OGH 14Os51/99 (14Os52/99)

OGH14Os51/99 (14Os52/99)18.5.1999

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Mai 1999 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Massauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Mayrhofer, Dr. E. Adamovic, Dr. Holzweber und Dr. Ratz als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Leitner als Schriftführer, in der Strafsache gegen Andreas M***** und einen weiteren Angeklagten wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, AZ 3 U 1.062/96k des Bezirksgerichtes Schwaz, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Bezirksgerichtes Schwaz vom 1. April 1998 (ON 49) und des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 15. Dezember 1998, AZ I Bl 382/98 (= ON 55), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Bierlein, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten Andreas M***** zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 3 U 1.062/96k des Bezirksgerichts Schwaz verletzen das Gesetz

1. das Urteil des Bezirksgerichtes Schwaz vom 1. April 1998 (ON 49) in seinem den Angeklagten Andreas M***** betreffenden Adhäsionserkenntnis in der Bestimmung des § 366 Abs 2 zweiter Satz StPO;

2. das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 15. Dezember 1998, AZ I Bl 382/98 (= ON 55), in der Ablehnung der Anwendung des beneficium cohaesionis zugunsten des Angeklagten Andreas M***** anläßlich der Entscheidung über die Berufung des Mitangeklagten Hannes L***** in der Bestimmung des § 477 Abs 1 zweiter Satz StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichtes Schwaz, das im übrigen unberührt bleibt, wird in seinem den Angeklagten Andreas M***** betreffenden Adhäsionserkenntnis aufgehoben und es werden die Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** mit ihren Ansprüchen gegen Andreas M***** gemäß § 366 Abs 2 zweiter Satz StPO auf den Zivilrechtsweg verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem bezeichneten Urteil des Bezirksgerichtes Schwaz wurden Andreas M***** und Hannes L***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB schuldig erkannt.

Danach haben sie am 8. August 1996 in J*****, Andreas M***** als verantwortlicher Vorarbeiter auf der Baustelle R*****weg 50, indem er das Unterstellungsgerüst für die in Arbeit befindliche Decke des Wirtschaftsgebäudes nicht fach- und sachgerecht aufbaute, sodaß dieses einstürzte, und Hannes L***** als zuständiger und verantwortlicher Bauleiter auf der genannten Baustelle durch Unterlassung der Kontrolle der sach- und fachgerechten Errichtung des erwähnten Unterstellungsgerüstes den Otto O***** und den Hans R*****, Hannes L***** darüber hinaus auch den Andreas M***** fahrlässig am Körper verletzt, wobei die Taten bei Otto O***** und Andreas M***** an sich schwere Körperverletzungen verbunden mit einer Gesundheitsschädigung von jeweils mehr als 24 Tagen zur Folge hatten.

Andreas M***** und Hannes L***** wurden nach dem ersten Strafsatz des § 88 Abs 4 StGB zu Geldstrafen sowie gemäß § 369 Abs 1 StPO zu ungeteilter Hand zur Zahlung eines Schmerzengeldes von je 5.000 S an die Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** sowie gemäß § 389 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.

Mit Urteil vom 15. Dezember 1998, AZ I Bl 382/98 (= ON 55), gab das Landesgericht Innsbruck der Berufung des Angeklagten Hannes L***** wegen des Ausspruches über die privatrechtlichen Ansprüche Folge, hob den ihn verpflichtenden Zuspruch an die Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** auf und verwies die Privatbeteiligten mit ihren Ansprüchen gegen ihn gemäß § 366 Abs 2 StPO auf den Zivilrechtsweg. Im übrigen gab das Landesgericht Innsbruck der Berufung des Genannten wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe nicht Folge.

Zu den privatrechtlichen Ansprüchen führte das Berufungsgericht aus, daß der Angeklagte Hannes L***** nach den Feststellungen des Erstgerichtes Bauleiter auf der Baustelle war, auf der seitens des Bauherrn noch andere Personen beschäftigt waren, die über den Maschinenring dort unter Anleitung des Andreas M*****, der als Vorarbeiter fungierte, arbeiteten. Es lägen somit Hinweise dafür vor, daß der Angeklagte Hannes L***** im konkreten Fall, wenn nicht gar als Dienstgeber, so doch jedenfalls als Aufseher im Betrieb auch hinsichtlich der Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** tätig gewesen sei, weshalb sich die Frage eines Haftungsausschlusses gemäß § 333 ASVG stelle. Diese Frage könne aber nicht durch einfache zusätzliche Erhebungen im Strafverfahren geklärt werden, sodaß derzeit über die Ersatzansprüche der Privatbeteiligten nicht verläßlich geurteilt werden könne.

Eine amtswegige Wahrnehmung des Haftungsprivilegs des § 333 ASVG hinsichtlich des Angeklagten Andreas M*****, der auf ein Rechtsmittel verzichtet hatte, lehnte das Landesgericht Innsbruck mit der Begründung ab, daß das beneficium cohaesionis des § 295 Abs 1 letzter Satz StPO auf privatrechtliche Ansprüche nicht anwendbar sei.

