strafrechtlich verurteilt; das Strafgericht ging davon aus, dass er der Klägerin einen Stoß mit einem nicht mehr näher feststellbaren Körperteil versetzt und ihr dadurch fahrlässig einen Bruch im Hinterhaupt-Kleinhirnbereich mit einem Bluterguss zwischen den harten Hirnhäuten, verbunden mit Ausfällen linkshirnig im Sinne eines Hirnstromausfalls, zugefügt habe.

Die Klägerin begehrte Schmerzengeld, eine Verunstaltungsentschädigung, Verdienstentgang und den Ersatz von "Wohnungsaufwand", weiters eine monatliche Rente von S 5.300 ab 31. 1. 1997 und die Feststellung, dass ihr der Beklagte für alle zukünftigen Folgen des Unfalls vom 13. 1. 1994 hafte.

Der Beklagte wendete ein, er habe die Klägerin lediglich infolge eines unglücklichen Zufalls verletzt; es hätten bereits Vorschäden bestanden, und die Forderungen seien weit überhöht. Dauerfolgen seien nicht eingetreten. Der Beklagte anerkannte ein Schmerzengeld in der Höhe von S 100.000.

Das Erstgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung des anerkannten Betrags von S 100.000 sA und wies das Mehrbegehren ab. Der Beklagte habe die gesundheitlichen Folgen bei der Klägerin durch sein unachtsames Zurücktaumeln bzw Anrempeln ausgelöst. An das verurteilende Straferkenntnis sei das Zivilgericht gebunden. Auch bei Vorliegen eines Kausalzusammenhangs hafte der Schädiger aber nur für adäquat herbeigeführte Schäden. Als solche seien lediglich eine Schädelprellung und eine leichte Verstauchung der Halswirbelsäule anzusehen, darüber hinaus seien sie atypisch und nicht adäquat. Der zuerkannte Betrag decke das für die adäquaten Schäden gebührende Schmerzengeld. Alle sonstigen geltend gemachten Schäden seien ebenso wie die eingetretenen Dauerfolgen nicht adäquat verursacht worden.

Das Berufungsgericht erließ in teilweiser Abänderung des Ersturteils, das im klagsstattgebenden Teil unangefochten geblieben war, ein Teil- und Zwischenurteil, mit dem es feststellte, dass der Beklagte der Klägerin für alle zukünftigen Folgen des Unfalls vom 15. (richtig: 13.) 1. 1994 hafte und dass das auf Schmerzengeld und Verunstaltungsentschädigung gerichtete Begehren der Klägerin dem Grunde nach zu Recht bestehe. Das Mehrbegehren wies es - unangefochten - ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass sich schon auf Grund der Bindung an das strafgerichtliche Erkenntnis Überlegungen zur Adäquanz der dort bindend festgestellten, zur rechtlichen Beurteilung des qualifizierten Straftatbestands notwendigen Verletzungsfolgen ("schwere Verletzung") erübrigten. Die Unfallfolgen seien durch den Stoß des Beklagten adäquat verursacht worden. Krankheitserscheinungen, die durch einen Unfall nur deshalb ausgelöst würden, weil die Anlage zur Krankheit bei dem Verletzten bereits vorhanden gewesen sei, seien adäquate Unfallfolgen, sofern die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen gesundheitlichen Schaden herbeigeführt hätte. Von einem völlig atypischen Erfolg der Verletzungshandlung könne nicht die Rede sein.

Zu I:

Rechtliche Beurteilung

Der Antrag des Beklagten, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu unterbrechen, ist nicht berechtigt:

Der Beklagte brachte vor, er habe beim Strafgericht einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gestellt, weil die im Strafurteil festgestellten Verletzungsfolgen auf einem unrichtigen Sachverständigengutachten basierten, und der Irrtum im vorliegenden Zivilrechtsstreit aufgeklärt worden sei. Die Unterbrechung des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Erledigung eines Wiederaufnahmsantrags im Strafverfahren ist in der ZPO nicht vorgesehen und der Unterbrechungsantrag schon allein deshalb abzuweisen (ArbSlg 7243). Wie aber bei Erledigung der Revision noch auszuführen sein wird, ist es im Übrigen für die zivilrechtlichen Folgen des Schadensereignisses auch bedeutungslos, ob bestimmte Verletzungen allenfalls nicht entstanden seien; ein Verletzungserfolg ist jedenfalls und unbestrittenermaßen eingetreten und dieser Umstand reicht für die zivilrechtliche Haftung des Beklagten aus.

