OGH 10ObS73/99d

OGH10ObS73/99d4.5.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Wilhelm Koutny (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef F*****, Schlosser, *****, vertreten durch Mag. Dr. Josef Kattner, Rechtsanwalt in Amstetten, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. November 1998, GZ 7 Rs 317/98h-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 25. Mai 1998, GZ 30 Cgs 179/97z-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Es ist ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß Mängel des Verfahrens erster Instanz, deren Vorliegen bereits vom Berufungsgericht verneint wurde, wie hier die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Neurologie, auch in Sozialrechtssachen nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden können (SSV-NF 7/74; 3/115 mwN ua). Dem Obersten Gerichtshof ist daher ein Eingehen auf diese Ausführungen in der Revision verwehrt.

Da die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes zutreffend ist, genügt es, auf diese Ausführungen zu verweisen (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO). Den Revisionsausführungen ist noch folgendes entgegenzuhalten:

Rechtliche Beurteilung

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates, daß die Unfallversicherung keine Berufsversicherung ist und die Minderung der Erwerbsfähigkeit daher grundsätzlich abstrakt zu prüfen ist. Die Auswirkungen einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt sind somit zunächst unabhängig vom tatsächlich ausgeübten Beruf abstrakt zu prüfen. Der gesamte allgemeine Arbeitsmarkt bildet das Verweisungsfeld. Aufgrund dieses für die Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit maßgebenden Prinzips der abstrakten Schadensberechnung ist es auch bedeutungslos, ob der Versicherungsfall tatsächlich zu einem Einkommensverlust führt. Die Versehrtenrente wird sowohl dann gewährt, wenn kein Lohnausfall entstanden ist oder sogar ein höheres Einkommen erzielt wird, als auch dann, wenn ein Versicherter seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben kann und damit allenfalls ein Einkommensentfall einhergeht. Grundlage für die Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bildet regelmäßig ein ärztliches Gutachten. Dabei kommt den in Jahrzehnten entwickelten und angewendeten Richtlinien über die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei Unfallverletzten als maßgebliche Grundlage eine große Bedeutung zu. Diese Richtlinien berücksichtigen nicht nur die fortschreitende medizinische Entwicklung, sondern auch die Verhältnisse auf dem Gebiet des allgemeinen Arbeitsmarktes, sodaß den veränderten Anforderungen an den arbeitenden Menschen Rechnung getragen wird. Die medizinische Einschätzung, die sich dieser Richtlinien bedient, berücksichtigt auf diese Weise auch die Auswirkung einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die ärztliche Einschätzung, die unter Berücksichtigung dieser Komponenten erfolgt, bildet aber nicht die alleinige Grundlage der gerichtlichen Entscheidung. Dem Gericht bleibt vielmehr auch die Aufgabe, aufgrund des Befundes, der Beurteilung und der Antworten auf die an den medizinischen Sachverständigen gestellten Frage nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit nachzuprüfen, ob diese Einschätzung zutreffen kann oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von dieser ärztlichen Einschätzung zur Vermeidung unbilliger Härten daher geboten ist. Die Entscheidung, ob ein derartiger Härtefall vorliegt, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung geboten erscheinen läßt, und in welchem Umfang dem bei Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit Rechnung getragen werden muß, ist Gegenstand der rechtlichen Beurteilung (vgl SSV-NF 1/64; 3/19; 7/52; 7/127; 7/130; 9/26; 10 ObS 2022/96t; 10 ObS 2307/96d uva; ebenso auch Grillberger, Österreichisches Sozialrecht3 65f).

Die vom Kläger dagegen vorgetragenen Argumente bieten keinen Anlaß, von dieser ständigen Rechtsprechung abzugehen. Daß die vom Kläger unter Beiziehung eines berufskundigen Sachverständigen angestrebte konkrete Schadensberechnung in der Unfallversicherung nicht zu erfolgen hat, wurde bereits in der Grundsatzentscheidung SSV-NF 1/64 ausführlich dargelegt. Aus dem Hinweis des Klägers, daß den vom medizinischen Sachverständigen auch im vorliegenden Fall herangezogenen Rententabellen eine abstrakte Betrachtungsweise zugrundeliegt, läßt sich daher für den Rechtsstandpunkt des Klägers im Ergebnis nicht gewinnen. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben zwar keine verbindliche Wirkung. Sie sind aber, weil ein enger Zusammenhang zwischen den ärztlich festgestellten Funktionseinbußen und der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit besteht, eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit, vor allem, soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar im Einzelfall ebenfalls nicht bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in zahlreichen Parallelverfahren der täglichen Praxis bilden. Diese für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit - Sätze herausgebildeten Erfahrungswerte sind in Form von "Rententabellen" zusammengefaßt und dienen als Anhaltspunkte für die Sachverständigen für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Einzelfall (vgl Krösl-Zrubecky, Die Unfallrente4 10 f; Burchardt in Brackmann, Handbuch der SV, Band 3/1 92. Lfg Rz 69 ff zu § 56 SGB VII zur vergleichbaren deutschen Praxis).

Auch den vom Kläger unter Hinweis auf das in Art 18 Abs 1 B-VG verankerte Legalitätsprinzip gegen eine Heranziehung dieser Richtlinien geäußerten Bedenken kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil es sich bei diesen Richtlinien um keine verbindliche Anordnung mit Normcharakter handelt. Der Umstand, daß diese Richtlinien zwar regelmäßig Grundlage und Ausgangspunkt für die medizinische Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bilden, bedeutet ja nicht, daß ein medizinischer Sachverständiger, der einen individuellen Fall zu beurteilen hat, sich nun sklavisch an solche nur generell gehaltene Richtlinien, die selbstverständlich nicht alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen und immer nur ein Hilfsmittel, eine zusätzliche Entscheidungsgrundlage darstellen können, zu halten hätte und er nicht auch andere Grundlagen (Literatur usw) bei seiner immer eigenverantwortlichen Einschätzung heranziehen dürfte (vgl SSV-NF 3/19). Es kann daher in der Heranziehung dieser Richtlinien zur Beurteilung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit auch kein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 MRK erblickt werden.

Besondere Umstände, bei denen im Sinne der Rechtsprechung des Revisionsgerichtes von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden könnte, liegen nicht vor. Der Kläger hat dazu in der Berufung - erstmals - vorgebracht, daß er aufgrund des Unfalles seinen Beruf als Landmaschinenmechaniker aufgeben mußte und er nunmehr den Beruf eines Kraftfahrers mit deutlich geringerem Verdienst ausübe. Es muß hier nicht geprüft werden, ob der Berücksichtigung dieses Vorbringens das Neuerungsverbot entgegensteht, weil es für die rechtliche Beurteilung nicht entscheidend ist. Da die Unfallversicherung keine Berufsversicherung darstellt, kann entgegen der Ansicht des Klägers die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf weiterhin ausüben zu können, für sich allein noch keinen Härtefall darstellen. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls, etwa einer spezialisierten Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, praktisch gar nicht zuläßt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden (SSV-NF 3/22 mwN). Der Kläger hat aber als Landmaschinenmechaniker nicht einen so spezialisierten Beruf ausgeübt, daß der Umstand, daß er diesen Beruf nicht mehr nachgehen kann, als Härtefall qualifiziert werden könnte (vgl 10 ObS 62/97h).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe, die einen Kostenzuspruch aus Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden weder geltend gemacht, noch ergeben sich Anhaltspunkte für solche Gründe aus der Aktenlage.

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