OGH 10ObS410/98m

OGH10ObS410/98m18.2.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Scherz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Valerie S*****, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9. September 1998, GZ 23 Rs 61/98m-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 15. Juni 1998, GZ 43 Cgs 280/97v-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge nicht gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 9. 6. 1917 geborene Klägerin befindet sich seit 29. 4. 1997 im Alten- und Pflegeheim M***** in I*****. Sie leidet insbesondere an Diabetes-mellitus Typ II (oral medikamentös eingestellt), arterieller Hypertonie, Verdacht auf frontale Gangstörung, vaskulärer Encephalopathie, Schwindelneigung sowie kompletter Harn- und fallweiser Stuhlinkontinenz (Durchfallneigung). Ihr monatlicher Gesamtbedarf an Betreuung und Hilfe beträgt jedenfalls 153 Stunden. Sie kann aufgrund der Immobilität, Schwindel und Ängstlichkeit das Bett nicht alleine verlassen; im Zimmer bzw Heim bedarf sie außerhalb des Bettes immer einer Hilfsperson (auch wegen Sturzgefahr zufolge Gangstörung) bzw eines Gehbocks; außer Haus ist Mobilität nur im Rollstuhl möglich, der geschoben werden muß. Des weiteren liegen bei der Klägerin dementieller Abbau und zerebrale Durchblutungsstörungen vor. Die Klägerin ist daher auch nicht in der Lage, alleine aufzustehen. Aufgrund ihres Inkontinenzleidens wird sie ständig windelversorgt und daher nicht von dritten Personen aufs WC geführt (dies auch nicht untertags), obwohl dies mit Fremdhilfe möglich wäre.

Mit Bescheid vom 4. 8. 1997 anerkannte die beklagte Partei den Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld ab 1. 6. 1997 in Höhe der Stufe

3.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage stellte sie das Begehren auf Zuerkennung eines solchen in Höhe der Stufe 5 in gesetzlicher Höhe ab 1. 6. 1997.

Das Erstgericht wies dieses Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs zusammenfaßt wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß sich für die Klägerin ein Gesamtpflegeaufwand von bloß 153 Stunden pro Monat ergebe, was der Pflegegeldstufe 3 entspreche. Auf einen allfälligen außergewöhnlichen Pflegebedarf sei nur bei mehr als 180 Stunden Pflegeaufwand einzugehen. Das mehrmals täglich notwendige Windelwechseln begründe für sich allein keinen solchen außergewöhnlichen Pflegebedarf. Da die Klägerin nur theoretisch einer Hilfsperson für den Gang auf das WC bedürfe, nach den getroffenen Feststellungen jedoch praktisch überhaupt nicht die Toilette aufsuche, weil sie sowohl untertags als auch nachts ununterbrochen windelversorgt werde, könnten nur 20 Stunden pro Monat für Inkontinenzreinigung, nicht jedoch weitere Stunden als Zeitaufwand für die praktisch gar nicht mit einer Hilfsperson durchgeführte Verrichtung der Notdurft am WC angesetzt werden.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin ausschließlich wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung nicht Folge. Der zeitliche Aufwand für ein Windelwechseln sei wesentlich geringer (als der Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft) und finde in jenem für die Inkontinenzreinigung im Ausmaß von 20 Stunden monatlich Deckung; im Hinblick darauf, daß der Zeitaufwand beim Windelwechseln relativ gering sei, liege auch kein spezifischer, von den Fällen des § 1 EinstV abweichender Betreuungsaufwand vor, der zusätzlich in Anschlag gebracht werden müßte. Damit habe es bei den bereits vom Erstgericht unbekämpft festgestellten 153 Stunden pro Monat zu verbleiben.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, ihrem Klagebegehren gerichtet auf Pflegegeld der Stufe 5 stattzugeben; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Voranzustellen ist, daß im Hinblick auf die am 1. 1. 1999 in Kraft getretene Novelle zum BPGG BGBl I 1998/111 und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene gerichtliche Verfahren gemäß dessen § 48 Abs 1 für die Zeit bis zum 31. 12. 1998 für die Beurteilung des Anspruches der Klägerin die Bestimmungen des § 4 BPGG vor der Novelle samt EinstV BGBl 1993/314 zugrundezulegen sind (10 ObS 372/97x). Erst für die Zeit ab dem 1. 1. 1999 ist der Anspruch nach der neuen Rechtslage zu beurteilen, wobei allerdings die zitierte EinstV erst mit Wirksamkeit vom 31. 1. 1999 aufgehoben und durch die neue BGBl II 1999/37 ersetzt wurde (§ 9 leg cit). Auch die Anwendung dieser neuen Rechtslage führt jedoch hier zu keinem, für die Klägerin günstigeren Ergebnis als die Beurteilung durch die Vorinstanzen, speziell das Berufungsgericht, nach der (damals noch) alten Rechtslage.

