OGH 10ObS81/99f

OGH10ObS81/99f4.5.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Wilhelm Koutny (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf U*****, Hilfsarbeiter, *****, vertreten durch Dr. Kurt Dellisch, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Rekursverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Dezember 1998, GZ 8 Rs 256/98y-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 30. Juli 1998, GZ 35 Cgs 9/98x-12, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Rekurskosten sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 23. 12. 1997 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab, weil er nach dem Ergebnis der ärztlichen Begutachtung noch imstande sei, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG auszuüben.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab 1. 11. 1997 ab. Es stellte fest, daß der am 31. 8. 1947 geborene und in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiter, Lagerarbeiter und zuletzt bis 1985 als Abwäscher beschäftigt gewesene Kläger noch leichte und kurzfristig auch mittelschwere Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen verrichten kann. Das Heben und Tragen von Lasten ist auf etwa 7 kg bis 8 kg zu beschränken. Nicht zumutbar sind langandauernde Arbeiten im kalt-feuchten Milieu, in Zwangshaltungen und in gebückter Körperhaltung. Weiters besteht beim Kläger eine gewisse Einschränkung der sozialen Anpassungsfähigkeit aufgrund einer seit jeher bestehenden Persönlichkeitsstörung. Therapeutische Maßnahmen aus psychiatrischer oder psychotherapeutischer Sicht sind bisher nicht ergriffen worden. Für Versicherte, die über längere Zeit aus dem Arbeitsprozeß ausgegliedert gewesen sind, gibt es seitens der öffentlichen Hand Einstiegshilfen. So erfolgt im Arbeitstrainingszentrum eine Vorbereitung für Langzeitarbeitslose zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß. Diese Einschulung dauert rund ein halbes Jahr. Nach einer entsprechenden Einschulungsmaßnahme in einem Arbeitstrainingszentrum könnte der Kläger auf Tätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß der Kläger nach § 255 Abs 3 ASVG noch auf körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten in arbeitsteilig organisierten Industrie- und Gewerbebetrieben verwiesen werden könne. Der Umstand, daß sich der Kläger aufgrund der langjährigen Ausgliederung aus dem Arbeitsprozeß vor der Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als Einstiegshilfe einer Einschulung in einem einschlägigen Arbeitstrainingszentrum für die Dauer von rund 6 Monaten unterziehen müsse, schließe ihn keineswegs vom Arbeitsmarkt aus. Eine solche Einschulungsmaßnahme sei dem Kläger durchaus zumutbar. Aufgrund der im Bereich des Sozialversicherungsrechtes bestehenden Mitwirkungspflicht sei von jedem Versicherten im Interesse der Versichertengemeinschaft zu fordern, notwendige Therapiemaßnahmen zu ergreifen, durch welche eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit erreicht werde.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger dagegen erhobenen Berufung Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur Verhandlung und neuerlichen Urteilsfällung an das Erstgericht zurück. Den Versicherungsträger treffe nicht nur die Beweislast sondern auch die Behauptungslast dafür, daß die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Leistung nicht gegeben seien, wenn (sobald) sich der Versicherte einer ihm zumutbaren Behandlung (Schulung oder Training) unterziehe. Da die beklagte Partei ein Vorbringen, wonach der Kläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht durch eine Einschulung in einem Arbeitstrainingszentrum seine Arbeitsfähigkeit innerhalb von sechs Monaten wiederherstellen könnte, nicht erstattet habe, habe sich das Erstgericht mit dieser Frage nicht zu befassen gehabt.