Der Unterbrechungsantrag ist demnach abzuweisen.

Zu II:

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Der Umfang der Bindung des Zivilrichters an ein verurteilendes strafgerichtliches Erkenntnis ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts klar, wenngleich er nie ausdrücklich determiniert wurde. Ein strafgerichtlich Verurteilter muss das Urteil gegen sich gelten lassen und kann sich im nachfolgenden Rechtsstreit einer anderen Partei gegenüber nicht darauf berufen, dass er eine Tat, derentwegen er strafgerichtlich verurteilt wurde, nicht begangen habe (SZ 68/195). Dies bedeutet aber - ebenso wie früher nach § 268 ZPO aF -, dass der Zivilrichter keine vom Strafurteil abweichenden Feststellungen über den Nachweis der strafbaren Handlung, ihre Zurechnung und den Kausalzusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und ihren Folgen treffen darf (vgl ZVR 1990/125; 4 Ob 150/83; SZ 55/154; 8 Ob 66/80 uva). Es besteht daher - solange das strafgerichtliche Erkenntnis nicht beseitigt ist - jedenfalls insoweit die Bindung des Zivilgerichts, als davon auszugehen ist, dass der Beklagte die im Strafurteil festgestellte Tat tatsächlich begangen hat und dass die tatsächlichen Handlungen des Beklagten für den Schadenserfolg kausal waren. Selbst wenn im Gefolge der vom Beklagten beabsichtigten Wiederaufnahme des Strafverfahrens nur geringere Verletzungsfolgen festgestellt werden könnten, wäre für den Beklagten damit nichts gewonnen, weil unbestrittenermaßen Verletzungsfolgen auftraten und das schadensstiftende Ereignis eine conditio sine qua non für diese Schäden war, sodass die Haftung des Beklagten - wie sogleich auszuführen sein wird - jedenfalls gegeben ist:

Demjenigen, der ein schädigendes Ereignis zu verantworten hat, sind alle Nachteile zuzurechnen, für die das Ereignis eine Bedingung war. Es ist gleichgültig, ob die Höhe des Schadens nur durch Hinzutreten außergewöhnlicher Umstände hervorgerufen wurde, ob eine aller Erfahrung widersprechende Verkettung von Umständen zu völlig untypischen Fortwirkungen geführt hat, oder ob der eingetretene Schaden in einer ganz anderen Richtung liegt als jener, den bestimmte Verhaltensnormen verhindern sollen. Krankheitserscheinungen, die durch einen Unfall nur deshalb ausgelöst wurden, weil die Anlage zur Krankheit bei dem Verletzten bereits vorhanden war, sind im Sinne der Adäquanz in vollem Umfang Unfallsfolge, sofern die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen gesundheitlichen Schaden herbeigeführt hätte. Ein Schädiger muss die Folgen konstitutioneller Schadensanlagen beim Geschädigten mittragen. "Freies menschliches Handeln", mit dem der Beklagte nach der Lebenserfahrung nicht zu rechnen brauchte, ist als weitere Ursache für den Schaden nicht hinzugekommen, sodass die Haftung des Schädigers ungebrochen aufrecht bleibt (JBl 1992, 255; JBl 1988, 649; 8 Ob 85/86; ZVR 1977/108; ZVR 1977/231; SZ 45/28; Harrer in Schwimann ABGB2 Rz 12 zu § 1295; Koziol, Haftpflichtrecht I3 Rz 8/1, 8/11). Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass eine adäquate Schadensverursachung vorliegt, was das Gericht zweiter Instanz im Sinne der einhelligen Judikatur des Obersten Gerichtshofs auch richtig ausgeführt hat.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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