Das Vorgehen beider Gerichte in bezug auf die privatrechtlichen Ansprüche der Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** gegen den Angeklagten Andreas M***** steht - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 333 Abs 1 erster Satz ASVG ist der Dienstgeber dem Versicherten zum Ersatz des Schadens, der diesem durch eine Verletzung am Körper infolge eines Arbeitsunfalles oder durch eine Berufskrankheit entstanden ist, nur verpflichtet, wenn er den Arbeitsunfall (die Berufskrankheit) vorsätzlich verursacht hat. Gemäß § 333 Abs 4 ASVG gelten die Bestimmungen ua des Abs 1 auch für Ersatzansprüche Versicherter und ihrer Hinterbliebenen gegen gesetzliche oder bevollmächtigte Vertreter des Unternehmers und gegen Aufseher im Betrieb. Nach der Regelung des § 176 Abs 1 Z 6 ASVG sind den Arbeitsunfällen Unfälle gleichgestellt, die sich bei einer betrieblichen Tätigkeit ereignen, wie sie sonst ein nach § 4 ASVG Versicherter ausübt, auch wenn dies nur vorübergehend geschieht.

Nach den Feststellungen des Erstgerichtes fungierte der - bei der V***** & L***** KG beschäftigte - Andreas M***** als Vorarbeiter auf der Baustelle des Rudolf B*****, wobei die vom Bauherrn beschäftigten weiteren Personen - wie die Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** - dort unter seiner Anleitung arbeiteten. Damit kam ihm offenkundig die Stellung eines Aufsehers im Betrieb zu, sodaß das Vorliegen des Haftungsausschlusses nach § 333 Abs 1 und Abs 4 ASVG ihm gegenüber - wie auch gegenüber dem Mitbeschuldigten Hannes L***** - indiziert war, mögen auch die Verletzten Otto O***** und Hans R***** keine Versicherten nach § 4 ASVG gewesen sein (§ 176 Abs 1 Z 6 ASVG). Somit ließen die Ergebnisse des Strafverfahrens kein verläßliches Urteil über die Ersatzansprüche zu, sodaß der Zuspruch an die Privatbeteiligten im Urteil des Bezirksgerichtes Schwaz (ON 49) verfehlt war.

Nach § 477 Abs 1 zweiter Satz StPO hat der Gerichtshof erster Instanz im Verfahren über eine Berufung gegen das Urteil eines Bezirksgerichtes, wenn er sich aus Anlaß einer von wem immer ergriffenen Berufung davon überzeugt, daß zum Nachteil des Angeklagten das Strafgesetz unrichtig angewendet wurde (§ 281 Abs 1 Z 9 bis 11 StPO) oder daß dieselben Gründe, auf denen seine Verfügung zugunsten eines Angeklagten beruht, auch einem Mitangeklagten zustatten kommen, der die Berufung nicht oder nicht in der in Frage kommenden Richtung ergriffen hat, so vorzugehen, als wäre eine solche Berufung ergriffen worden.

Der Anwendungsbereich des beneficium cohaesionis nach § 477 Abs 1 zweiter Satz StPO ist viel weiter als der nach § 295 Abs 1 zweiter Satz StPO für das Verfahren bei Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichtes. Während letztere Regelung die amtswegige Wahrnehmung zugunsten von Mitschuldigen nur in dem Fall vorsieht, daß der Gerichtshof die Strafe zugunsten eines oder mehrerer Mitschuldiger herabsetzt, ordnet erstere - abgesehen von der Wahrnehmung der materiellrechtlichen Nichtigkeitsgründe des § 281 Abs 1 Z 9 bis 11 StPO - generell die amtswegige Wahrnehmung aller Urteilsfehler, die Anlaß für eine Verfügung zugunsten des Berufungswerbers bieten, auch zugunsten desjenigen Mitangeklagten an, der diesen Grund nicht geltend gemacht oder gar keine Berufung ergriffen hat. Als Gegenstand der amtswegigen Wahrnehmung nach § 477 Abs 1 zweiter Satz StPO kommen somit alle Urteilsfehler in Betracht, die konkret als Grundlage für eine Verfügung zugunsten eines Mitangeklagten dienen, damit auch Fehler im Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche (Mayrhofer, Amtswegige Wahrnehmung im Strafprozeß, 134). Die zu § 295 Abs 1 zweiter Satz StPO ergangene Judikatur, die die Anwendbarkeit des beneficium cohaesionis auf das Adähsionserkenntnis verneint (EvBl 1970/386 = RZ 1970, 166, LSK 1982/18 ua), ist auf § 477 Abs 1 zweiter Satz StPO nicht übertragbar.

Das Berufungsgericht hätte demzufolge in Anwendung der letztgenannten Bestimmung auch in bezug auf den Angeklagten Andreas M*****, der keine Berufung ergriffen hatte, den Zuspruch an die Privatbeteiligten Otto O***** und Hans R***** aufheben und die Genannten auf den Zivilrechtsweg verweisen müssen.

Da die aufgezeigten, vom Obersten Gerichtshof festzustellenden Gesetzesverletzungen dem Angeklagten Andreas M***** zum Nachteil gereichen, war ein Vorgehen darüber hinaus nach § 292 letzter Satz StPO erforderlich, dessen sinngemäße Anwendung auf alle sich an irgendeine Verletzung des Gesetzes im Strafverfahren knüpfenden Nachteile für den Angeklagten, welcher Art auch immer, daher auch auf gesetzwidrige Adhäsionserkenntnisse zulässig ist (vgl Mayerhofer StPO4 § 292 E 155; SSt 52/46; 11 Os 72/92).

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