Dennoch sei die Sozialrechtssache derzeit noch nicht entscheidungsreif. Aus den Feststellungen ergebe sich nämlich, daß die beim Kläger erforderliche Hilfe für den beruflichen Einstieg auf einer Einschränkung der sozialen Anpassungsfähigkeit wegen einer seit jeher bestehenden Persönlichkeitsstörung beruhe. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit setze aber voraus, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit, also nach seinem Eintritt in das Berufsleben, in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert habe. Wenngleich auch hier eine ausdrückliche Einwendung der beklagten Partei fehle, aus ihrem Vorbringen - der Kläger sei ab dem Stichtag genauso erwerbsfähig wie zuvor - sogar das Gegenteil der Behauptung einer ins Erwerbsleben mitgebrachten Arbeitsunfähigkeit herausgelesen werden könnte, sei darauf - bei weitherziger Auslegung des Beklagteneinwandes - doch einzugehen, weil diesem Einwand auch die weitere Bedeutung entnommen werden könne, daß eine für den Arbeitsmarkt ausreichende Resterwerbsfähigkeit trotz einer schon in das Erwerbsleben mitgebrachten Minderung der Arbeitsfähigkeit vorhanden sei. Das Erstgericht werde daher vorerst ergänzend festzustellen haben, ob die Erforderlichkeit der Einschulung in einem Arbeitstrainingszentrum vor Annahme einer Verweisbarkeit des Klägers am Arbeitsmarkt nur auf seine seit jeher bestehende Persönlichkeitsstörung zurückzuführen sei und daher bei der Beurteilung der Invalidität außer Betracht gelassen werden müsse.

In diesem Zusammenhang sei auch der Widerspruch im Gutachten des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen aufzuklären, der darin liege, daß es einerseits im schriftlichen Gutachten heiße, der Kläger sei für einfache Tätigkeiten ohne wesentliche Einschulungsmaßnahmen vermittelbar, während im Rahmen der Gutachtenserörterung ohne nähere Begründung davon abweichend ausgeführt worden sei, daß vorerst eine Einschulungszeit von rund 6 Monaten in einem Arbeitstrainingszentrum erforderlich sei.

Sollte der Sachverständige im fortgesetzten Verfahren wohl begründet bei der zuletzt dargestellten Meinung verbleiben und die sozialen Anpassungsschwierigkeiten nicht nur auf in das Erwerbsleben mitgebrachten psychischen Defekten beruhen, sowie weiters die beklagte Partei die Wiederherstellbarkeit der Arbeitsfähigkeit des Klägers im Rahmen zumutbarer Mitwirkungspflichten einwenden, so wäre die Dauer der erforderlichen Einschulung des Klägers genauer zu ermitteln (unter oder über 6 Monate), weil die mangelnde Verweisbarkeit des Klägers am Arbeitsmarkt für sechs Monate bereits Invalidität nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG begründen könnte und die Feststellung einer erforderlichen Einschulung von "rund sechs Monaten" eine abschließende Beurteilung der Frage, ob der Kläger innerhalb eines halben Jahres ab dem Stichtag seine Arbeitsfähigkeit wiederherstellen könnte, nicht zulasse.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil den hier aufgeworfenen Fragen über die amtswegige Beweisaufnahme und die Erforderlichkeit konkreter Einwendungen des Versicherungsträgers eine wesentliche Bedeutung im Sinne des § 46 Abs 1 ASGG zukomme.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs des Klägers - erkennbar aus dem Grunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung - mit dem Antrag, in der Sache zu erkennen und dem Klagebegehren vollinhaltlich stattzugeben. Hilfsweise wird beantragt, die Entscheidung des Berufungsgerichtes aufzuheben und dem Berufungsgericht eine neue Entscheidung aufzutragen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, weil es sich um ein Verfahren über wiederkehrende Leistungen in Sozialrechtssachen im Sinne des § 46 Abs 3 Z 3 ASGG handelt (§ 519 Abs 1 Z 2 ZPO iVm §§ 45 Abs 3, 47 Abs 2 ASGG); er ist aber nicht berechtigt.