Zunächst ist der Revisionswerberin, soweit sie auf die ihrer Ansicht nach vom Berufungsgericht übergangene, jedoch "zwingende" Bestimmung des § 7 Abs 2 der Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG verweist, zu entgegnen, daß der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach (ausführlich SSV-NF 10/131 = SZ 69/278 und SSV-NF 11/3) ausgesprochen hat, daß diese in SozSi 1994, 686 ff (Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994) vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG erlassenen Richtlinien bloß die Versicherungsträger, nicht aber die Sozialgerichte binden (können).

In der Revision wird weiters argumentiert, daß die Vorinstanzen bei ihrer rechtlichen Beurteilung unberücksichtigt gelassen hätten, daß die Klägerin überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei und damit gemäß § 8 Z 2 EinstV ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden (monatlich) anzunehmen gewesen wäre, weshalb ihr ab 1. 6. 1997 zumindest das Pflegegeld der Stufe 4 gebühre.

Sowohl nach alter Rechtslage (§ 8 EinstV BGBl 1993/314) als auch nach neuer Rechtslage (§ 4a BPGG idF BGBl I 1998/111) kommt eine solche diagnosebezogene Einstufung - abgesehen vom nunmehr nach neuer Rechtslage auch geforderten Erfordernis des Vorliegens ganz bestimmter, taxativ aufgezählter Diagnosen - nur bei solchen Personen in Betracht, die zur eigenständigen Lebensführung "überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen" sind. Nach den maßgeblichen und (insoweit bereits im Berufungsverfahren unbekämpft gebliebenen) Feststellungen bedarf die Klägerin bloß außer Haus (also außerhalb des Pflegeheimes, in dem sie untergebracht ist), eines Rollstuhls, der durch Dritte geschoben werden muß; im Heim (im Zimmer) kann sie sich hingegen auch mit einem Gehbock oder gestützt durch sie begleitende Personen (wenngleich geringfügig und nur über kurze Strecken) fortbewegen. Schon zur alten Rechtslage nach der Einstufungsverordnung und noch deutlicher zur neuen Rechtslage nach § 4a BPGG ist jedoch davon auszugehen, daß eine derartig schwere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und damit Gebrechlichkeit, welche ein überwiegendes Angewiesensein auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles rechtfertigt, nur dann vorliegt, wenn der Pflegebedürftige zur Fortbewegung "innerhalb und außerhalb der Wohnung" hierauf angewiesen wäre (so ausdrücklich auch die Materialien zur neuen Gesetzesbestimmung: RV 1180 BlgNR 20. GP, 12). Schon aufgrund dieser (feststellungsmäßig durch die Tatsacheninstanzen abgesicherten) Gegebenheiten liegen die Voraussetzungen einer - wie in der Revision gewünscht - rein diagnosebezogenen Einstufung der Klägerin als einer überwiegend rollstuhlangewiesenen Pflegebedürftigen nicht vor. Dem Umstand, daß sie zum Verlassen des Bettes (wozu sie allein nicht in der Lage ist) bzw teilweise zur Fortbewegung (im Zimmer) einer Hilfsperson bedarf, wurde hiebei ohnedies durch Berücksichtigung eines Betreuungsaufwandes von 15 Stunden für Mobilitätshilfe im engeren Sinn (§ 1 Abs 3 alte wie neue EinstV) Rechnung getragen. Benötigt aber die Klägerin - wie festgestellt - nur außer Haus einen Rollstuhl, so ist das Tatbestandsmerkmal des überwiegenden Angewiesenseins auf einen solchen nicht erfüllt, wozu noch kommt, daß die Klägerin im Hinblick auf ihre ebenfalls festgestellten Lebensumstände in Verbindung mit ihren Leidenszuständen das Haus ohnedies wohl nur äußerst selten, wenn überhaupt, verlassen wird.

Damit kommt aber dem Umstand maßgebliche Bedeutung zu, daß der monatliche Gesamtpflegebedarf von 153 Stunden pflegestufenentscheidend ist. Sowohl nach alter Rechtslage (Stufe 4 erst bei mehr als 180 Stunden monatlich) als auch nach neuer Rechtlage (Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich) werden die Stufenwerte weder für die Pflegegeldstufe 4 noch für jene der Stufe 5 (sowohl nach alter als auch nach neuer Rechtslage mehr als 180 Stunden monatlich, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist) erfüllt. Der ständigen Harn- und teilweisen Stuhlinkontinenz haben die Vorinstanzen hiebei bereits dadurch Rechnung getragen, daß sie bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes den Richtwert nach § 1 Abs 3 zweiter Fall EinstV (alt wie neu gleich) von 4 x 10 Minuten täglich = 20 Stunden pro Monat in Ansatz brachten (vgl hiezu auch jüngst 10 ObS 372/97x vom 9. 2. 1999).

Daraus folgt - zusammenfassend -, daß die Klägerin sowohl nach der alten als auch nach der neuen Rechtslage Anspruch nur auf Pflegegeld der Stufe 3 hat, während ein Anspruch auf ein höheres Pflegegeld nicht zu Recht besteht. Der Revision war damit ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe, die einen Kostenzuspruch aus Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden weder geltend gemacht noch ergeben sich Anhaltspunkte hiefür aus der Aktenlage.

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