OGH 1Ob319/99i

OGH1Ob319/99i23.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Christian Karl B*****, geboren am *****, infolge ordentlichen Revisionsrekurses des Minderjährigen vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 24. September 1999, GZ 43 R 800/99m-118, womit der Beschluß des Bezirksgerichts Meidling vom 12. August 1999, GZ 1 P 27/99k-110, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos behoben.

Text

Begründung

Der Minderjährige befand sich in Obsorge des mütterlichen Großvaters und seiner Ehegattin. Die Pflege und Erziehung des Minderjährigen in deren Haushalt wurde vom Jugendwohlfahrtsträger befürwortet. Nach dem Tod seiner Ehegattin kommt die Obsorge allein dem Großvater des Minderjährigen zu. Letzterer ist jedoch seit dem 31. Mai 1999 in einem Wiener Heim untergebracht. Der Bund leistete für den Minderjährigen in der Vergangenheit Unterhaltsvorschüsse (1.550 S vom 1. Februar 1992 bis 31. Jänner 1995 und 2.300 S vom 1. Dezember 1995 bis 30. November 1998). Seit 1. Oktober 1992 zahlt das Land Wien Pflegegeld nach § 27 Abs 6 WrJWG. Dieses beträgt derzeit 2.300 S monatlich.

Das Erstgericht stellte die dem Minderjährigen gewährten Unterhaltsvorschüsse für die Zeiträume vom 1. Oktober 1992 bis 31. Jänner 1995 und vom 1. Dezember 1995 bis 30. November 1995 ein, weil - nach der Entscheidungspraxis des Obersten Gerichtshofs (7 Ob 5/99g) - ein nach § 27 Abs 6 WrJWG gewährtes Pflegegeld die Zuerkennung von Unterhaltsvorschüssen ausschließe.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es erwog in rechtlicher Hinsicht, für die Beurteilung, ob eine Maßnahme der vollen Erziehung nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht etwa durch Unterbringung eines Minderjährigen in einer Pflegefamilie vorliege, sei - nach den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs 7 Ob 5/99g und 1 Ob 592/92 (= EFSlg 69.396) - nur die Frage nach einer tatsächlichen Pflegegeldgewährung zufolge einer rechtskräftigen verwaltungsbehördlichen Entscheidung von Bedeutung. Sei Pflegegeld zuerkannt worden, bestehe gemäß § 2 Abs 2 Z 2 UVG kein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse. Zweck der gesetzlichen Regelung sei, daß ein Kostenaufwand, den die Länder als Träger der Jugendwohlfahrtspflege zu tragen hätten, nicht im Wege der Unterhaltsbevorschussung auf den Bund überwälzt werde. Es sei allerdings zweifelhaft, ob die Unterbringung des Minderjährigen bei den Großeltern im Anlaßfall eine Maßnahme nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG gewesen sei, bestehe doch der Kern der "vollen Erziehung" in der Entfernung des Minderjährigen aus seiner bisherigen familiären Umgebung. Zur Finanzierung der vollen Erziehung sei Pflegeeltern bzw Pflegepersonen gemäß § 27 Abs 1 WrJWG auf Antrag Pflegegeld zuzuerkennen. Dagegen gewähre § 27 Abs 6 WrJWG keinen Rechtsanspruch auf Pflegegeld. Ein solches Pflegegeld sei vielmehr eine reine Ermessensleistung, die nach vertretbarer Ansicht im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung des Jugendwohlfahrtsträgers bezahlt werde. Der ordentliche Revisionsrekurs sei wegen der für viele Einzelfälle maßgebenden Auslegung der Begriffe "volle Erziehung" nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG und - damit zusammenhängend - der Einordnung des "Verwandtengeldes" nach § 27 Abs 6 WrJWG zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Minderjährigen ist aus den vom Gericht zweiter Instanz angeführten Gründen zulässig; er ist auch berechtigt.

1. Nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG besteht dann kein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse, wenn das Kind zufolge einer Maßnahme der Sozialhilfe oder der vollen Erziehung nach öffentlichem Jugendwohlfahrtsrecht in einer Pflegefamilie, in einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung untergebracht ist. Durch diese Einschränkung wird nach den Gesetzesmaterialien (AB 199 BlgNR 14. GP, 5) sichergestellt, daß die Kosten der Unterbringung eines Kindes in einem Heim oder bei Pflegeeltern vom Träger der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe nicht auf den Bund überwälzt werden können. Solche öffentlich-rechtliche Unterhaltsleistungen zur vollen Versorgung des Kindes aus Mitteln der Sozialhilfe oder solchen der Jugendwohlfahrtspflege seien vielmehr vom Unterhaltspflichtigen zu ersetzen (RV 172 BlgNR 17. GP, 24).