Die Frage, ob der Kläger im Rahmen einer ihm zumutbaren Einschulung in einem Arbeitstrainingszentrum seine derzeit bestehende Invalidität innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten beseitigen und seine Verweisbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt wiederherstellen könnte, betrifft einen Aspekt der Mitwirkungspflichten, die den Versicherten nach ständiger Rechtsprechung im Interesse der Versichertengemeinschaft treffen (vgl SSV-NF 5/42; 5/29; 4/23 uva). Hauptanwendungsfall dieser Mitwirkungspflichten ist die Frage der zumutbaren Behandlung des Versicherten. Nach zutreffender Ansicht des Berufungsgerichtes trifft den Versicherungsträger dabei nicht nur die Beweislast (SSV-NF 5/17), sondern auch die Behauptungslast dafür, daß die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Leistung nicht gegeben sind, wenn (sobald) sich der Versicherte einer ihm zumutbaren Behandlung unterzieht. Die sich aus § 87 Abs 1 ASGG ergebende Verpflichtung des Gerichtes, alle notwendigen Beweise von Amtswegen aufzunehmen, kann sich nur innerhalb der - wenngleich weit zu steckenden - Grenzen des Parteivorbringens bewegen. § 87 Abs 1 ASGG wird zwar im Sinne eines umfassenden Rechtsschutzbedürfnisses durch die sich aus § 39 Abs 2 Z 1 ASGG ergebende Anleitungspflicht ergänzt, doch gilt diese besondere Anleitungspflicht nur gegenüber Parteien, die nicht Versicherungsträger sind und auch nicht durch eine qualifizierte Person vertreten werden. Gegenüber der beklagten Partei als Versicherungsträger bestand die erweiterte Anleitungspflicht des § 39 Abs 2 Z 1 ASGG nicht. Die amtswegige Beweisaufnahme gemäß § 87 Abs 1 ASGG hatte sich daher innerhalb des Vorbringens der beklagten Partei zu bewegen. Diesem kann aber selbst bei weitherziger Auslegung nicht entnommen werden, daß der Kläger seine Arbeitsfähigkeit im Rahmen zumutbarer Mitwirkungspflichten innerhalb von sechs Monaten wiederherstellen könnte. Das Erstgericht brauchte sich daher mit dieser Frage nicht zu befassen (vgl 10 ObS 272/98t; 10 ObS 173/98h).

Nach der seit den Entscheidungen SSV-NF 1/33 und 1/67 ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes setzt der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit voraus, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit, also nach seinem Eintritt in das Berufsleben, in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führen (vgl SSV-NF 10/13; 4/60 uva).

Nach den Feststellungen des Erstgerichtes beruht die beim Kläger erforderliche Hilfe für den beruflichen Einstieg auf einer Einschränkung seiner sozialen Anpassungsfähigkeit wegen einer seit jeher bestehenden Persönlichkeitsstörung. Eine solche vom Kläger in das Arbeitsleben bereits eingebrachte und seither im wesentlichen unverändert bestehende psychische Beeinträchtigung hätte jedoch bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben (vgl SSV-NF 10/14). Die Klärung dieser Frage ist somit unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn daher nach dem Inhalt des Prozeßvorbringens und nach der Aktenlage hierüber keine Klarheit besteht, hat das Gericht aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen. Da das Erstgericht diese entscheidungswesentliche Frage mit den Parteien nicht erörtert und auch keine eindeutige Feststellung dazu getroffen hat, ob die Erforderlichkeit der Einschulung in einem Arbeitstrainingszentrum vor Annahme einer Verweisbarkeit des Klägers am Arbeitsmarkt nur auf seine seit jeher bestehende Persönlichkeitsstörung zurückzuführen ist und daher bei der Beurteilung der Invalidität außer Betracht gelassen werden muß, ist sein Verfahren im Sinne der zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichtes mangelhaft geblieben. Mit Recht hat das Berufungsgericht aber auch auf die Bestimmung des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG in der hier anzuwendenden Fassung des Strukturanpassungsgesetzes 1996 (BGBl 1996/201) verwiesen, wonach infolge Aufhebung der Unterscheidung zwischen vorübergehender und dauernder Invalidität eine am Stichtag bestehende Invalidität, wenn sie voraussichtlich sechs Monate andauert oder andauern würde, zur Zuerkennung der Invalidiätspension ab dem Stichtag führt (vgl Teschner/Widlar, MGA, ASVG 64. Erg-Lfg Anm 2 zu § 254). Die dem Aufhebungsbeschluß zugrundeliegende Rechtsansicht des Berufungsgerichtes ist daher zutreffend. Hält aber das Berufungsgericht ausgehend von einer richtigen Rechtsansicht den Sachverhalt für weiter aufklärungsbedürftig, kann der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, dem nicht entgegentreten (vgl Kodek in Rechberger, ZPO Rz 5 zu § 519 mwN uva).

Dem Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluß mußte daher ein Erfolg versagt bleiben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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