Die Versagung von Unterhaltsvorschüssen nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG setzt jedenfalls voraus, daß der Unterbringung des Minderjährigen - hier bei einer Pflegefamilie - eine "Maßnahme der Sozialhilfe oder der vollen Erziehung nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht" zugrunde liegt. Das bedingt aber eine behördliche Anordnung mit Kostenfolgen (Neumayr, Die neueste Rechtsprechung zum UVG, ÖRPfl 1999, Heft 2, 81 [83]). Eine solche ist etwa dann zu verneinen, wenn Pflegeeltern bloß die Obsorge für ein Pflegekind nach § 186a ABGB übertragen bzw eine Pflegebewilligung nach § 16 JWG erteilt wird und die Unterhaltskosten aus Mitteln der Sozialhilfe gedeckt werden (ÖA 1991, 22), sofern die Pflege und Erziehung eines Kindes in einer Pflegefamilie nicht auch ausdrücklich als Maßnahme voller Erziehung (siehe idS etwa § 14 TirJWG LGBl 1991/18) bzw als solche der Sozialhilfe deklariert wurde. Nur im Falle einer - im Anlaßfall allein bedeutsamen - Maßnahme voller Erziehung bestünde konsequenterweise auch bei Unterlassung der Antragstellung auf Zuerkennung von Pflegegeld - hier nach § 27 Abs 1 WrJWG - kein Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen (ÖA 1996, 127/UV 91).

2. Wird bestimmten Personen aus dem Familienkreis des Minderjährigen bloß die Obsorge übertragen und der Minderjährige daraufhin in deren Haushalt betreut, so ist darin - vor dem Hintergrund der Erläuterungen unter 1. - keine Maßnahme voller Erziehung nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht im Sinne des § 2 Abs 2 Z 2 UVG zu erblicken, weil durch eine solche pflegschaftsgerichtliche Beschlußfassung eine derartige Maßnahme geradezu vermieden werden soll.

3. Nach § 27 Abs 1 WrJWG haben "Pflegeeltern" (Pflegepersonen) zur Durchführung der vollen Erziehung als Maßnahme nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht einen Rechtsanspruch auf Gewährung eines Pflegegelds. Die Leistung dient der Erleichterung der mit der Pflege verbundenen Lasten. Sie wird auf Antrag zuerkannt. Die Rechtsnatur dieses Anspruchs ist komplementär zu der als öffentlich-rechtliche Jugendwohlfahrtsmaßnahme zu besorgenden vollen Erziehung.

Auf die Zuerkennung eines Pflegegelds nach § 27 Abs 6 WrJWG besteht dagegen kein Rechtsanspruch. Über ein solches Begehren wird auch nicht bescheidmäßig abgesprochen. Jene Bestimmung dient bloß als Rechtsgrundlage für Ermessenszuwendungen an Personen, die ein Kind pflegen und erziehen. Diese Aufgabe wird im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung des Jugendwohlfahrtsträgers erfüllt. Sie kann daher nicht auf einer öffentlich-rechtlich zu besorgenden Agende des Jugendwohlfahrtsrechts - wie im Falle der Anordnung der vollen Erziehung - beruhen. Diese Rechtsnatur ist aus den Gesetzesmaterialien zum Wiener Jugendwohlfahrtsgesetz unmißverständlich abzuleiten, wird doch zu dessen § 27 Abs 6 wörtlich ausgeführt:

"Gemäß Abs 6 kann der Magistrat dem im Gesetz angeführten Personenkreis nach freiem Ermessen im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung Beiträge bis zur Höhe des Pflegegeldes gewähren; darauf besteht kein Rechtsanspruch; die Bedürfnisse des Pflegekindes sind jedoch primär von seinem Einkommen und durch die Geltendmachung der Unterhaltsansprüche (Unterhaltsvorschüsse) gegenüber beiden Elternteilen zu decken. Über die Gewährung eines solchen Pflegebeitrags ergeht eine formlose schriftliche Verständigung".

4. Aus allen voranstehenden Erwägung folgt, daß die Rechtsansicht, die der Entscheidung 7 Ob 5/99g zugrunde liegt, nicht mehr weiter aufrechterhalten werden kann. Das wurde auch schon in anderen zeitgleich ergangenen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs ausgesprochen (z. B. 1 Ob 270/99h; 7 Ob 224/99p). Demgemäß kann aber die Gewährung von Pflegegeld nach § 27 Abs 6 WrJWG kein Grund für die Einstellung von Vorschüssen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz des Bundes sein, weil es insofern an einer Verwirklichung des Tatbestands nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG mangelt.

Dem Rechtsmittel des Minderjährigen ist daher durch eine ersatzlose Behebung der Beschlüsse der Vorinstanzen Folge zu geben.

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